Peter Oestmann: Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich. Zuständigkeitsstreitigkeiten und Instanzenzüge (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 61), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012, XVIII + 859 S., ISBN 978-3-412-20865-3, EUR 69,90
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Anette Baumann / Peter Oestmann / Stephan Wendehorst u.a. (Hgg.): Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen - Fallstudien - Statistiken, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Das vorliegende Buch des Rechtshistorikers Peter Oestmann nimmt eine grundsätzliche Frage der Frühneuzeitforschung in Angriff: Wie grenzten sich verschiedene Gerichte in einem Territorium voneinander ab und wo oder wie trafen sie aufeinander? Der Band bietet hierzu keine Gesamtschau, vielmehr werden zehn norddeutsche Territorien bearbeitet. Kernproblem ist dabei die Auseinandersetzung um die Abgrenzung der sachlichen und persönlichen Zuständigkeit geistlicher und weltlicher Gerichte.
Fragen zur Zuständigkeit von Gerichten, vor allem der Höchstgerichtsbarkeit, und die Abgrenzung zu anderen Gerichten im alten Reich waren schon vor einiger Zeit Thema in der Forschung. Bände wie "Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung" [1] und "Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich" [2] zeugen davon. Dabei zeigte sich schon damals, dass territoriale Zuordnungen zum Teil problematisch sind, denn in der Frühen Neuzeit wird in einzelnen Herrschaftsrechten und nicht in Territorien gedacht. Vielgestaltigkeit war das zentrale Merkmal.
Oestmann untersucht in seinem Werk nicht abstrakte Zuständigkeitsregeln oder Normen, sondern - und das ist bei Rechtshistorikern nicht selbstverständlich - er lässt die Prozessakten selber zu Wort kommen. Der Autor will die Rechtspraxis untersuchen, da er es für schwierig beziehungsweise unmöglich hält, eindeutig normative Regelungen zu rekonstruieren. Grundlage für diese Vorgehensweise ist seine These: "eine gefestigte Gerichtspraxis konnte nach vormodernem Verständnis nie rechtswidrig sein" (33).
Alle Fallbeispiele verbindet, dass sie vor dem Reichskammergericht geführt wurden und sie aus Territorien stammen, die nicht von der Reichsjustiz eximiert oder durch Appellationsprivilegien davon abgekoppelt waren (15): Münster, Osnabrück, Hildesheim, Lübeck, Mecklenburg, Schleswig-Holstein-Lauenburg, Lippe, Hamburg und Jülich Berg, also völlig unterschiedliche Territorien mit katholischer, reformierter und lutherischer Prägung. Hinzu kommt, dass es sich z. B. bei Jülich Berg und Münster zum Teil um Nebenländer handelte. Der Autor stellt zudem fest, dass er keine quantitativen Ziele verfolgt und betont, dass er den Reichshofrat nur bei Bedarf miteinbezieht, da die Überzahl der Reichskammergerichtsverfahren nach Sichtung des Vatikanischen Archivs offensichtlich sei (23). Zudem weist er auf die fehlende Verzeichnung des Reichshofrates hin. "Umfassende Sichtungen der Überlieferungen im Wiener Archiv könnten das Bild aber sicherlich weiter verfeinern (23)". Diese Einschätzung teilt die Rezensentin nicht. Die alleinige Sichtung der Akten eines der höchsten Reichsgerichte kann immer nur ein Teilbild einer sehr komplexen Situation liefern. Wir wissen noch immer viel zu wenig über den Reichshofrat, um eine solche Abschätzung wagen zu können. Zudem macht Oestmann den Stellenwert des Vatikanischen Archivs nicht deutlich.
Für seine Untersuchung nimmt sich der Autor jedes der Territorien ausführlich vor und analysiert dort detailliert die einzelnen Prozesse. Dabei bleiben Wiederholungen nicht aus. Die Vielgestaltigkeit des frühneuzeitlichen Reiches wird kompetent und anschaulich gezeigt, allerdings läuft der Leser häufig Gefahr, angesichts der vielen Details die Übersicht zu verlieren. Eine Beschränkung auf wenige Beispielfälle hätte dem Werk sehr gutgetan.
Trotzdem: Oestmanns Ergebnisse können sich sehen lassen. Er stellt fest, dass es in allen untersuchten Territorien ein einheitliches Repertoire an Argumentationsmustern gab. Dabei spielten die Konfessionen keine Rolle, vielmehr war gerade im 16. Jahrhundert eine konfessionelle Zuordnung der Prozessparteien sehr schwierig. Teilweise herrschte in bestimmten Zuständigkeitsfragen in einem Territorium Einigkeit, so darüber, dass z. B. das Münsteraner Offizialat ein ganz reguläres Zivilgericht sei (721). Interessant ist auch, dass sich Mecklenburger Gerichtsakten weit stärker durch eine religiös-emotionale Argumentation auszeichneten als die Akten aus den übrigen Territorien. Oestmann kann auch feststellen, dass sich katholische und evangelische Territorien im Wechselspiel zwischen Reich und Territorium erheblich unterschieden. So zeigte der unmittelbare Appellationsweg an das Reichskammergericht in katholischen Territorien die Reichsstandschaft der Landesherren an. Bei protestantischen Territorien war dies nicht der Fall. Sie besaßen dagegen in Konsistorialsachen ein Appellationsverbot, was ihre Eigenständigkeit stärkte. Die Territorialisierung der Justiz diente so dem Staatswerdungsprozess, was umso besser gelang, wenn auswärtige Gerichte keinen Einfluss in dem Territorium ausübten (680).
Unberücksichtigt bleibt dabei aber, dass Manfred Hörner schon 2005 in Bezug auf süddeutsche Territorien darauf hingewiesen hat, dass Konfessionen keine Rolle spielten (719 ff.). [3] Und die Tatsache, dass religiöse Argumente in den Prozessen fehlen und die Parteien bzw. ihre Vertreter "ergebnisorientiert" (736) argumentierten, ist nun auch nicht vollkommen neu. Schließlich ist dies seit der Untersuchung der Religionsprozesse vor dem Reichskammergericht bekannt. Es ging immer um zivilrechtliche Streitigkeiten infolge von Religionskonflikten, aber nie oder nur um die Religion selbst. [3]
Oestmann geht auch nur am Rande auf die These der Justiznutzung durch die Kläger und Beklagten ein. Er hält die Vorstellung, dass sich die Prozessparteien verschiedener Möglichkeiten der Streitschlichtung bewusst waren und entsprechend handelten, für "Denken um drei Ecken" (725). Schade, dass hier nicht wenigstens der Versuch unternommen wird, von den Prozessbeteiligten statt vom Gericht her zu denken und eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Konzept ausbleibt. So wird auch in der Literaturliste der Aufsatz von Manfred Hörner "Brudermord und Ehezwist. Die Reichskammergerichtsprozesse der Brüder Gregor und Augustin Einkürn" [4] nicht erwähnt. Ein weiterer Punkt fällt zudem auf: Der Autor beurteilt Vorgänge und Sachverhalte fast ständig mit den Worten "erstaunlich" oder "bemerkenswert" und führt die an diesen Stellen offensichtlich notwendige Interpretation nicht weiter.
Insgesamt bleibt bei der Sichtung des enzyklopädisch anmutenden Werkes ein etwas ambivalentes Bild. Brillante juristische Untersuchungen der einzelnen Prozessfälle, wobei allein schon die Fülle der untersuchten Fälle Bewunderung hervorruft, stehen wenig didaktischem Geschick und wenig Bereitschaft gegenüber, sich auf aktuelle Forschungsdiskussionen und -erkenntnisse einzulassen.
Anmerkungen:
[1] Anja Amend / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal (Hgg.): Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung, Köln u.a. 2005 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 52).
[2] Anja Amend / Anette Baumann / Stephan Wendehorst / Steffen Wunderlich (Hgg.): Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich, München 2008 (Bibliothek Altes Reich, Bd. 3).
[3 ] z. B. Dietrich Kratsch: Justiz - Religion - Politik, in: Jus ecclesiasticum 39, Tübingen 1990
[4] Manfred Hörner: Brudermord und Ehezwist. Die Reichskammergerichtsprozesse der Brüder Gregor und Augustin Einkürn, in: Anette Baumann / Peter Oestmann / Stephan Wendehorst / Siegrid Westphal (Hgg.): Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen - Fallstudien - Statistiken, Köln u.a. 2005 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 50), 181-211.
Anette Baumann