Anke Grodon: Mythen und Wahrheiten. Hugenotten in der Uckermark, Cottbus: Regia-Verlag 2005, 47 S., ISBN 978-3-937899-68-8, EUR 9,50
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Geht es bei einer eher lokalgeschichtlichen Ausstellung und in dem dazugehörigen Begleitheft lediglich um die Vermittlung einiger grundlegender historischer Fakten wie etwa der Niederlassung hugenottischer Einwanderer in der Uckermark an ein breiteres Laienpublikum? Oder ist es nicht doch das Ziel auch eines eher kleinen Projekts, die Nähe zu den neueren Erkenntnissen der wissenschaftlichen Forschung zu suchen und Mythen und Legenden, die gerade auch das allgemeine und das lokale Geschichtsbild allzu oft prägen, zu hinterfragen? Letzteres legt der Titel "Mythen und Wahrheiten" des vorliegenden Ausstellungskatalogs zu den Hugenotten in der Uckermark zumindest implizit nahe.
Die Ausstellung wurde im Rahmen des Kulturlandprojektes "Der Himmel auf Erden - 1000 Jahre Christentum in Brandenburg" im Jahr 2005 im Stadtmuseum Schwedt gezeigt. Dementsprechend konzentriert sich auch der Katalog mit Beiträgen zur Glaubenspraxis (Heike Schulze), zu den französisch-reformierten Pastoren (Jens Häseler), zur Person Daniel Auguste Chodowieckis (Torsten Freyhof) sowie zur Schwedter Hugenottengemeinde in der Zeit der DDR (Hans Hurtienne) schwerpunktmäßig auf die kirchliche Seite der Hugenottenansiedlung in der Uckermark. Doch auch der wirtschaftlichen Tätigkeit der Neusiedler widmen sich mehrere Beiträge, so etwa zum Tabakanbau (Lutz Libert), zum Gartenbau (Torsten Freyhof, Anke Grodon) oder zur Seidenproduktion (Anke Grodon). Ein einführender Beitrag ("Mythen und Wahrheiten" von Torsten Freyhof) erläutert vor allem die Hintergründe der Hugenottenimmigration, indem er beginnend mit der Reformationszeit die Geschichte der protestantischen Minderheit in Frankreich und ihrer Flucht nach Brandenburg seit 1685 knapp skizziert.
Der Katalog verdeutlicht, dass die Uckermark durchaus zur Kernregion insbesondere der ländlichen Kolonisation im Brandenburg-Preußen des ausgehenden 17. Jahrhunderts gehörte. Zahlreiche Flüchtlinge, die aufgrund der sich seit 1679 verschärfenden Verfolgung ihre Heimat verlassen hatten, siedelten sich in den uckermärkischen Ämtern an, andere ließen sich in den Städten der Region nieder. In beiden Fällen spielte eine vorwiegend landwirtschaftliche Betätigung eine wichtige Rolle. Teilweise konnten neue Obst- und Gemüsesorten kultiviert werden, und insbesondere der Tabakanbau wurde durch die Einwanderer erstmals in größerem Umfang betrieben und bis ins 19. Jahrhundert von ihren Nachfahren, aber auch durch Einheimische erheblich ausgeweitet. Mit seinem Beitrag skizziert Libert die Entwicklung des Tabakanbaus in der Uckermark bis in die Gegenwart. Dagegen erwies sich die Zucht von Seidenraupen und mit ihr einhergehend die Produktion qualitativ hochwertiger Seidenstoffe als Fehlschlag, wie Grodon deutlich macht.
Als problematisch erweisen sich sowohl der Einführungsbeitrag von Freyhof wie auch die Beiträge von Heike Schulze. Der Aufsatz "Mythen und Wahrheiten" enthält tatsächlich verschiedene Mythen, ohne sie freilich kritisch zu hinterfragen. Zu nennen wäre etwa die Behauptung, es seien in der Bartholomäusnacht von 1572 allein in Paris 10.000 Menschen ums Leben gekommen (6), eine Zahl, die in keiner Weise mit neueren Forschungen übereinstimmt. Auch den "schweren Aderlass", den die Flucht der Hugenotten der französischen Wirtschaft zugefügt habe (7), wird man heute mit einem Fragezeichen versehen müssen. Kritische Überlegungen zur berühmten brandenburgischen Toleranzpolitik im 17. Jahrhundert werden völlig ausgeblendet, um statt dessen wieder einmal in teleologischer Konstruktion im Übertritt des Kurfürsten Johann Sigismund zum Calvinismus 1613 die "religionspolitischen Voraussetzungen" für die Hugenotteneinwanderung zu sehen. Sprachliche Unschärfen und inhaltliche Sprünge lassen den Text zudem missverständlich werden (z.B. "sein Kardinal Richelieu" bezogen auf König Heinrich IV., 6).
Auch in Schulzes Beitrag "Der Ursprung" wird die Bartholomäusnacht unbeirrt als vom französischen Königshaus angezetteltes "heimtückische[s] Massaker" (15) dargestellt, ohne die von Ilja Mieck schon vor Jahren herausgestellten sozioökonomischen Konfliktpotenziale zu berücksichtigen. [1] Verklärend wird demgegenüber die angebliche Toleranz der Hohenzollern hervorgehoben. Im Beitrag zur "Glaubenspraxis" wird zwar das presbyterial-synodale Kirchenwesen der Hugenotten (etwas zu stark modernisierend als "demokratisch" gekennzeichnet) dem bei den deutschen Protestanten üblichen landesherrlichen Summepiskopat gegenübergestellt, doch ohne auf die damit einhergehende Problematik beim Aufbau der Flüchtlingskirche hinzuweisen. Vielmehr beschränkt sich der Beitrag auf eine Apologie der Hugenottenkirche.
Dass es möglich ist, einen wissenschaftlich fundierten Beitrag in knapper Form und in einer auch für Nichtfachleute verständlichen Sprache zu verfassen, zeigt der gelungene Aufsatz von Jens Häseler über die französisch-reformierten Pastoren in Schwedt vom ausgehenden 17. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Anhand kurzer biographischer Skizzen wird hier in die Gedankenwelt der Theologen einer Gemeinde eingeführt, die von der Kurfürstin Dorothea in der Herrschaft Schwedt-Vierraden gegründet wurde. Dabei zeigt sich, dass die Pastoren der kleinen Provinzgemeinde bestens mit den übrigen Gemeinden des Kurfürstentums und insbesondere mit der in Berlin vernetzt waren und an den gelehrten Diskursen der Aufklärung teilnahmen.
Ungewöhnlich aufgrund der persönlichen lebensgeschichtlichen Perspektive, aber von hohem dokumentarischen Wert ist der Einblick des ehemaligen Pfarrers in Schwedt, Hans Hurtienne, der die Situation der Schwedter französisch-reformierten Gemeinde während der DDR-Zeit schildert. Dabei werden insbesondere die Hindernisse hervorgehoben, die der Gemeinde, etwa bei der Reparatur der Kirche, in den Weg gelegt wurden.
Insgesamt kann resümiert werden, dass der Katalog zwar auf einen oftmals im Vergleich zu den großen städtischen Kolonien wie Berlin oder Magdeburg vernachlässigten Ansiedlungsraum für Hugenotten aufmerksam macht, der Titel "Mythen und Wahrheiten" jedoch zu viel verspricht, wenn man den Hinweis auf die "Mythen" als Versuch einer Dekonstruktion und Korrektur ernst nimmt. Vielmehr entsteht der Eindruck eines eher durchwachsenen Bändchens, das einige Anregungen und durchaus solide Beiträge enthält, jedoch auch zahlreiche Fehler und eben Mythen.
Anmerkung:
[1] Ilja Mieck: Die Bartholomäusnacht als Forschungsproblem. Kritische Bestandsaufnahme und neue Aspekte, in: Historische Zeitschrift 216 (1973), 73-110.
Ulrich Niggemann