Timothy Whitmarsh: The Second Sophistic (= Greece & Rome. New Surveys in the Classics; No. 35), Oxford: Oxford University Press 2005, 106 S., ISBN 978-0-19-856881-0, GBP 7,95
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Das zu besprechende Buch soll als Teil der Reihe "Greece & Rome - New Surveys in the Classics" in erster Linie einen einführenden Überblick über das jeweilige Thema bieten. Für die Präsentation der als 'Zweite Sophistik' bekannt gewordenen spezifischen Form der rhetorischen Bildung im kaiserzeitlichen Griechenland konnte mit Tim Whitmarsh ein ausgewiesener Kenner der Literatur der römischen Kaiserzeit gewonnen werden. [1]
Obwohl der Großteil der aus der Antike überlieferten Texte in den ersten vier Jahrhunderten nach Christi Geburt entstanden ist, standen diese in der philologischen Forschung lange Zeit im Schatten der Autoren aus den beiden 'klassischen' Epochen der athenischen beziehungsweise der römischen Geschichte. Erst nachdem das dieser Vernachlässigung zugrunde liegende Werturteil der 'Epigonalität' im Zuge eines sich generell wandelnden Literaturverständnisses mehr und mehr infrage gestellt worden war, haben die Werke der kaiserzeitlichen Autoren in den letzten Jahrzehnten größere Aufmerksamkeit gefunden. Ihre zunehmende Wertschätzung ist aber auch darin begründet, dass sich die kaiserzeitliche Literatur in besonderer Weise für die Anwendung einer Reihe moderner literatur- und kulturwissenschaftlicher Fragestellungen anbietet. Von diesen lässt Whitmarsh in seiner knappen, aber informativen Einleitung (1-2) einige Revue passieren - Intertextualität, Rezeptionsästhetik, Postkolonialismus, Identitätskonstruktion, Anthropologie, gender studies -, um sich im Folgenden vor allem mit dem Aspekt der Performativität eingehender zu beschäftigen. [2]
Das erste Kapitel (3-22) dient jedoch zunächst der Erklärung des Begriffs 'Zweite Sophistik', der von seinem antiken 'Erfinder' Philostrat nicht in der gleichen Bedeutung verwendet wurde wie von der modernen Forschung, die sich in den letzten rund zehn Jahren intensiv mit diesem Konzept auseinandergesetzt hat. [3] Der Leser erhält hier auf knappem Raum nicht nur einen Forschungsüberblick, sondern auch eine gute Einführung in die mit diesem Ansatz verbundenen Probleme. Während sich in den letzten Jahren eine Ausweitung der 'Zweiten Sophistik' zu einem umfassenden kulturellen Beschreibungsmodell für die griechische Kaiserzeit beobachten ließ, konzentriert sich Whitmarsh im Folgenden auf die epideiktische Rhetorik und die mit ihr verbundenen performativen Phänomene und führt damit den Terminus zugleich wieder enger auf die Bedeutung zurück, die er bei Philostrat hatte.
Dies wird besonders im zweiten Kapitel, "Sophistic Performance" (23-40), deutlich. Ausgehend von der allgemeinen Bedeutung agonaler und performativer Elemente in der kaiserzeitlichen Gesellschaft beschreibt Whitmarsh die Funktion von Körper, Kleidung, Sprache und der Fähigkeit zur Improvisation sowie zur Kommunikation mit dem Publikum im Zusammenhang der sophistischen performance zunächst theoretisch, dann am Beispiel des von Philostrat geschilderten Auftritts des Alexander von Seleukia in Athen. [4] Sein besonderes Interesse gilt dabei der Kodierung der Identität des Redners während seines Auftrittes durch solche Elemente (wie z. B. den Körper), die bei einer Lektüre des überlieferten Textes erst sekundär wieder erschlossen werden müssen.
Demgegenüber bewegt er sich im dritten Kapitel, "The Politics of Language and Style" (41-56), wieder in traditionelleren philologischen Bahnen, wenn er den sprachgeschichtlichen Hintergrund und die Funktion des so genannten Attizismus erläutert. Dabei handelt es sich um eine am Dialekt des klassischen Athen orientierte Sprachnorm, deren Beherrschung ein wesentliches Kriterium der Zugehörigkeit zur Bildungselite des 2. Jahrhunderts n. Chr. darstellte. Dem aus der Forschung der letzten Jahrzehnte bekannten Bild fügt Whitmarsh jedoch dadurch eine neue Facette hinzu, dass er die Spielräume stärker betont, die den einzelnen Akteuren für stilistische Innovationen zur Verfügung standen. Die modifizierte Interpretation des Attizismus gehört zu den interessantesten Partien des Buches, wenn auch die in diesem Zusammenhang formulierte These, dass für etablierte Sophisten auch die Möglichkeit bestanden hat, gerade durch einen gezielten Verstoß gegen diese Norm Distinktionsgewinne zu erzielen, vielleicht noch weiterer Argumentation bedurft hätte.
Im vierten Kapitel, "Reading Sophistic Texts" (57-73), wird nach der Performativität die Rezeptionsästhetik als geeignete Methode der Beschäftigung mit den Texten der 'Zweiten Sophistik' vorgestellt. Dass der Rezipient in dieser Literatur eine wichtige Rolle spielt, verdeutlicht Whitmarsh im ersten Teil vor allem an verschiedenen Formen der Verstellung und der Ironie, die er unter anderem am Beispiel der wahrscheinlich vor dem römischen Kaiser gehaltenen Königsreden des Dion von Prusa illustriert. Im zweiten Teil steht hingegen die mehrdeutige und dem Leser zur Entschlüsselung überlassene Verwendung historischer und mythologischer Personen und Ereignisse im Vordergrund.
Das letzte Kapitel, "The Second Sophistic and Imperial Greek Literature" (74-89), erweitert nach der vorherigen Konzentration auf die epideiktische Rhetorik abschließend noch einmal das Blickfeld und widmet sich zunächst denjenigen Gattungen, die im Zusammenhang mit dem gesteigerten Interesse am Individuum in der Kaiserzeit eine gewissen Blüte erlebt haben. Dabei steht vor allem die Nähe dieser Gattungen zur Rhetorik im Mittelpunkt: So sind die Biografie und das Enkomion in dieser Zeit eine ebenso enge Bindung eingegangen wie die Autobiografie und die Apologie. Ein weiteres Beispiel hierfür stellen die 'Heiligen Reden' des Aelius Aristides dar, die in rhetorischer Form einen überaus detaillierten Krankenbericht ihres Verfassers geben und damit zudem ebenfalls den Körper als soziales Zeichensystem verwenden. Im vierten Abschnitt geht Whitmarsh noch kurz auf die Analogien zwischen sophistischer Beredsamkeit und dem (ungefähr in der gleichen Zeit entstandenen) antiken Roman ein, die er neben den historischen Schauplätzen und der häufig 'romantisch' motivierten Handlung in dem stark innovativen Charakter beider Textgattungen erblickt, ehe er in den letzten elf Zeilen ein leider nur sehr kurzes Resümee zieht.
Auch wenn ein ausführlicheres Fazit für den Leser sicherlich von Vorteil gewesen wäre, so kann dieses kleine Manko den überaus positiven Gesamteindruck doch nicht trüben. Durch die Konzentration auf den performativen Charakter der 'Zweiten Sophistik' ist es Whitmarsh trotz der von der Reihe geforderten Kürze gelungen, sowohl einen präzisen Überblick über das Phänomen in seiner Gesamtheit zu geben als auch seine Darstellung mit einem überzeugenden neuen Akzent zu versehen. Auf diese Weise bietet das Buch nicht nur dem 'Neuling' auf dem Gebiet der kaiserzeitlichen Literatur eine geeignete Einführung, sondern wird auch für den Fortgeschrittenen zu einer Gewinn bringenden Lektüre. [5]
Anmerkungen:
[1] Vgl. vor allem Tim Whitmarsh: Greek Literature and the Roman Empire. The Politics of Imitation, Oxford 2001; ders.: Ancient Greek Literature, Cambridge 2004.
[2] "What this book hopes to show, however, is the absolute centrality of display oratory to elite Greek culture of the first century of our era" (1).
[3] Vgl. (in Auswahl): Graham Anderson: The Second Sophistic. A cultural Phenomenon in the Roman Empire, London 1993; Maud Gleason: Making men: sophistics and self-presentation in ancient Rome, Princeton 1995; Simon Swain: Hellenism and Empire: Language, Classicism and Power in the Greek World, Oxford 1996; Thomas Schmitz: Bildung und Macht. Zur sozialen und politischen Funktion der zweiten Sophistik in der griechischen Welt der Kaiserzeit, München 1997; Martin Korenjak: Publikum und Redner. Ihre Interaktion in der sophistischen Rhetorik der Kaiserzeit, München 2000; Simon Goldhill (Hg.): Being Greek under Rome: cultural identity, the second sophistic and the development of empire, Cambridge 2001; Barbara Borg (Hg.): Paideia: the world of the second Sophistic, Berlin 2004.
[4] Vgl. Philostrat: Sophistenviten, 2,5,572.
[5] Die durchweg aktuellen Literaturangaben haben zwar mit Rücksicht auf den einführenden Charakter der Reihe ein gewisses Schwergewicht im angelsächsischen Raum, enthalten aber auch die wichtigeren Titel in den übrigen Sprachen.
Dennis Pausch