Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit (= Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, 543 S., ISBN 978-3-534-19599-2, EUR 74,90
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Schon der Titel dieses Buches verweist auf den höchst produktiven Sonderforschungsbereich 496 "Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution" der Universität Münster. Die Untersuchung selbst ist ein eindrucksvolles Zeugnis für den Strukturwandel der wissenschaftlichen Arbeit, der auch einen wesentlichen Teil der Promotionsvorhaben ergriffen hat. Die Vernetzung der Forschung führt gewiss nicht automatisch dazu, dass der Doktorand - wie hier - bereits mehr als eine Seite seines Literaturverzeichnisses mit seinen eigenen Arbeiten zum Umkreis des Themas füllen kann, aber nur sie gibt derart breit Gelegenheit, die Thesen der Untersuchung auf wissenschaftlichen Tagungen im Kontext ähnlich gelagerter Forschungen vorzustellen (Vorwort).
Füssel verwirklicht sein eröffnendes Motto ("der streitigkeiten wegen der praecedenz sind mächtig viel, dass man ein ganzes buch davon schreiben koente" (1)) mit der dem Thema "Gelehrtenkultur" angemessenen höchsten Gründlichkeit: In einer 40-seitigen Einleitung legt er Voraussetzungen, Absichten und Methoden dar, knapp 90 Seiten umfasst das Quellen- und Literaturverzeichnis. Schlüsselbegriffe sind für Füssel "Repräsentation" und "Distinktion", sein "praxeologischer Ansatz" ist den Studien von Norbert Elias und vor allem Pierre Bourdieu verpflichtet. Seine "Untersuchung von Rangkonflikten" folgt mithin der Grundannahme, dass sich soziale Unterschiede in den Praktiken sozialer Repräsentation nicht nur abbilden, sondern sich vielmehr stets aufs Neue durch sie konstituieren. Die Praktiken der Repräsentation sind demnach als "Ausdruck eines ständigen Kampfes um Macht und Anerkennung zu verstehen" (28).
Gegenstand der Arbeit sind nur die Gelehrten, die Mitglieder der Korporation Universität waren (3). Die exemplarisch betrachteten Universitäten wurden nach verschiedenen Charakteristika ausgewählt: Tübingen als landesherrliche Universität, Helmstedt als konfessionell geprägte Gründung, Ingolstadt und Freiburg als katholische Universitäten, ferner Halle, Leipzig, Heidelberg und Wittenberg (37ff.). Der Vergleich dieser Universitäten miteinander ist jedoch ein untergeordneter Gesichtspunkt (etwa 279ff.) und wird ergänzt durch Beispiele aus etlichen anderen Universitäten.
In drei Kapiteln beschreibt der Autor zunächst die "institutionellen Grundlagen und Strukturen der Universität" (42-72), "Universität und Gelehrtenstand als symbolische Ordnung" (73-126) und "Zeremoniell und Ritual" als öffentliche akademische Akte (127-187). Während diese Kapitel naturgemäß eher auf normativen Quellen beruhen, gibt Füssel anhand etlicher Beispiele im Großkapitel "Universität im Konflikt" konkrete Einblicke in die Praxis der Konstituierung ständischer Strukturen innerhalb des Gelehrtenstandes (188-331). Dabei werden die Konflikte innerhalb der gelehrten Gemeinschaft, zwischen Universität und Adel und zwischen Stadt und Universität betrachtet. Gegenüber diesem systematischen Zugriff beschreibt ein sechstes Kapitel die "Standesrepräsentation und Interaktionskultur im Wandel" (332-417), das letzte Kapitel fasst die Ergebnisse der Arbeit zusammen.
Stichwortartig seien zudem nur einige Themen aus der inhaltlichen Fülle genannt: Kleiderordnung in den Universitätsstatuten, Adel des Doktortitels, Inaugurationszeremoniell, Disputations- und Promotionsrituale, Streit der Fakultäten, Rangkonflikte von Theologen, Juristen, Philosophen, Sprachmeistern und Studenten, Prozessionen und Kirchenstuhlstreitigkeiten, Gelehrtenkritik und Habitus, Aufklärung und Antiritualismus.
Die thematische und zugleich örtliche Spannweite bewirkt in einzelnen Details zuweilen allerdings auch eine gewisse Zufälligkeit. Ob etwa die angeführten Beispiele von eher wohlsituierten Sprachmeistern (243-246) wirklich repräsentativ sind, wäre näher zu untersuchen. Schließlich war die Mehrzahl von ihnen ohne institutionelle Anbindung nur von Honorareinkünften abhängig.
Füssel sieht die Universität in Anlehnung an Überlegungen von Norbert Elias als "mittelständisches Gegenzentrum des Hofes" (18). Die weitgehend vom Adel übernommenen symbolischen Ausdrucksformen der Gelehrten dienten ebenso der Selbstverständigung nach innen wie der Abgrenzung nach außen gegenüber anderen Ständen und Gruppen. In der Zunahme der Rangkonflikte im 17. Jahrhundert sieht er einen Bedeutungsverlust des ständisch-korporativen Charakters der Universität. Der gesellschaftliche Vorrang der Gelehrten wurde zunehmend von ihrer Bedeutung als Staatsbeamte abhängig (426f.) und das ständisch begründete Verständnis von gelehrter Ehre wurde allmählich durch eine "kognitive Orientierung" (434) ersetzt, also durch den Erwerb wissenschaftlicher Kenntnisse.
Die intensive Verwendung soziologischer Begrifflichkeiten macht es nicht jedem Leser leicht. Zuweilen fragt man sich, ob Sachverhalte nicht auch einfacher beschrieben werden können als mit Sätzen wie: "[Die Akteure] wurden durch entsprechende Individualisierungsprozesse möglicherweise auch eher zu einem rechtlichen und damit zu einem um allgemein verbindliche Normen bemühten Modus der Konfliktführung disponiert" (252) oder "Weit mehr Einfluss auf den Wandel der akademischen Repräsentation als die antiritualistische Selbststilisierung der Aufklärer hatte die fortschreitende Differenzierung zwischen epistemischem und sozialem Rang" (434). Die gelegentliche Angestrengtheit des Stils wird aber von der farbigen Detailfülle mehr als aufgewogen. Das Buch erfreut den Leser mit überaus reichhaltigem Beispielmaterial vielfach aus entlegenen Quellen. Rangkonflikte und Rituale an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit wurden damit erstmals so umfassend und auf hohem theoretischen Niveau untersucht.
Ein Personenindex schließt den Band ab. Bedauerlich angesichts der Breite der Darstellung ist der fehlende Ortsindex (von einem Sachindex ganz zu schweigen), denn in diesem Buch steckt auch für den kundigen Universitätshistoriker eine Fundgrube entlegener Sachverhalte, die man gerne erschlossen hätte.
Stefan Brüdermann