Nasreen Alavi: Wir sind der Iran. Aufstand gegen die Mullahs - die junge persische Weblog-Szene, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2005, 387 S., ISBN 978-3-462-03651-0, EUR 9,90
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Oliver Borszik: Irans Führungsanspruch (1979-2013). Mission, Anhängerschaft und islamistische Konzepte im Diskurs der Politik-Elite, Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2016
Als sie im Jahre 1979 das Wahlalter auf sechzehn Jahre herabsetzten, konnten Irans Konservative nicht ahnen, dass weniger als zwanzig Jahre später fünfundsechzig Prozent der Bevölkerung jünger als 25 Jahre sein würden. Heute gibt es acht Millionen wahlberechtigte Jugendliche in Iran, die den Konservativen immer mehr Kopfschmerzen machen. Frustriert von den engen Grenzen, die die Konservativen ihnen zogen, brachten sie 1997 den Mann ins Amt, der eine Öffnung versprach, Seyyed Mohammad Chatami. Die Situation lockerte sich in mancher Hinsicht tatsächlich - auch wenn sie sich in anderer Hinsicht immer wieder verschärfte - beispielsweise durch Verbote von Zeitungen.
Doch inzwischen hat sich die Jugend so sehr an die Öffnung gewöhnt und ist die Gesellschaft so stark von einer jugendlichen Bevölkerung geprägt, dass auch ein radikal-islamistischer Präsident Ahmadinejad die Entwicklung nicht zurückdrehen kann. Er versucht sein Möglichstes: indem er ausländische Musik verbieten lässt und verordnet, Frauen dürften nicht länger als bis sechs Uhr abends arbeiten. Aber man hat den Eindruck, diese Jugend lässt sich nicht mehr kontrollieren. Sie sind mit MTV und dem Internet weit mehr vertraut als mit Revolutionsliedern oder schiitischen Trauergesängen. Zwar gibt es keine Diskos oder Bars in Iran. Aber zuhause steigen heiße Parties, bei jeder Gelegenheit. Westliche Popmusik oder auch iranische Popmusik made in USA verkauft der Straßenhändler den Kids unter der Hand. Auch Alkohol kann man sich trotz offiziellen Verbots leicht beschaffen. Viele flüchten sich in Traumwelten: in die des Alkohols oder ins World-Wide-Web.
Das Land gehört dem Volk, nur dem Volk. Diesen Satz skandierten die Studenten im Sommer 1999 bei den größten Demonstrationen seit der Revolution. Gemeint war, das Land gehört nicht den Klerikern, die meinen, im Namen des Islams, des angeblich "richtigen" Islams die Freiheiten der Menschen einschränken zu können. Möglicherweise hat Nasrin Alavi an diesen Satz angeknüpft, als sie ihr Buch "Wir sind der Iran" nannte.
Die Autorin hat Weblogs von iranischen Studenten zusammenstellt, und sie zieht eine positive Bilanz: "Iranische Blogs bieten einen erfrischenden Blick auf das sich ändernde Bewusstsein der jüngeren Generation im Iran. Es ist geradezu eine Revolution innerhalb der Revolution. Seit der Tragödie vom 11. September stehen politische Bewegungen in der islamischen Welt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Es scheint möglich, dass der Iran, der vor einem Vierteljahrhundert einer verblüfften Welt den radikalen Islam vorstellte, diese Welt jetzt noch einmal überraschen könnte" (381).
Weblogs sind formlose Einträge auf einer privaten Web-Site, oft nur Notizen, die zusammengenommen eine Art elektronisches Logbuch ergeben. Die Blogger treten in der Regel anonym auf und können angesichts des geringen Aufwands rasch die Adresse wechseln. Begonnen hatte es mit einem kurzen Artikel auf einer iranischen News-Site. Der Verfasser, Hossein Derachschan, ein junger Journalist, der früher in Iran für eine reformorientierte Zeitung geschrieben hatte und nach deren Schließung nach Kanada emigriert war, berichtete darin von einer Entdeckung, die er kürzlich gemacht hatte: eben das Blogging-Format und vor Allem, wie sich die neueste Technologie dazu verwenden ließe, Blogs in Persisch zu schreiben.
Zwei Monate später, im November 2001, gab es bereits 200 iranische Blogs, heute sind es mehr als 100.000. Persisch ist nach Englisch die am meisten verbreitete Sprache im Netz. Die meisten gutbürgerlichen Familien besitzen einen PC. Mit einer Karte, die den Prepaid-Karten der Mobiltelefone vergleichbar ist, wählt man sich ein. Schätzungen zufolge haben bereits drei der 64 Millionen Iraner einen eigenen Zugang zum Internet.
Im Herbst 2003 eröffnete in Teheran das erste Blog-Café der Welt. Manche beschreiben in den Blogs ihren Alltag oder nutzen das Blogging einfach als Möglichkeit, sich frei ausdrücken zu können. Andere sind explizit bewusste politische Beobachter, die die Welt mit Insider-Informationen aus Iran versorgen wollen. Als "einen Jungen, der aus Iran berichtet" bezeichnet sich einer, den man unter www.plate.blogspot.com findet und der es sich beispielsweise zur Aufgabe gemacht hatte, Bilder und Berichte über die Studentendemonstrationen vom Sommer 2003 ins Netz zu stellen.
So handeln die Weblogs ein breites Spektrum an Themen ab: von dem Versagen der Behörden nach dem Erdbeben von Bam: "Unsere gesamte blog-Community schreit mit einer Stimme, dass das Regime direkt verantwortlich ist, weil es all diese Jahre über nichts getan hat, außer sich in dunkle Machenschaften zu verstricken." Und die Frage nach einer möglichen Intervention der USA bis hin zu neuen Filmen und dem neuen Band von Harry Potter. Es geht um die neueste Musik, Sex vor der Ehe - und vor allem die Nöte von Frauen. Beispielsweise wird thematisiert, dass Frauen nach einer Scheidung kein Recht auf die Kinder haben: "Vor ein paar Monaten ist mein Mann gegangen, weil wir uns nur noch gestritten hatten. Jetzt kann ich nur noch darauf warten, dass er mir die Kinder wegnimmt."
Auf jeden Fall bietet die Lektüre der Weblogs, an der Nasrin Alavi uns teilhaben lässt, einen hervorragenden Einblick in die iranische Gesellschaft.
Katajun Amirpur