Jörg Schweinitz: Film und Stereotyp. Eine Herausforderung für das Kino und die Filmtheorie. Zur Geschichte eines Mediendiskurses, Berlin: Akademie Verlag 2006, XVII + 323 S., ISBN 978-3-05-004282-4, EUR 49,80
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Das Zitat spielt im postmodernen Kino eine herausragende Rolle. Motive und Bildformeln der Filmgeschichte werden ausgeschlachtet und in ausgeklügelte Verweissysteme eingebunden, die offenbar selbst nur noch auf immer wieder neue Zitatebenen verweisen. Einen festen Bezugspunkt gibt es nicht mehr. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Film nun endlich auf dem Niveau der anderen Künste angekommen, oder - wenn man so will - diese auf dem seinen. Schon früh griff der Film auf stereotype Formeln zurück, die offenbar sowohl den technischen Herstellungsprozess als auch die industrialisierte Produktion von Massenkunst auf einer inhaltlichen Ebene spiegeln. In "Film und Stereotyp" stellt Jörg Schweinitz diesen Zusammenhang dar. Er geht dabei insbesondere der Frage nach, wie konventionalisierte und wiederholbare Muster in filmtheoretischen Diskursen behandelt werden. Wenngleich Schweinitz ausdrücklich herausstellt, dass Stereotype abhängig vom Kontext ganz unterschiedliche Ausprägungen und Funktionen annehmen, so zeichnen sich doch zwei Positionen deutlich ab: Die Auffassung, dass Stereotype den Blick auf eine komplexe soziale oder physische Realität verstellen und somit als Mittel ideologischer Manipulation abzulehnen sind, sowie die entgegengesetzte Annahme, dass Stereotype durch Übereinkunft und Wiederholung Verstehen und Kommunikation erleichtern, wenn nicht überhaupt erst ermöglichen. Beide Positionen werden immer wieder in unterschiedlichen historischen Zusammenhängen vorgebracht und im postmodernen Kino scheinbar zusammengeführt und überwunden.
Das Buch gliedert sich in drei Teile: eine allgemeine Diskussion von Konzepten und Theorien des Stereotyps, eine historische Darstellung filmtheoretischer Diskurse zum Stereotyp und schließlich die Analyse dreier exemplarischer Filme. Die Argumentation konzentriert sich auf ästhetische Anwendungen, auf Aspekte "der filmischen Narration und Präsentation" und weniger auf soziologische Fragen, wenngleich beide Bereiche ineinandergreifen und daher nicht immer scharf zu trennen sind. Wichtiger noch als diese Unterscheidungen ist für Schweinitz' Abhandlung jedoch die in neueren Ansätzen herausgearbeitete Auffassung von der kontextabhängigen Vielfalt stereotyper Muster und der Dialektik von Erstarrung und Dynamik. Unter Berufung auf Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeiten weist Schweinitz eine reduktive und essenzialistische Definition zurück und arbeitet statt dessen charakteristische, aber wechselnd gewichtete Facetten heraus, die in psychologischen und geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit Stereotypen von Bedeutung sind. Stereotype erscheinen zudem nicht nur als erstarrte Formeln, sondern sie unterliegen zugleich ständigen Veränderungsprozessen - eine Position, die in neueren Genretheorien des Films aufgegriffen wurde.
Schweinitz betrachtet Stereotype als "funktionale Größen, die als unverzichtbare Momente letzthin jede Form von Kognition und Kommunikation kennzeichnen" (98). Damit weicht er von der in den intellektuellen Diskursen des 20. Jahrhunderts vorherrschenden negativen Bewertung des Stereotyps ab, ohne jedoch deren Befunde pauschal zu verwerfen. Das bekannteste Beispiel ist zweifellos Max Horkheimers und Theodor Adornos "Dialektik der Aufklärung". Die Kritik an Automatismen und die Versuche, diese Automatismen zu überwinden, führen ins Zentrum der Debatten um Industrialisierung, Massenkultur und Kunstkonzepte, in denen das Medium des Films eine entscheidende Rolle spielt.
"Film und Stereotyp" zeichnet ausführlich die diskursgeschichtliche Entwicklung zentraler Positionen zum Stereotyp nach und diskutiert diese in ihrem weiteren Kontext. Zunächst wurden Stereotype allerdings ausgeblendet. Béla Balázs sah im Kino gar einen Ausweg aus der Abstraktion der Sprache. Gesicht und Geste in der filmischen Abbildung ermöglichten einen Zugriff auf eine "natürliche Bedeutung". Balázs' Argumentation ist, wie Schweinitz überzeugend darlegt, vor dem Hintergrund von sprachkritischen Schriften Hugo von Hofmannsthals oder Fritz Mauthners zu verstehen. Noch in Siegfried Kracauers wesentlich später formulierter Vorstellung von der filmischen "Errettung der physischen Realität" kommt die Hoffnung auf eine Befreiung von schematisierenden Abstraktionen zum Ausdruck. Demgegenüber stellt Rudolf Arnheim Anfang der 1930er Jahre die Standardisierung des Films in den Vordergrund, die mit einer Rationalisierung der Produktion einhergeht. Der prinzipielle Kunstanspruch des Films werde durch die stereotypen Darstellungsformen unterlaufen. Stereotype werden in beiden Positionen mit den rationalisierenden Tendenzen der Moderne in Verbindung gebracht: Einmal verspricht das Kino die Überwindung dieser Tendenzen, dann ist es ihr Produkt und Instrument zugleich. Während Arnheims und Balázs' Ausführungen deutlich von Kunstkonzepten der klassischen Moderne mit ihrem romantisch-aufklärerischen Anspruch geprägt sind, kommen der Soziologe Edgar Morin und der Begründer der französischen Filmologie Gilbert Cohen-Séat zu einer teilweise konträren Einschätzung. Sie stellen die mythenbildende Funktion stereotyper Formeln heraus und begreifen Stereotype und Archetypen als Mittel der Kommunikation und der Kognition. Claude Lévi-Strauss' strukturalistischer Mythentheorie nahestehend, greifen sie einerseits neueren Forschungsansätzen zum Genrefilm vor. Andererseits prägen die beiden Autoren Konzepte, die sich an das Modell einer Filmsprache anlehnen und die unmittelbar zur Filmsemiotik überleiten.
In seiner Erörterung der ideologiekritischen Reflexion filmischer Stereotype wechselt Schweinitz seine methodische Perspektive, indem er eine Analyse von Sergio Leones "C'era Una Volta Il West" (Spiel mir das Lied vom Tod, 1968) in den Mittelpunkt der Ausführungen stellt. Auf diese Weise gelingt es ihm, die fließenden Grenzen zwischen modernistischer Kritik am Stereotyp und postmodernem Spiel mit ironisch gebrochenen Konventionen zu erfassen. Zugleich stellt sich eine neue Faszination am Stereotyp ein, die Susan Sontag in den Begriff des camp gefasst hat. Die Linie, die von der kritischen Reflexion überkommener Konventionen hin zu einem freien Spiel mit Konventionshüllen führt, zeichnet Schweinitz in den abschließenden Fallstudien noch einmal nach.
"Film und Stereotyp" stellt ein dichtes Gefüge von Argumenten dar, das der Komplexität der Diskurse angemessen ist. Problematisch erscheint, dass sämtliche Fallstudien an nach 1970 uraufgeführten Filmen des Kunstkinos - Filme von Robert Altman und den Coen-Brüdern - durchgeführt werden. Die Reflexion ist hier erwartungsgemäß Programm, wohingegen die Werke des klassischen Kinos zumeist pauschal abgehandelt werden. Dennoch zeigt die diskursgeschichtliche Untersuchung aufschlussreiche neue Aspekte und Querverbindungen filmtheoretischer Klassiker auf. Schweinitz weist zudem auf einige vernachlässigte, aber dennoch bedeutsame Texte hin, wie René Fülöp-Millers "Die Phantasiemaschine. Eine Saga der Gewinnsucht" (1931). Zugleich erschließt das Buch einen Bereich in seiner historischen Dimension, der für die Filmforschung durch die Zitatstruktur vieler neuerer Filme unmittelbare Relevanz hat. "Film und Stereotyp" leistet damit eine wichtige theoriegeschichtliche Klärung und lenkt den Blick auf einen bislang zu wenig beachteten, aber zentralen geistesgeschichtlichen und ästhetischen Zusammenhang.
Das freie Spiel mit Stereotypen im postmodernen Film, darauf weist Schweinitz zu Recht hin, ist jedoch kein historischer Endpunkt, ebenso wenig wie die Auffassung einer unbegrenzt fortsetzbaren Spirale der Interpretationen. Was als geschickt platzierter Stachel ins Fleisch autoritärer Empirismen gepflanzt wurde, hat sich inzwischen zu einer Art Glaubenssatz der Kulturwissenschaften entwickelt. Dass "Realität" nur noch in Anführungszeichen zu schreiben ist, ist paradoxerweise selbst zum Stereotyp geworden.
Henning Engelke