Anette Baumann / Peter Oestmann / Stephan Wendehorst u.a. (Hgg.): Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen - Fallstudien - Statistiken (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 50), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005, VIII+211 S., ISBN 978-3-412-28905-8, EUR 34,90
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Der vorliegende Band ging hervor aus einer 2004 in Wetzlar abgehaltenen Tagung "[...] zu richten nach des Reichs gemeinen Rechten. Höchstrichterliche Rechtsprechung im Alten Reich", die das "Netzwerk für Reichsgerichtsbarkeit" und die Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung gemeinsam veranstalteten.
Einleitend skizziert Peter Oestmann (1-15) den Forschungsstand zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Er kann einen Wandel in der Beschäftigung mit der Reichsgerichtsbarkeit ausmachen, den er in drei Phasen untergliedert: Die erste Phase setzt im 19. Jahrhundert mit der Aufarbeitung eindrucksvoller Einzelrechtsfälle ein. Die Entstehungszeit der immer noch grundlegenden Institutionengeschichte Rudolf Smends zum Reichskammergericht (RKG), erschienen 1911, und der ähnlich ausgerichteten Studie Oswald von Gschließers zum Reichshofrat (RHR), erschienen 1942, markiert die zweite Phase. Die heute noch anhaltende dritte Phase beginnt mit der Neuausrichtung der Frühneuzeitforschung in den 1960er Jahren und ist durch eine verstärkte Hinwendung zu den archivalischen Quellen sowie deren planmäßige Erschließung gekennzeichnet.
Das Ziel des Sammelbandes ist es nun, "den Blick wieder gezielt auf die eigentlichen Aufgaben der Reichsjustiz [...]" (5), also auf die Prozesspraxis der beiden höchsten Gerichte im Reich zu werfen. Dabei spiegeln die einzelnen Beiträge die jüngste Tendenz in der Reichsgerichtsforschung wider, bei der Erschließung und Erforschung der Aktenbestände der beiden höchsten Gerichte quantitative Auswertung mit qualitativen Ansätzen zu verbinden. Thematisch können die Beiträge in drei große Blöcke eingeteilt werden.
Einen ersten Block bilden die verfassungsrechtlich ausgerichteten Studien Niels Meurers und Bernd Marquardts. Meurer leistet mit seinen Ausführungen über "Die Entwicklung der Austrägalgerichtsbarkeit bis zur Reichskammergerichtsordnung von 1495" (17-52) einen Beitrag zur Entstehung des RKG in normativer Hinsicht. Er präpariert detailliert die entscheidende Rolle der mittelalterlichen Rechtstradition der Austräge für den Fortgang der Reichsreform heraus. Meurer kann aufzeigen, dass auf Seiten der Stände und des Reichsoberhauptes konkrete politische Motive hinter der Diskussion um die Schaffung einer zentralen Gerichtsinstanz im Reich standen. Sie oszillierten zwischen dem Willen nach Aufbau und Abschließung einer Territorialherrschaft beziehungsweise der Sicherung der königlich-kaiserlichen Stellung als oberster Gerichtsherr im Reich. Dass die Austrägalgerichtsbarkeit in den Argumenten beider Seiten eine bedeutungsvolle, wenn auch ambivalente Rolle spielte und auf diese Weise ihren widersprüchlichen Platz in der RKG-Ordnung fand, ist dabei die Kernthese Meurers.
Marquardts Ausführungen "Zur reichsgerichtlichen Aberkennung der Herrschergewalt wegen Missbrauchs: Tyrannenprozesse vor dem Reichshofrat am Beispiel des südöstlichen schwäbischen Reichskreises" (53-89) zeigen anhand dreier Prozesse gegen die kaisertreuen Reichsgrafen Hohenems auf, welche brisanten politischen Entscheidungen der RHR zu treffen hatte, wenn ein Fürst seine Herrschaftsaufgaben missbrauchte. Dabei konnte insbesondere der RHR ein kaiserliches Instrument gegen absolutistischen Despotismus sein. Marquardt kommt zu dem Ergebnis, dass in der Reichsverfassung für einen schrankenlosen Despotismus im 18. Jahrhundert kein Raum bestand. Gegen die frühere These, die Reichsstände hätten durch den Westfälischen Frieden von 1648 ihre volle Souveränität erlangt, lassen sich folglich auch auf der Ebene reichsgerichtlicher Prozesspraxis gewichtige Argumente anführen (54ff.). Eine eindrucksvolle Aufzählung sämtlicher Reichsexekutionen gegen Reichsfürsten zwischen den Jahren 1495 und 1806 im Anhang verdeutlicht dies und stellt die in der älteren Forschung geäußerten Zweifel an der Exekutionsfähigkeit reichsgerichtlicher Urteile in Frage.
Die hier lediglich angerissenen Thesen Marquardts verdienen eine Einordnung in die Diskussion um das Wesen des Alten Reiches als "komplementären Reichs-Staat" (Georg Schmidt) oder als "teilmodernisiertes System" (Heinz Schilling). [1] Von Interesse ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass Marquardt dem RHR große politische Bedeutung beimisst.
Zwei Aufsätze, die an die Studien Filippo Ranieris und Anette Baumanns anknüpfen [2], bilden den zweiten thematischen Schwerpunkt des Sammelbandes. Hier stehen die Möglichkeiten der Quantifizierung beziehungsweise Neuverzeichnung von Reichsgerichtsakten im Vordergrund.
So beschäftigt sich Christian Wieland (91-118) auf der Grundlage der Archivbestände im Haupt- und Staatsarchiv München in einer quantifizierenden Analyse mit den Verfahren bayerischer Landadliger am Reichskammergericht während des 16. Jahrhunderts. Den Schwerpunkt legt der Verfasser in offener Anlehnung an oben erwähnte Autoren auf eine sozialgeschichtliche Zugangsweise. Nach einer exakten Umschreibung dessen, was unter Landadligen zu verstehen sei, folgt eine Vielzahl von Tabellen, in denen der Verfasser seine Befunde vorstellt. Die zentrale, jedoch leider nicht weiterausgeführte Hypothese besteht in der Feststellung, dass die Präsenz vor Gericht "repräsentiertes, indirektes Kommunizieren mit dem Justizsystem" (102) bedeutet habe. Wenn Wieland feststellt, dass "der Adel den veränderten Strukturen der Konfliktregelung [...] im Gefolge eines anonymen Prozesses nicht einfach ausgesetzt war, sondern vielmehr auf sehr flexible Weise die verschiedenen Möglichkeiten der Interessenswahrnehmung erkannte und nebeneinander in Anspruch nahm [...]", so leistet seine Untersuchung einen wesentlichen Beitrag zum jüngst intensiv diskutierten Konzept der Justiznutzung (117ff.). Die Frage, welche politischen Implikationen dieser Befund für das Verhältnis von Landesherr und Landadel hatte, wird allerdings nicht deutlich genug gestellt.
Kathrin Dirr und Torsten Joecker (119-136) berichten über ein langfristiges Forschungsprojekt an der Ruhr-Universität Bochum, in dessen Rahmen die in den Archivinventaren verzeichneten Reichskammergerichtsprozesse in einer computergestützten Datenbank erfasst werden. Dabei grenzen sich die Autoren dezidiert von den bisherigen Studien Ranieris und Baumanns ab. Nach Abschluss der Erfassung aller Reichskammergerichtsverfahren soll beispielhaft aufgezeigt werden, wie oft Reichsstädte vor dem Reichskammergericht aufgetreten sind.
Hinsichtlich der Erstellung einer Datenbank besteht mit den "Wolf'schen Repertorien" im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien bereits ein richtungsweisendes Beispiel für die computergestützte Verzeichnung. Die Auswertung serieller Quellen mithilfe von quantitativen Methoden kann dabei aber nur eine Annäherung an die gewählte Fragestellung sein. Richtig ist, worauf Peter Oestmann hinweist: "Die Datenbank kann in keinem Fall besser sein als die Repertorienbände und darf den Gang ins Archiv nicht ersetzen. Vielmehr sollte das Projekt zum Gang ins Archiv ermuntern, weil der Weg zu einzelnen Akten erheblich erleichtert wird [...]." (12)
Die zwei letzten Beiträge bilden wiederum eine thematische Einheit. Sie rekonstruieren minutiös aufschlussreiche Fallbeispiele und zeigen eindringlich den Wert von Tiefenbohrungen anhand von Gerichtsakten im Kontrast zu ausschließlich quantifizierenden Ansätzen.
Stefan Breit setzt das am Beispiel des peinlichen Verhörs der Katharina Widemann (137-180) mithilfe kultur- und mentalitätsgeschichtlicher Fragestellungen um. Bei dem von ihm untersuchten Fall handelt es sich um einen Ehebruchsprozess aus der Stadt Weiden. Sein Beitrag liest sich als eine beispielhafte Anamnese gängiger Argumentations- und Handlungsstrategien der Prozessparteien auch gegenüber Repräsentanten der Macht. Vor allem der Zusammenhang von Justiz und Politik in der Frühen Neuzeit erscheint hier evident: Es ging darum, den eigenen Landeskindern gerechte Justiz angedeihen zu lassen, um deren Weg zu externen Gerichten überflüssig zu machen. Die Abschließung des Territoriums und die Bindung der Untertanen an den Fürsten war das Ziel.
Manfred Hörner geht im letzten Beitrag des Bandes einem "Brudermord und Ehezwist" am Reichskammergericht nach (181-211). Er schildert einen Mordfall, an welchen sich mehr als ein Dutzend Prozesse anschlossen.
Insofern verdeutlichen alle Fallbeispiele, dass Untertanen im Alten Reich - von Rom bis ins Brabantische - Kenntnisse der Gerichtslandschaft besaßen und diese erfolgreich zu benutzen gewillt waren. In diesem Sinne stellen die Beiträge von Marquardt und Breit das tradierte Bild vom absolutistischen Territorialstaat infrage. Insgesamt verweist der Band auf die politische Relevanz von frühneuzeitlicher Gerichtsbarkeit auf Reichs- und Landesebene, deren weitere Erforschung sehr zu wünschen ist.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Georg Schmidt: Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München 1999; Heinz Schilling: Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem? Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reiches, in: HZ 272 (2001), 377-395; Georg Schmidt: Das frühneuzeitliche Reich - komplementärer Staat und föderative Nation, in: HZ 273 (2001), 371-399.
[2] Filippo Ranieri: Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, 2 Bde. (=Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 17), Köln, Wien 1985; Anette Baumann: Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse (=Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 36), Köln, Weimar, Wien 2001.
André Griemert