Michael Epkenhans / Andreas von Seggern (Hgg.): Leben im Kaiserreich. Deutschland um 1900, Stuttgart: Theiss 2007, 176 S., 150 Abb., ISBN 978-3-8062-2030-8, EUR 34,90
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An Übersichtsdarstellungen zur Geschichte des Kaiserreichs besteht auf den ersten Blick kein Mangel. Nahezu jährlich erscheinen Synthesen, die den neuesten Forschungsstand präsentieren. Das Thema ist darüber hinaus gängiger Bestandteil von Schul- und Universitätsprüfungen. Die dabei zur Sprache kommenden Debatten sind etabliert und haben sich in den letzten Jahren nurmehr graduell verschoben. Allerdings klafft zweifellos eine Lücke auch zwischen den zugänglicheren Synthesen und gänzlich populären und weit vom Forschungsstand oder auch nur wissenschaftlicher Fragestellung entfernten populären Bänden zu 'Kaisers Zeiten'. Auf diese Lücke zielt der von Michael Epkenhans, Leiter der Otto-von-Bismarck-Stiftung und Andreas von Seggern, Mitarbeiter der Stiftung, verfasste vorliegende Band.
Dessen - durchaus qualitativ hochwertige - optische Erscheinung erinnert in ihrer Bildlastigkeit zunächst eher an das letztgenannte Genre. Für die beschreibenden Texte gilt dies allerdings nicht. Einer knappen Einleitung, die das Kaiserreich als wirtschaftlich modernes, aber in der gesellschaftlichen und politischen Struktur problembeladenes Gebilde charakterisiert folgen drei Kapitel, die in ihrer Schwerpunktsetzung aber auch in der Darstellung der jeweiligen Themen der neueren Forschung entsprechen. 'Der Obrigkeitsstaat' beschreibt die wesentlichen politischen Spieler zwischen Reichsgründung und Julikrise, weniger hingegen die zugrunde liegenden politischen Konstellationen. Im zweiten Abschnitt 'Aufbruch in die Moderne' wird der Fokus auf Gesellschaft, Wirtschaft und Alltagsleben gerichtet. Im letzten Kapitel stehen Kultur, Wissenschaft und Technik im Mittelpunkt. Die Unterabschnitte - etwa zur Stellung des Militärs im ersten Kapitel oder zu Berlin als Metropole im zweiten Kapitel, sind nicht nur reich illustriert, sondern werden jeweils durch eine knappe Quelle erweitert bzw. kommentiert. Illustrationen wie Quellentexte bieten viel Neues und teilweise sehr Originelles.
Die jeweils einige Seiten umfassenden beschreibenden Texte lesen sich gut, und den meisten Interpretationen, die in der Regel auf einer mittleren Linie zwischen den Forschungspositionen liegen, wird man sich anschließen können. Andererseits wird man auch kaum auf eine überraschende Ansicht oder wirklich neue Einsicht stoßen. Was der Band nicht liefert, sind ein wirklich weiterführendes Literaturverzeichnis - jenseits der sehr knappen Bibliographie -, eine Einordnung der Quellen oder eine kritische Kommentierung der zahlreichen - teils sehr suggestiven - Bilder. Forschungsdiskussionen werden allenfalls angedeutet, so dass auch die strukturellen Probleme des Kaiserreichs in ihrer Dynamik nur oberflächlich aufscheinen.
Gemessen am Ziel der Verfasser, ein "modernes Lesebuch" (9) vorzulegen, muss dies kein Mangel und kann kein Vorwurf sein. Der Anspruch, einem breiteren Publikum die Hauptlinien der Geschichte des Kaiserreichs auf dem Stand der aktuellen Forschung zu präsentieren wird zweifellos eingelöst. Der Band kann daher als Beispiel für die gelungene Popularisierung eines in der breiteren Öffentlichkeit nicht mehr im Zentrum des Interesses stehenden Stoffes und Darstellung zwischen den großen wissenschaftlichen Debatten und den Bedürfnissen einer wirklich breiten Leserschaft gelten. Zu hoffen ist, dass der Band in seinem durchaus problemorientierten Zugriff Interesse an der umfangreichen neueren Forschung zum Kaiserreich wecken wird.
Martin Kohlrausch