Andrew I. Port: Conflict and Stability in the German Democratic Republic, Cambridge: Cambridge University Press 2007, xix + 303 S., ISBN 978-0-521-86651-4, GBP 45,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Wolfgang Mühl-Benninghaus: Unterhaltung als Eigensinn. Eine ostdeutsche Mediengeschichte, Frankfurt/M.: Campus 2012
André Steiner (Hg.): Preispolitik und Lebensstandard. Nationalsozialismus, DDR und Bundesrepublik im Vergleich, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006
Thomas Schaufuß: Die politische Rolle des FDGB-Feriendienstes in der DDR. Sozialtourismus im SED-Staat, Berlin: Duncker & Humblot 2011
Jan Schönfelder / Rainer Erices: Willy Brandt in Erfurt. Das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen 1970, Berlin: Ch. Links Verlag 2010
Andreas Stirn: Traumschiffe des Sozialismus. Die Geschichte der DDR-Urlauberschiffe 1953-1990, Berlin: Metropol 2010
Ulrich Pfeil: Die "anderen" deutsch-französischen Beziehungen. Die DDR und Frankreich 1949-1990, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2004
Franz-Josef Meiers: Außen- und Sicherheitspolitik im geteilten Deutschland. Eine Verflechtungsgeschichte, Berlin: BeBra Verlag 2023
Kristina Spohr: Wendezeit. Die Neuordnung der Welt nach 1989, München: DVA 2019
Die DDR war einerseits einer der langlebigsten deutschen Staaten seit der Reichsgründung von 1871, andererseits fehlten ihr wesentliche Fundamente, die sie auf lange Sicht lebensfähig machen konnten - insbesondere eine auf einem breiten inneren Konsens beruhende Legitimität sowie ein loyalitätssteigernder wirtschaftlicher Wohlstand. Wie andere Historiker vor ihm fragt auch Andrew Port in seiner Studie primär nach den gesellschaftlichen Ursachen für diese rätselhafte langjährige Stabilität und kommt zu einigen originellen Einsichten.
Dabei konzentriert er sich zum einen zeitlich auf die ersten zwei Jahrzehnte der Existenz der DDR und zum anderen räumlich auf den Kreis Saalfeld, wo Trends und Entwicklungen "at the grass roots" greifbar seien, die auf übergeordnete gesellschaftliche und politische Prozesse verwiesen (6). Der Kreis Saalfeld sei mit seiner Mischung aus Industrie und Landwirtschaft zwar nicht typisch für die DDR als Ganzes, unterscheide sich aber auch nicht grundlegend von anderen Orten. Außerdem, so ergänzt er in einer Fußnote, habe er dort reichhaltiges Archivmaterial zur Beantwortung seiner Fragen gefunden. Eine Besonderheit weist Saalfeld freilich auf: Hier kam es bereits am 16. August 1951 - also zwei Jahre vor dem Volksaufstand vom Sommer 1953 - zu ersten Unruhen mit einer Massendemonstration.
Das Buch zerfällt in zwei Teile, wobei das Jahr 1953 die Zäsur darstellt. Im ersten Teil geht es zunächst um die Etablierung des sozialistischen Nachkriegssystems bis Anfang der 1950er Jahre. Danach folgt ein Kapitel über die dank anderer Veröffentlichungen Ports nicht mehr ganz unbekannten Ereignisse von 1951. Auslöser war die Verhaftung von einigen Wismut-Kumpeln in Saalfeld: Dies führte zu spontanen Protestkundgebungen, zu einem Gefängnissturm und anschließender Gefangenenbefreiung. Nach einem Tag waren die Proteste, nicht zuletzt wegen staatlicher Gegenmaßnahmen, verhallt. Da die Staats- und Parteiführung jedoch erkannte, dass sozioökonomische Ursachen für die Unruhen verantwortlich waren, reagierten sie nicht nur mit Repression, sondern auch mit sozialpolitischen Maßnahmen, die langfristig zu einer Privilegierung der Wismut-Beschäftigten gegenüber anderen Arbeitern führten. Obwohl der Aufstand vom 17. Juni 1953 in Saalfeld stärker politisch motiviert war als die Unruhen von 1951, waren dort weniger Menschen auf den Beinen als in anderen Regionen. Die Ursache lag zum Teil darin, dass die Saalfelder ihren "17. Juni" schon gehabt hatten; auch weigerten sich die relativ gut situierten Arbeiter der Maxhütte in Unterwellenborn, sich den streikenden Bauarbeitern anzuschließen, und hielten diese vor den Toren Saalfelds auf, so dass es in der Stadt relativ ruhig blieb.
Die Zäsur 1953 ist zwar für die geänderten Beziehungen zwischen sozialistischer "Obrigkeit" und Gesellschaft in mancherlei Hinsicht plausibel, da es nun zu einem unausgesprochenen historischen Kompromiss kam: Die politische Führung sah davon ab, die arbeitende Bevölkerung zu stark herauszufordern, und letztere erkannte, dass der Staat Massenproteste nicht tolerieren würde. Gleichwohl wird dadurch die Zäsur von 1961 für die DDR-Geschichte zu stark relativiert. Denn erst mit der Einmauerung der DDR waren die Menschen endgültig gezwungen, sich mit diesem Staat zu arrangieren; erst jetzt konnte die DDR-Führung mit ihren sozialistischen Projekten Ernst machen, da sie nun nicht mehr die dauernde Abwanderung ihrer Bürger in die Bundesrepublik befürchten musste. Die Relevanz dieses Ereignisses wird jedoch nur gestreift; in der bis 1961 offenen Grenze wird zudem ein eher stabilisierendes Element gesehen, da auf diese Weise die Anzahl der Unzufriedenen in der DDR reduziert worden sei. Andere Lesarten, etwa die, dass die Möglichkeit, die DDR verlassen zu können, auch offene Opposition begünstigt habe, diskutiert Port leider nicht.
Außerdem betont er die Grenzen der Repression nach 1953 zu stark. Die auch für Saalfeld relevante Literatur, etwa die Studie von Petra Weber [1], hat er nicht rezipiert; auch scheint ihm entgangen zu sein, dass politische Straftaten von Saalfeldern in der Regel vor dem 1A-Senat des Bezirksgerichts Gera abgeurteilt wurden. Schließlich macht er an zwei Stellen darauf aufmerksam, "that the rule of law was not entirely moribund in the GDR" (106, 188). Freilich kann man aus der Tatsache, dass von 50 vom MfS zwischen 1963 und 1965 angelegten operativen Vorgängen nur fünf zu Verhaftungen führten, nicht auf Rechtsstaatlichkeit schließen: Wann ein politischer Prozess geführt wurde, war nämlich keine Frage des Rechts, sondern der Opportunität. Zu Recht charakterisiert er jedoch die DDR als "Grumble Gesellschaft", die ständig murrte, sich aber nicht auflehnte und daher insgesamt kaum Sanktionen zu erwarten hatte.
Trotz weit verbreiteter Unzufriedenheit kam es also nach 1953 nicht mehr zu Massenprotesten, sondern die Verhältnisse stabilisierten sich. Auf der Suche nach den Ursachen dafür analysiert Port vor allem die Verhältnisse in den Betrieben. Hier zogen, anders als geplant, Betriebsleitung, Betriebsparteileitung und Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) oft nicht an einem Strang; zahlreiche BGL "refused to abandon entirely the classical functions of an industrial union" (153). Seiner These, dass die Funktionäre mit einer "intermediary role between the regime and the workforce" (163) sowohl von "oben" als auch von "unten" kritisiert wurden, daher keinen klaren Kurs zwischen Durchsetzung der Wirtschaftsziele und Vertretung der Arbeiterinteressen steuerten und gerade dadurch zu einem stabilisierenden Faktor wurden, ist sicher zuzustimmen.
Hinzu kam, dass die Arbeiter ihre eigenen materiellen Interessen relativ gut verteidigen konnten. Nach dem 17. Juni 1953 wurden wieder sogenannte "weiche", d. h. leicht (über)erfüllbare Normen eingeführt; insgesamt stiegen die Löhne deutlich an, ohne Berücksichtigung der Produktivität. Die Einführung des "Neuen Ökonomischen Systems der Planung und Leitung" war dabei lediglich ein retardierendes Element. Ein weit verbreiteter Arbeitskräftemangel und zahlreiche bürokratische Hemmnisse, die eine Betriebsleitung daran hinderten, Arbeiter zu entlassen, verschafften diesen eine relativ starke Stellung in den Betrieben. Die ökonomischen Auswirkungen waren zwar verheerend, das Unruhepotential ging dadurch aber zurück.
Als entscheidenden Grund für die lang anhaltende Stabilität - und darin besteht vor allem die innovative Leistung - sieht Port die Zerklüftung der Arbeiterschaft und der Gesellschaft. Die DDR-Gesellschaft, so seine Untersuchungsergebnisse, war eine gespaltene Gesellschaft. Die Betriebsbelegschaften waren nicht solidarisch, sondern geprägt durch "Schichtegoismus", ungleiche Prämienverteilung, die Unterscheidung von "Modellbrigaden" und normalen Brigaden sowie die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz. In der Mangelgesellschaft waren ebenfalls die Unterschiede entscheidend: zwischen den Arbeitern und der privilegierten Intelligenz, zwischen Menschen mit und ohne Westverwandtschaft, zwischen den Bewohnern von Altbauwohnungen und modernen Neubauwohnungen sowie zwischen Männern, die die tendenziell besser bezahlten Berufe ausübten, und Frauen, die nicht nur in den als weniger wichtig angesehenen Industriezweigen zu schlechteren Bedingungen arbeiteten, sondern zudem neben dem Beruf noch als Mutter und Hausfrau tätig sein und sich gesellschaftspolitisch engagieren mussten. Da die Gesellschaft keinerlei Kohäsionskraft besaß, sondern fragmentiert war, dachte der Einzelne vorwiegend an sich und sein persönliches Umfeld. Dies war sicher nicht von der SED-Führung beabsichtigt, sondern ein nicht intendierter Nebeneffekt ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik; gleichwohl hielt deren entsolidarisierende Wirkung die Menschen davon ab, sich nach 1953 noch einmal kollektiv gegen die Staatsmacht aufzulehnen. Indem Port diesen bisher unterbelichteten Aspekt der DDR-Gesellschaft hervorhebt, entlarvt er nicht nur die zählebige Legende von der ostdeutschen "Notgemeinschaft", sondern liefert auch eine weitere Erklärung für die auf den ersten Blick so rätselhafte Stabilität der DDR.
Anmerkung:
[1] Petra Weber: Justiz und Diktatur. Justizverwaltung und politische Strafjustiz in Thüringen 1945-1961, München 2000.
Hermann Wentker