Monika Gisler: Göttliche Natur? Formationen im Erdbebendiskurs der Schweiz des 18. Jahrhunderts, Zürich: Chronos Verlag 2007, 310 S., ISBN 978-3-0340-0858-7, EUR 32,00
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Die Dissertation von Monika Gisler folgt einem sich derzeit festigenden Trend in der Geschichtswissenschaft: Sie ist der Geschichte des Wissens gewidmet, und zwar der Wissensgeschichte von Erdbeben in der Schweiz des 18. Jahrhunderts. Gisler wählt einen "symmetrischen" Ansatz (20), der den Anspruch erhebt, alle Formen von Wissensproduktion gleichrangig zu berücksichtigen, seien sie nun theologischer, magischer, naturwissenschaftlicher, professioneller oder laienhafter Herkunft. Damit, so das Ziel, sollen auch die in der traditionellen Geschichte der Naturwissenschaft unbeachteten Wissensformen zu ihrem Recht kommen, sollen neben den großen, einflussreichen Naturforschern wie etwa Johann J. Scheuchzer auch "Durchschnittsdenker" (15) beachtet werden.
Nun ist es nicht einfach, einen solchen Anspruch einzulösen, zumal die Geisteseliten sich nicht zuletzt deshalb als solche etablieren konnten, weil sie die Kunst beherrschten, ihre Position in der Fachöffentlichkeit durch Publikationen sowie durch Korrespondenzen mit maßgeblichen Kollegen zu zementieren - aus der Sicht des Historikers also die Kunst verstanden, Quellen zu produzieren und in den Archiven unzählige schriftliche Spuren zu hinterlassen. Folgerichtig hat man es in dieser Arbeit dann letztlich doch fast ausschließlich mit gelehrten Diskursen zu tun, in denen freilich die heute etablierten Grenzen zwischen naturwissenschaftlichen Erklärungen und theologischen Deutungen noch wenig gefestigt scheinen. Tatsächlich handelt es sich also um eine Schweizer Gelehrtengeschichte unter Einschluss der Geistlichkeit am Beispiel der Erdbebendebatten im 18. Jahrhundert.
Gisler hat die Arbeit chronologisch aufgebaut und rekonstruiert zunächst die Erdbebendeutung bei Scheuchzer und in seinem wissenschaftlichen Netzwerk zu Beginn des Jahrhunderts. Nach dem Tode des Universalgelehrten flaute die Debatte ab, bis das Lissaboner wie das Schweizer Erdbeben von 1755 eine neue Diskussion entfachten. Auch hier setzt die Darstellung in Gestalt von Voltaires Kommentar mit der europäischen Geisteselite ein, zeichnet aber die Verästelungen der Kontroverse, vor allem unter Theologen, bis hinunter auf die Ebene von Predigttexten nach. Ein sehr aufschlussreiches Kapitel ist anschließend den Erdbebenschilderungen in Zeitungen und Zeitschriften gewidmet, bevor mit Blick auf die letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts Saussures Interpretation der Erdstöße im Kontext der Elektrizitätslehre erfolgt.
Im Endergebnis bestätigt die Studie bekannte Annahmen über die Interpretationsbreite bei Katastrophenereignissen. Gisler schildert eindrücklich die Durchdringung von empirisch-naturwissenschaftlichem und theologischem Wissen, die zunehmend einem friedlichen Nebeneinander der unterschiedlichen Wissenskategorien wich. Voraussetzung war der Ansatz der Physikotheologie, die es den Gelehrten und Geistlichen ermöglichte, die Vorstellung vom unmittelbaren göttlichen Eingreifen und die straftheologischen Komponenten zugunsten empirischer Interessen in den Hintergrund zu drängen. Auch in den Predigten und den popularisierenden Darstellungen der zweiten Jahrhunderthälfte ist dieser Befund deutlich zu erkennen - wobei auch hier rein beschreibende Perzeptionen gegenüber deutenden Darstellungen an Dominanz gewannen und damit offenbar auch die Wahrnehmung der Laien beeinflussten. Allerdings fanden Bestrebungen am Ende des Jahrhunderts, die Wissenschaft von den Erdbeben jeglicher theologischer Rückbindung zu entkleiden, in der Öffentlichkeit nur sehr geringes Interesse.
Insgesamt konstatiert Gisler eine breite Hinwendung zur Naturbeobachtung, in der physikalische Theorien an Bedeutung gewannen, antike Erklärungen für die Erdbeben stark an überzeugungskraft verloren, die Einbettung der Erkenntnisse in ein christliches Weltbild und damit verbundene moralische Deutungen jedoch bestehen blieben. Die Studie ist gut lesbar, sinnvoll gegliedert und kommt zu klaren und überzeugenden Schlüssen.
Jens Ivo Engels