Peter Blickle: Das Alte Europa. Vom Hochmittelalter bis zur Moderne, München: C.H.Beck 2008, 320 S., 16 Abb., ISBN 978-3-406-57171-8, EUR 24,90
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Es war vorhersehbar, dass Donald Rumsfelds wohl nur mäßig vorbedachte Äußerung zum "Alten" Europa, dem jetzt ein "Neues" gegenüberstehe, bis in die Geschichtswissenschaft hinein ihre Kreise ziehen würde - der Gedankensprung vom (politisch gemeinten) "Alten Europa" zu dem geschichtswissenschaftlichen Paradigma "Alteuropa" war denn auch zu nahe liegend. Aber Rumsfelds Diktum schließt das neue Buch Peter Blickles letztlich nur - gewissermaßen als Blickfang - ein.
Man wird der Monografie am ehesten gerecht, wenn man in ihr die (vorläufige) summa eines Gelehrtenlebens sieht, das, immer in Fragestellungen und Zugriffen der longue durée, nach den forces profondes fragte, den Kräften und Strukturen, die eine Gesellschaft zusammenhielten und sie unverwechselbar machten, eben spezifisch europäisch. Das sind, mit wenigen Schlagworten, das Haus, also eine Organisationsform, die die verschiedenen Teile der Gesellschaft - Bauern, Bürger, Adel - horizontal miteinander verbindet und gleichzeitig Hierarchisierungen ermöglicht, Solidarität und Recht, die aus einer Mehrzahl von Häusern eine Gemeinde machen und gemeinverträgliche Organisation ermöglichen, das ist, ein aufregend neuer Gedanke, die Ethik des Mitleidens, die sich direkt auf Christus zurückführt, der gleichzeitig als Inkarnation des gegen herrschaftliche Unterjochung gerichteten Freiheitsbegriffs stilisiert und gesehen wird. Manche der Themenfelder, die hier unter dezidiert systematischen Fragestellungen behandelt werden, etwa die Lehre und die Praxis des "Hauses", den Kommunalismus, das gemeineuropäische Phänomen des Aufruhrs, hat Blickle in anderen Zusammenhängen schon näherhin aufgearbeitet - sie hier, auch mit z.T. neuem Quellenmaterial, neu zusammengefügt zu haben, ist eine auch darstellerische Glanzleistung und lässt mich von der summa sprechen.
Das Ganze zielt auf die (spannende) Frage, worin die spezifischen Signaturen des Alten Kontinents gründen und worin das "Vermächtnis" der europäischen Vormoderne an die Moderne besteht. Frieden, Ordnung und Freiheit sind für Blickle die Schlüsselbegriffe, die sich ausnahmslos - wenigstens der Sache nach - im ausgehenden Mittelalter generierten, in der Neuzeit zwar oft in die Defensive gerieten, aber auch den Umbruch von 1789 überdauerten und durch ihn sogar eine neue Dynamik gewannen.
Das auf einem hohen Reflexionsniveau angesiedelte und - bis in die Terminologie hinein (nicht jeder wird auf Anhieb wissen, was eine Koda ist) - höchst ambitionierte Buch hat inhaltlich seinen Schwerpunkt in Mittel- und Westeuropa, aber auch Skandinavien und Südeuropa finden erfreulich starke Berücksichtigung. Polen, Ungarn, Siebenbürgen treten demgegenüber, wohl v.a. aus sprachlichen Gründen, in der Argumentation und im wissenschaftlichen Belegapparat, deutlich zurück. An der Begrifflichkeit "Absolutismus" hält Blickle - vorläufig? - fest, sieht freilich die Schwächen und die Problematik des eingefahrenen Begriffs sehr deutlich.
Blickles Buch ist ein Gewinn für die an den großen Linien und den strukturellen Gemeinsamkeiten ausgerichtete Frühneuzeitforschung, ganz gleich, ob man seine Ansätze und seine zuspitzende Begrifflichkeit ohne Einschränkung teilt. Vorangebracht haben sie - auch seine Kommunalismusthese - die Forschung ohnehin.
Heinz Duchhardt