Hans-Thomas Tillschneider: Die Entstehung der juristischen Hermeneutik (uṣūl al-fiqh) im frühen Islam (= Arbeitsmaterialien zum Orient; Bd. 20), Würzburg: Ergon 2006, 227 S., ISBN 978-3-89913-528-2, EUR 30,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Chase F. Robinson (ed.): The Formation of the Islamic World. Sixth to Eleventh Centuries, Cambridge: Cambridge University Press 2010
Wilhelm Heitmeyer (Hg.): Deutsche Zustände. Folge 9, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2011
Georg Ostrogrosky: Byzantinische Geschichte 324 bis 1453, München: C.H.Beck 2006
Felix Konrad: Der Hof der Khediven von Ägypten. Herrscherhaushalt, Hofgesellschaft und Hofhaltung 1840-1880, Würzburg: Ergon 2008
Jonathan Brown: The Canonization of al-Bukhārī and Muslim. The Formation and Function of the Sunnī Ḥadīth, Leiden / Boston: Brill 2007
Kerstin Hünefeld: Imām Yaḥyā Ḥamīd ad-Dīn und die Juden in Sana'a (1904-1948). Die Dimension von Schutz (Dhimma) in den Dokumenten der Sammlung des Rabbi Sālim b. Saʿīd al-Ǧamals, Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2010
Detlev Kreikenbom / Franz-Christoph Muth / Jörn Thielmann (Hgg.): Arabische Christen - Christen in Arabien, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2007
Formen Kulturen oder Religionen autoritative Texte, so stellt sich beinahe sofort die Frage, wie man nach dem Erkennen von inneren Widersprüchen mit diesen umgeht. Die einfachste Möglichkeit ist, Widersprüche stillschweigend zu übergehen. Eine intellektuell anspruchsvollere Alternative besteht darin, frühere Regelungen durch spätere als überholt zu erklären (Abrogation, nasḫ), wobei dann die Entstehungszeit der einzelnen Regelungen bestimmt werden muss. Eine dritte exegetische Möglichkeit kann sein, eine Regelung durch eine andere einzuschränken, um so beide Regelungen weitgehend beizubehalten. Bei dieser Methode ist es erstens wichtig, die allgemeinere der beiden Regelungen zu erkennen, die dann durch die speziellere eingeschränkt wird, und zweitens Kriterien zu entwickeln, wie diese Einschränkung durchgeführt wird.
In der hier zu besprechenden Monographie, der überarbeiteten Fassung seiner Magisterarbeit (V), beschäftigt sich Hans-Thomas Tillschneider vornehmlich mit der dritten Methode, die er "'āmm/ḫāṣṣ-Exegese" nennt: Das heißt die Exegese von der allgemeinen ('āmm) und der speziellen Bedeutung (ḫāṣṣ) von textlichen Aussagen. So kann gleichzeitig die Reichweite juristischer Begriffe bestimmt werden. Die autoritativen Texte, um die es sich im Kontext des Islam handelt, sind der Koran und die lange nach dem Koran fixierten Überlieferungen über die Taten und Aussprüche des Propheten Muḥammad, die sunna. Muslimische Juristen fragten sich, wie man aus widersprüchlichen Anweisungen des Koran Recht ableiten kann oder ob man Begriffe in Koran und sunna allgemein oder eingeschränkt zu verstehen hat.
Wie der Titel zeigt, handelt es sich bei diesem Werk und ein (islam-) juristisches Werk, das einen rechtshistorischen Ansatz verfolgt und für den allgemeinarbeitenden Historiker mit europäischem Schwerpunkt weniger von Belang ist. Für Islamwissenschaftler und Rechtshistoriker hingegen bietet dieses Werk eine gut lesbare und sehr lehrreiche Möglichkeit, sich mit einer bedeutenden Exegesetechnik des Islam zu beschäftigen, die Tillschneider am Beispiel der Juristen Muḥammad b. Idrīs aš-Šāfi'ī (g. 240/820) und Abū Bakr al-Ǧaṣṣāṣ (g. 370/980) dargestellt. aš-Šāfi'ī war der erste, der in seiner ar-Risāla ("Das Sendschreiben") die 'āmm/ḫāṣṣ-Exegesetechnik im juristischen Kontext entwickelt hat (9), während al-Ǧaṣṣāṣ mit seinem Fusūl fī 'l-uṣūl al-fiqh ("Die Kapitel über die Prinzipien des (Text-) Verständnisses") das älteste Traktat klassischen Stils vorgelegt hat, das eine ausgefeilte hermeneutische (juristische) Theorie vorlegt und in dem verschiedene Exegeseregeln und deren Begründungen diskutiert werden (72). aš-Šāfi'ī und al-Ǧaṣṣāṣ markieren somit Beginn und Reifestadium der juristischen Hermeneutik im Islam.
Bevor der Autor beide Werke einer tiefgründigen Analyse unterzieht, schildert er in dem ersten Kapitel (13-30) die vorjuristische, rein theologische Form der 'āmm/ḫāṣṣ-Exegesetechnik, die den intellektuellen Vorläufer der späteren Praxis bildet. Die Begriffe 'āmm und ḫāṣṣ werden im tafsīr (z.B. bei Muqātil b. Sulaymān, g. 150/767) gebraucht und vor allem in dem Zusammenhang mit den Drohversen diskutiert. Die Frage, ob man allgemein formulierte Begriffe (z.B. im Koran) mit einem allgemeinen Sinn verstehen soll, wurde prinzipiell auf zwei Arten beantwortet: Erstens, man stimmt der Aussage zu - das taten die Mu'taziliten -, oder man sagt, wir wissen es nicht so genau und entscheiden im Einzelfall nach näher zu bestimmenden Kriterien - das taten die Murǧi'iten. Beide Positionen entfalteten eine große Wirkmacht innerhalb der islamischen Geistesgeschichte.
Das zweite Kapitel (31-69) stellt dar, wie aš-Šāfi'ī beide theologischen Positionen aufgriff und das theoretische Fundament für eine juristische Verwendung der 'āmm/ḫāṣṣ-Exegesetechnik legte. Sein primäres Ziel lag darin, die prophetische sunna als zweite Quelle des islamischen Rechts zu etablieren. Das erreichte er mit Hilfe der 'āmm/ḫāṣṣ-Exegesetechnik, indem er sie so konzipierte, dass der allgemeine Wortlaut (des Korans) nicht zwingend einer Auslegung bedarf, aber bei Bedarf ohne besondere Legitimation ausgelegt werden kann. So konnte er Widersprüche zwischen Koran und sunna lösen, indem diese den koranischen Allgemeinbegriff entweder bestätigte oder aufzeigte, dass dessen größerer bzw. kleinerer Teil gemeint ist (40). Ist der größere Teil des Allgemeinbegriffs gemeint, so hat die Auslegung die Struktur einer Ausnahme (d.h. die Exegese zeigt, was nicht gemeint ist), ist der kleinere Teil gemeint, so hat sie die Struktur einer Spezifikation (d.h. die Exegese zeigt nur den kleinen Teil, der gemeint ist).
Im dritten Kapitel (71-162) analysiert Tillschneider al-Ǧaṣṣāṣ'juristische Hermeneutik bzw. dessen Gebrauch der 'āmm/ḫāṣṣ-Exegesetechnik und ordnet al-Ǧaṣṣāṣ' System in den Kontext seiner Zeit ein, indem er es mit den Grundpositionen der šāfi'iten und māturīdischen Ḥanafiten in einer sehr anschaulichen tabellarischen Darstellung vergleicht (161-162).
Al-Ǧaṣṣāṣ ist im entscheidenden Unterschied zu aš-Šāfi'ī der Meinung, dass der allgemeine Wortlaut alle Elemente seiner Begriffsmenge enthält ('āmm) und er es somit ermöglicht, sicheres Wissen daraus abzuleiten. Widersprüche in den autoritativen Texten dürfen nicht einfach durch Auslegung gelöst werden, da sonst in die Begriffsmenge des allgemeinen Wortlauts (und damit letztlich in die Intention Gottes) eingegriffen wird. Der allgemeine Wortlaut darf nur mit besonderer Legitimation eingeschränkt werden. Die Legitimation, um widersprüchliche Texte auslegen zu dürfen, - Tillschneider spricht von "Erklärungsbedarf" - findet sich entweder auf den Ebenen des Wortlautes und des Textumfeldes ("offensichtlicher Erklärungsbedarf") oder des Großkontextes von Koran und sunna ("verborgener Erklärungsbedarf").
Darf der Jurist widersprüchliche Texte auflösen, so sollte er versuchen, sie auf den ersten beiden Ebenen zu lösen. Gelingt dies nicht, so muss er auf der Ebene des Großkontextes alle juristisch relevanten Aussagen des Korans und der sunna zu einer Fragestellung isolieren und diese durch Herstellung von Kohärenz (d.h. widerspruchsfrei) neu verbinden. Kommt es bei dieser Kohärenzherstellung der Texte zu (den erwarteten) Widersprüchen, geht al-Ǧaṣṣāṣ zuerst von einer Abrogation einzelner Teile auf. Nur wenn beide widersprüchlichen Texte (der mit allgemeinem Sinn und der mit eingeschränktem Sinn) gleichzeitig entstanden sind oder die Offenbarungszeit beider Texte unbekannt ist, darf der Jurist eine nichtgemeinte Ausnahme vom allgemeinen Sinn (=Partikularisierung, taḫṣīṣ) zulassen. Damit zeigt die Partikularisierung, dass ein allgemeiner Wortlaut schon zum Zeitpunkt seiner Äußerung nur eine eingeschränkte Bedeutung hatte.
Das vierte Kapitel (163-175) beleuchtet den theologischen und juristischen Diskurs, in dem die Begriffe 'āmm und ḫāṣṣ gebraucht wurden, und den gegenseitigen Einfluss beider Diskurse aufeinander, während das fünfte Kapitel (177-188) der Frage nachgeht, ob man nach Auffassung der Juristen historische Kontexte (beispielsweise die Überlieferungen zu den Anlässen der Offenbarung, asbāb an-nuzūl) als Einschränkungen für Allgemeinbegriffe im Koran heranziehen darf. Während die asbāb bis ins 2. Jahrhundert hiǧra als einschränkendes exegetisches Argument herangezogen wurden, werden sie mit der Entstehung der juristischen Hermeneutik bei aš-Šāfi'ī (ebenso wie später bei al-Ǧaṣṣāṣ) nicht mehr als Argument anerkannt. So erfuhr nach Tillschneider das Recht, das früher aus Präzedenzfällen bestand, eine Verengung auf einen allgemein anerkannten Textkorpus (187).
Diesen Prozess der Kanonisierung beschreibt Hans-Thomas Tillschneider in dem sechsten Kapitel (189-210), in dem er auch seine Hauptthese entwickelt und die Stellung der juristischen Hermeneutik (uṣūl al-fiqh) auf folgende Weise erklärt: "Es ist daher nicht zuviel gesagt, wenn man annimmt, dass die Entwicklung der juristischen Hermeneutik aus der Diskussion um die 'āmm/ḫāṣṣ-Exegese ihre entscheidenden Anstöße erhalten hat" (210).
Den Kanonisierungsprozess beschreibt Tillschneider wie folgt: In einer vorkanonischen Phase, die bis ins späte 2. Jahrhundert reicht, sind der Koran und die sunna noch keine kanonischen Texte der juristischen Rechtsfindung. Die sunna des Propheten war noch nicht voll entwickelt, der Koran konkurrierte in der Rechtssprechung mit lokalen Rechtspraktiken und einem individuellen Richterrecht. Eine juristische Form der 'āmm/ḫāṣṣ-Exegesetechnik gab es noch nicht.
Die Kanonisierung findet mit aš-Šāfi'īs Wirken und seiner neu entwickelten 'āmm/ḫāṣṣ-Exegesetechnik statt, mit deren Hilfe er die Widersprüche zwischen den textlichen Rechtsquellen aufgehoben hat. So entsteht ein Paradigmenwechsel, eine "exegetische Wende" (196), durch welche Koran und Propheten-sunna als unveränderbare Textkorpora ein erhöhter Rang zugesprochen wurde. Mit der Kanonisierung ist eine juristische Argumentation nur noch auf Grundlage dieser Texte erlaubt. Hauptgründe für die Kanonisierung sieht Tillschneider in einer politischen Destabilisierung zu aš-Šāfi'īs Lebzeiten und in einem einsetzenden religiösen Relativismus. Kurz: Die Kanonisierung soll zur Sicherung kollektiver Identität beitragen.
Nach der Kanonisierung musste rational auf Grundlage der kanonischen Texte argumentiert werden. Da reine Sprachkompetenz dazu nicht mehr ausreichte, entwickelten Gelehrte wie al-Ǧaṣṣāṣ komplexe juristische Systeme zur Textanalyse, wie zum Beispiel seine 'āmm/ḫāṣṣ-Exegeseprinzipien. So zeigt Tillschneider, dass die Kanonisierung (juristischer Texte) "unlösbar mit der Geschichte der 'āmm/ḫāṣṣ-Exegese verknüpft [ist]" (191).
Die hier vorgelegte Monographie geht in Inhalt, Analysetechnik, Deduktion und sprachlicher Darstellung deutlich über das Niveau erster wissenschaftlicher Qualifikationsarbeiten hinaus. Hans-Thomas Tillschneider gelingt es, hochkomplexe juristische Zusammenhänge sehr klar und prägnant darzustellen. Insbesondere die entwickelten Beispiele veranschaulichen das davor Gesagte immer wieder vortrefflich. Neben dieser sachlichen Erklärungskompetenz besticht diese Arbeit durch einen absolut fehlerfreien Gebrauch der arabischen Umschrift.
Es sei mir aber auch erlaubt, auf einige Schwächen hinzuweisen. Eine Tiefenschachtelung von fünf und mehr Ebenen (siehe Kapitel 3) ist zu viel. Diese Monographie ist so gut strukturiert, dass man die Tiefenschachtelung an einigen Stellen hätte streichen oder vereinfachen können. So hätte beispielsweise Kapitel 3.1.3.1 keine weitere Untergliederung auf zwei zusätzlichen Ebenen gebraucht.
Tillschneider entwickelt im Rahmen seiner Untersuchung eine bedeutende These zur Entwicklung bzw. zur Entstehung der juristischen Hermeneutik. Auf diese These, die erst auf der letzten Seite der Darstellung formuliert wird, rekurriert der Titel der gesamten Monographie ("Die Entstehung der juristischen Hermeneutik"). Bis zur Lektüre des letzten Kapitels versteht der Leser nicht, warum die Monographie diesen Titel trägt. Ein Titel wie "Die 'āmm/ḫāṣṣ-Exegese bei aš-Šāfi'ī und al-Ǧaṣṣāṣ" entspricht eher den Schwerpunkten dieses Buches. Erst mit der Volte im letzten Kapitel, die zugleich eine Kontextualisierung der 'āmm/ḫāṣṣ -Exegese in die juristische Geistesgeschichte des frühen Islam darstellt, erhält der Werktitel seine Berechtigung. Um den gewünschten Buchtitel zu halten, hätte in der Einleitung ein Ausblick auf das Ziel der Argumentation gegeben werden müssen. Das hätte dem Leser mehr Klarheit verschafft und ihn nicht wie eine Detektivgeschichte zu einem wichtigen aber auch verblüffenden Ende geführt.
Auf zwei Kleinigkeiten sei noch hingewiesen: In einer schematischen Darstellung sind beim Druck einige Zeichen ausgefallen: Statt (I v III) I müsste es (I v ¬ III) -> I heißen, um den Gedanken von al-Ǧaṣṣāṣ logisch auszudrücken (95). Außerdem ist mir nicht ganz klar, warum der Name aš-Šāfi'īs mit einer Ausnahme (31) ohne den Artikel gebraucht wird, während die meisten anderen arabische Namen den Artikel tragen (Ausnahme: Ibn Nadīm anstatt Ibn an-Nadīm, 66).
Die hier formulierten Punkte tun der erstklassigen Qualität der Monographie keinen Abbruch. Hans-Thomas Tillscheider ist es gelungen, eine bisher kaum untersuchte Methode der juristischen Hermeneutik, die 'āmm/ḫāṣṣ-Exegese, dem Fachleser auf exzellente Weise näherzubringen und durch seine These, derzufolge diese Exegesemethode entscheidende Anstöße zur Entwicklung der uṣūl al-fiqh gegeben hat, die Forschung zur Entstehung des frühislamischen Rechts ein gutes Stück voranzubringen.
Jens Scheiner