Gerhard Höpp / Peter Wien / René Wildangel (Hgg.): Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus (= Studien des Zentrums Moderner Orient; Bd. 19), Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2004, 377 S., ISBN 978-3-87997-625-6, EUR 26,00
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Der Konflikt zwischen Israel und Palästina ist, neben der Auseinandersetzung um nationale Rechte und territoriale Besitzansprüche, inzwischen auch zu einem Kampf um die Erinnerung und die Deutung der Vergangenheit geworden. In demselben Maße, in dem die Shoah, d.h. die Ermordung der europäischen Juden, als prägende, identitätsstiftende Erfahrung im öffentlichen Bewusstsein Israels und der westlichen Welt inzwischen ständig präsent ist, wird von westlicher Seite vielfach kritisiert, dass dieses Bewusstsein in der islamischen Welt nicht existiere. In der Propaganda, die den israelisch-palästinensischen Konflikt begleitet, wird dabei von israelischer Seite der arabischen Gegenseite vorgeworfen, geschichtliche Tatsachen bewusst zu ignorieren oder zu leugnen und damit (un-)bewusst eine antisemitische Grundhaltung zu offenbaren, die sich bereits in den 1930er- und 1940er-Jahren in der bereitwilligen Unterstützung Nazi-Deutschlands durch breite Kreise der arabischen Öffentlichkeit ausgedrückt habe. Als Beispiel angeführt wird dabei besonders die am Ende offene Kollaboration Amin al-Husainis, des Muftis von Jerusalem, mit dem nationalsozialistischen Deutschland.
Angesichts dieser oftmals polemisch und emotional geführten Debatte, die inzwischen auch in Teilen der deutschen Öffentlichkeit stattfindet, will der vorliegende Sammelband einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion leisten.
Entstanden als Ergebnis eines 2002 abgehaltenen Symposiums arabischer, israelischer und deutscher Historiker, verzichtet der Band klugerweise darauf, eine umfassende Darstellung der deutsch-arabischen Beziehungen im Zeichen des Nationalsozialismus zu liefern. Vielmehr versuchen die zehn Beiträge, ein differenziertes Bild dieses Verhältnisses zu entwerfen, indem sie anhand einzelner Fallbeispiele herausarbeiten, wie nationalsozialistische Politik und Ideologie in den 1930er- und 1940er-Jahren in der arabischen Welt direkt oder indirekt wahrgenommen wurde. Die in der öffentlichen Diskussion zumeist beachteten Gruppen, die offen mit der Naziideologie sympathisierten, werden dabei bewusst nicht behandelt; das Anliegen der Herausgeber ist es vielmehr gewesen, auch und gerade die kritischen Stimmen zu Wort kommen zu lassen.
Aufgrund von Herkunft und Forschungsschwerpunkt der einzelnen Mitarbeiter wirkt der Band auf den ersten Blick etwas heterogen und konzeptionslos. Zum einen versucht er, Beispiele aus verschiedenen Ländern (Ägypten, Palästina, Syrien, Irak, Marokko) anzuführen, wobei Marokko mit drei Beiträgen besonders intensiv behandelt wird. Zum anderen nähern sich die Autoren dem Thema aus verschiedenen Perspektiven. Behandelt wird das Bild des Nationalsozialismus in der öffentlichen Meinung (wobei sich die Beiträge v.a. auf die Auswertung ausgewählter Zeitungen und Zeitschriften stützen), die Rezeption faschistischer Ideen in den radikalen nationalistischen Bewegungen Syriens und Iraks, der Situation im Kampf gegen die Wehrmacht eingesetzter marokkanischer Soldaten und dem Schicksal arabischer Staatsbürger im deutschen Machtbereich. Zwei Beiträge widmen sich dem Umgang mit der Shoah in der gegenwärtigen arabischen Welt und in Israel.
In der Gesamtschau ergeben die, im Übrigen qualitativ durchweg hochwertigen Aufsätze allerdings ein überraschend geschlossenes Bild. Anhand ihres Materials gelingt es den Autoren in ihren jeweiligen Studien, zu demonstrieren, dass das Bild einer bewussten, ideologisch begründeten Parteinahme der arabischen Welt mit dem NS-Regime nicht zu halten ist.
Die Beiträge lassen dabei den Schluss zu, dass der Nationalsozialismus für die Araber in erster Linie ein fremdes Phänomen war, mit dem man im Allgemeinen nur über die Vermittlung der Presse bekannt wurde. Die arabische Öffentlichkeit schuf sich (mit Ausnahme Marokkos, wo diese Vermittlung in hohem Masse durch aus dem Ausland finanzierte oder von der französischen Regierung herausgegebene Zeitungen statt fand) ein durchaus eigenständiges Bild von den Vorgängen in Europa. Eine der bemerkenswertesten Erkenntnisse, auf das einige der Autoren unmittelbar hinweisen, die sich aber auch aus der Lektüre der übrigen Aufsätze ergibt, ist allerdings, dass sich beim Umgang mit dem Nationalsozialismus trotz der geographischen und kulturellen Entfernung in der arabischen Welt dieselben gesellschaftlichen und kulturellen Bruchlinien und Verwerfungen zeigten, die sich auch synchron in europäischen Gesellschaften beobachten ließen. Während die meisten Zeitungen und Zeitschriften das Weltbild der alten, westlich geprägten bürgerlichen Eliten reflektierten, die aufgrund ihrer liberalen Überzeugungen gegenüber faschistischen Ideologien eine schroff ablehnende Haltung einnahmen und die nationalsozialistische Judenverfolgung als Rückfall in die Barbarei verurteilten, zeigte die junge, politisch radikalisierte Generation wie ihre Altersgenossen in Europa eine starke Faszination für die damals aktuellen autoritären oder auch totalitären Ideologien und Ordnungsmodelle, wobei die frühen Erfolge der deutschen Politik als Beispiel für den eigenen Kampf gegen imperialistische Bevormundung betrachtet wurden. Ein genuiner Antisemitismus - diesen Schluss jedenfalls lassen die untersuchten Quellen zu - scheint hierbei allerdings offenkundig keine Rolle gespielt zu haben; einige der behandelten Vordenker beriefen sich in ihren Programmen sogar ausdrücklich auf jüdische Autoren.
Prägend für die Wahrnehmung des Nationalsozialismus in der arabischen Welt, so der Befund, zu dem die Autoren durchweg kommen, sei bei den angestammten Eliten wie bei der jungen Intelligenzia die Erfahrungen mit dem westlichen Imperialismus gewesen. Dessen Überwindung sei das Ziel aller politischen Bewegungen geblieben, wobei das nationalsozialistische Deutschland allerdings nicht als Hoffnungsträger und Verbündeter betrachtet worden sei. Gegenüber den Achsenmächten bestanden schon angesichts der brutalen Politik Italiens in Libyen und Abessinien starke Vorbehalte, während im Vergleich dazu der britische Imperialismus als der eigentliche, aber insgesamt schwächere Gegner und somit als das kleinere Übel angesehen wurde. In Palästina kam es hinsichtlich der Beurteilung des Nationalsozialismus gelegentlich sogar zu einer Übereinkunft zwischen arabischen Gruppen und Teilen der zionistischen Bewegung, während der Mufti von Jerusalem durch seine pro-deutsche Haltung dort weitgehend isoliert blieb.
Insgesamt sind es solche Einblicke in das politische und gesellschaftliche Klima im Nahen Osten und im Maghreb in der Zwischenkriegszeit und während des Krieges, die das Buch, über die Absicht seiner Herausgeber hinaus, zu einer lohnenden Lektüre machen. Es lässt sich dabei zumindest vorläufig der Schluss ziehen, dass die arabische Welt in dieser Periode keineswegs im Windschatten der weltweiten Ereignisse und Entwicklungen lag, sondern dass sie diese sehr bewusst wahrnahm und sich über die Bedeutung und Konsequenzen dieser Vorgänge für die eigene Region durchaus im Klaren gewesen ist.
Aus dem Rahmen fallen die beiden Beiträge zur arabischen Wahrnehmung nationalsozialistischer Verbrechen, und dabei besonders der Ermordung der europäischen Juden, in der Gegenwart. Im Gegensatz zu den übrigen Aufsätzen vermögen diese nicht ganz zu überzeugen, da in ihnen der Versuch unternommen wird, auf einer zu schmalen, willkürlich ausgewählt wirkenden Materialbasis einen umfassenden Überblick bieten zu wollen. Allerdings wird in ihnen deutlich, dass für das kollektive Gedächtnis der arabischen Welt die Ereignisse von 1948 den eigentlichen Bezugspunkt bilden. Die Shoah wird angesichts der eigenen Leidenserfahrung als "westliches" Phänomen wahrgenommen. Die Bedeutung der Shoah für die arabische Welt wird entweder (durch die Behauptung, es handle sich um einen bloßen zionistischen Propagandacoup) abgestritten, für die eigene Seite als irrelevant abgetan oder durch den Verweis auf die aktuelle Situation in der Region relativiert, wobei in Gestalt des Staates Israel das Opfer von gestern als Täter von heute erscheint. Mit dieser Übernahme des Nationalsozialismus als negativen Bezugspunkt, wie auch in der Hervorhebung der eigenen Opferrolle als Grundlage kollektiver Identität sowohl auf israelischer wie auch auf palästinensischer Seite haben freilich wiederum zwei wesentliche Bestandteile des westlichen Diskurses Eingang in das öffentliche Bewusstsein der arabischen Welt gefunden - was wiederum zeigt, welchen prägenden Einfluss die politische und ethische Katastrophe des Zweiten Weltkriegs bis heute auch im arabisch-islamischen Kulturkreis ausübt.
Wie bereits gesagt, es sind gerade diese, über die bestehenden Wahrnehmungen und Urteile hinausweisenden Ansätze, die den Band zu einer anregenden Lektüre werden lassen. Es sei an dieser Stelle die Hoffnung ausgedrückt, dass andere Wissenschaftler dem aufgezeigten Weg weiterhin folgen.
Anmerkung der Redaktion:
Für eine komplette Darstellung der arabischen Umschrift empfiehlt es sich, unter folgendem Link die Schriftart 'Basker Trans' herunterzuladen: http://www.orientalische-kunstgeschichte.de/orientkugesch/artikel/2004/
reichmuth-trans/reichmuth-tastatur-trans-installation.php
Roman Siebertz