Christian Drude: Historismus als Montage. Kombinationsverfahren im graphischen Werk Max Klingers, Mainz: Philipp von Zabern 2005, VIII + 200 S., ISBN 978-3-8053-3518-8, EUR 39,90
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Wie kaum ein anderes Werk verkörpert Max Klingers Kunst exemplarisch die Janusköpfigkeit des späten 19. Jahrhunderts, da es zum einen durch die stilistischen Rückbezüge fest in der Geschichte der bildenden Künste verwurzelt ist, zum anderen aber durch kühne inhaltliche und formale Neuerungen bereits auf das 20. Jahrhundert verweist. Dementsprechend oszilliert das Œuvre zwischen einem eklektischen Historismus und einer Vorwegnahme surrealistischer Gestaltungselemente. Klingers Modernität wie seine Zeitgenossenschaft äußern sich darin, dass er willkürlich Darstellungselemente aus dem Stilrepertoire der Kunst herausgreift und sie neu kombiniert, wobei er den Konstruktcharakter des Produkts in Form von Brüchen sichtbar lässt. Die daraus resultierende Inhomogenität scheint geradezu konstitutiv für sein Werk. Für den Betrachter ergibt sich daraus eine irritierende Inkongruenz zwischen Form und Inhalt sowie die Notwendigkeit, diese Leerstellen mit eigenen Assoziationen zu füllen.
Diese stilistische wie inhaltliche Vielstimmigkeit des Werkes nimmt Christian Drude zum Ausgangspunkt seiner Studie, die Klingers künstlerischem Verfahren der Kombination - der Montage - auf fünf verschiedenen Ebenen in seiner Druckgrafik nachspürt. Fanden bislang in der Forschung eher isoliert Ikonografie, Stil und Zyklik Beachtung, systematisiert der Autor den Ansatz und bereichert die Untersuchungskategorien um die Aspekte druckgrafischer Techniken und Rahmungen. Daneben möchte Drude in Anlehnung an die neueren Forschungen der germanistischen Literaturwissenschaft - und im Gegensatz zur geläufigen kunsthistorischen Terminologie - aufzeigen, dass die Bezeichnung "Historismus" weniger geeignet ist, um eine Epoche zu beschreiben, als ein für diese Zeit charakteristisches künstlerisches Verfahren.
In Klingers Verwendung von ikonografischen Topoi beobachtet Drude zwei unterschiedliche Formen des Umgangs mit dem Mythos. Neben Travestien und Verfremdungen einzelner mythologischer Topoi vermischt Klinger unterschiedliche Mythen, wenn sie ähnliche Motivstränge bieten. Nicht nur der antike Mythos, sondern auch die Formen seiner künstlerischen Darstellung dienten ihm als Versatzstücke zur willkürlichen Kombination und als Material für seine künstlerische Tätigkeit.
Eine vergleichbare Willkür und Subjektivität beobachtet Drude in Klingers Stilkombinationen. Der Künstler verfährt dabei nach dem Prinzip, den Stil der Darstellung in einem spannungsvollen Gegensatz zum Bildinhalt zu wählen. In "Der Überfall im Boudoir" bedient er sich etwa im Motiv, in den Kostümen und Requisiten aus dem Neo-Rokoko, nicht jedoch bei dem Zeichenstil und der Komposition, die eher dem Naturalismus verpflichtet sind. Dabei drohen die Hauptfiguren unter den opulent geschilderten Details und Nebensächlichkeiten unterzugehen. Inhaltlich loten die stilistischen Anleihen die Spanne von bedeutungssteigernd bis zur ironisch-reflektierten Zersetzung des Dargestellten aus.
In Klingers Verwendung unterschiedlicher drucktechnischer Verfahren weist Drude ein analoges Auseinanderklaffen zwischen Inhalt und Darstellungsmittel nach. Besonders in der Brahmsfantasie erprobte und systematisierte der Künstler den Einsatz der Techniken, um bestimmte Wirkungen zu erzielen. Die unterschiedlichen grafischen Techniken sind ähnlich wie Stilformen "semantisiert", ihre historisch gewachsene suggestive Wirkung bestimmt die Darstellung wesentlich mit. Klinger irritiert den Betrachter etwa, wenn er in "Accorde" (Bl. 19, Opus XII) den Landschaftshintergrund gestochen scharf in Linienätzung, die in der vordersten Bildebene agierenden Figuren aber weich und verschwommen in Mezzotinto wiedergibt, da es den alltäglichen Seherfahrungen widerspricht. Die Techniken werden mit der ihnen eigenen Materialität zu einer eigenständigen ästhetischen Kategorie, die häufig eine zum dargestellten Motiv abweichende Lesart anbietet.
Um das ambivalente Verhältnis von Bild und Rahmen in Klingers Werk fassen zu können, zieht Drude im anschließenden Teil den von Jacques Derrida geprägten Begriff des "Parergon" heran, der die "Doppelstruktur des Rahmens als einer Form künstlerischer Darstellung [begreift], deren Wesen darin besteht, zugleich Bild und Nicht-Bild, Werk und Nicht-Werk zu sein" (122).
Ein konstantes Vexierspiel zwischen Bild und Rahmen suggeriert dem Betrachter eine Kontinuität, die im Bild nicht eingelöst wird. So greift der Rahmen von "Psyche und ihre Schwestern" (Bl. 18, Opus V) etwa die in der Szene angelegte Säulenreihe auf und macht so dem Betrachter glauben, er stehe selbst zwischen ihnen. Erst die Beobachtung, dass die rahmenden Säulen nicht der innerbildlichen Architektur entsprechen, entlarvt die Illusion. Drude spricht hier von einem allein der Grafik eigenen "ironischen Illusionismus" (127) da "im Gegensatz zur illusionistischen Malerei die ästhetische Grenze zwischen "Kunstraum" und "Realraum" nicht zwingend ist" (126).
Abschließend wendet sich Drude der Zyklik von Klingers grafischen Folgen zu. Die Sprunghaftigkeit der Abfolge, die jede Linearität im Sinne einer sich entwickelnden Erzählung vermissen lässt oder sie durch scheinbar wahllos eingefügte Blätter aufbricht, war immer schon Gegenstand der Forschung. Dort wurden die zahlreichen Anleihen an musikalische Formbezeichnungen in den Opusbezeichnungen herangezogen, um die Inhomogenität der Blätter und Folgen als künstlerisches Gestaltungsmittel zu legitimieren. Drude zeigt darüber hinaus auf, dass Klinger auch innerbildliche Signale für die Handlung willkürlich und widersprüchlich setzt.
So verleiht Klinger dem Eingangsblatt von "Pyramus und Thisbe I" (Bl. 2, Opus II) Sinnbildcharakter, indem er die Figuren auf einen klassizistisch anmutenden Linienstil reduziert. Die mit der Stilisierung vermeintlich einhergehende Höherwertigkeit konterkariert er in den stark naturalistisch geprägten Folgeblättern. Trotz der stilistischen Unterschiede sind alle vier Blätter in ihrem Erzählgehalt gleichwertig. Doch nicht nur stilistische Darstellungsmodi stören die Wahrnehmung der zyklischen Sequenz. Auch der Wechsel in Format, Technik und Bildgegenstand irritiert den Betrachter und sprengt die Abfolge der Blätter.
Für die einzelnen Kapitel werden meist unterschiedliche Werke zur Argumentation herangezogen, die mit einigen Ausnahmen (wie der Brahmsfantasie) eher den bislang kaum beachteten Blättern des Künstlers zuzurechnen sind. Es ist bezeichnend, dass Drude gerade aus den Grafiken Erkenntnisse zieht, die in der Forschung bislang kaum wahrgenommen wurden, wie etwa die wegen ihrer Größe und ihres Anspruchs vernachlässigten gewerblichen Arbeiten. Bei ihnen handelt sich in der Regel um Beiwerk, weshalb sie für künstlerische Experimente und Erprobungen unkonventioneller Strategien besonders geeignet waren. Ob und wie die anhand der winzigen Vignetten und Illustrationen (deren Größe in keinem Katalog und auch bei Drude nicht angegeben ist) aus den Blüthen aus dem Treibhause der Lyrik gewonnenen Erkenntnisse auch auf andere Werke übertragen werden können, bleibt abzuwarten.
Nach der Lektüre des Buches stellt sich die Frage, ob und wie sich die Neudefinition des Historismus als "spezifisches Verfahren des künstlerischen Umgangs mit historisch vorcodiertem Material" (8) auch in anderen Bereichen der Kunst des späten 19. Jahrhunderts fruchtbar machen lässt und zu einer Neubewertung der verfemten eklektizistischen "historistischen" Kunst führt.
Drude nimmt erstmals systematisch formale Gesichtspunkte der Druckgrafik in den Blick und berührt etwa mit der Semantisierung der Techniken Aspekte, die einen Beitrag zum Verständnis der gattungsspezifischen Funktionsweisen liefern. Mit dem Katalog der für die Druckgrafik charakteristischen Gestaltungselemente und Wirkungsweisen können die künstlerischen Möglichkeiten der Gattung erstmals näher analysiert werden.
In seiner Gleichsetzung von Montage und Historismus als einem künstlerischen Verfahren, hebt Drude die immer wieder problematisierte Inkongruenz in Klingers druckgrafischem Schaffen auf. Ihm gelingt es zu zeigen, dass Klingers Modernität in seiner Zeitgenossenschaft begründet ist. Besonders in seinem druckgrafischen Werk verstand der Künstler es, den Pluralismus der Stile im Sinne einer Frühform der Montage zu nutzen. Gleichzeitig lässt er die Brüche zwischen ihren Elementen sichtbar und formuliert auf diese Weise die Gebrochenheit seiner Zeit zwischen Bürgerlichkeit und Moderne.
Eveliina Juntunen