Michael Dorrmann (Hg.): Theodor Heuss. Bürger der Weimarer Republik. Briefe 1918-1933 (= Theodor Heuss. Stuttgarter Ausgabe. Briefe), München: K. G. Saur 2008, 631 S., ISBN 978-3-598-25122-1, EUR 39,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Detlef Lehnert: Friedrich Stampfer 1874-1957. Sozialdemokratischer Publizist und Politiker: Kaiserreich - Weimar - Exil - Bundesrepublik, Berlin: Metropol 2022
Thomas Flemming: Gustav W. Heinemann. Ein deutscher Citoyen. Biographie, Essen: Klartext 2014
Lutz Raphael: Imperiale Gewalt und mobilisierte Nation. Europa 1914-1945, München: C.H.Beck 2011
Die wissenschaftliche Edition der Werke des Schriftstellers, liberalen Politikers und ersten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, erfolgt unter der Ägide der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus. Begonnen wurde sie mit einer Auswahledition von Briefen, die auf acht Bände angelegt ist und deren erste vier Bände, die chronologisch geordnet bis 1949 reichen, nunmehr vorliegen. Der Band über die Zeit der Weimarer Republik enthält 229 Dokumente, ausschließlich Schreiben von Heuss - Bezugsschreiben und Reaktionen der Empfänger werden sinnvoll, wenn auch sparsam auszugsweise in die Anmerkungen eingefügt -, die aus rund 1100 Texten ausgewählt wurden. Sämtliche Schreiben sind vollständig abgedruckt, und inhaltlich entsteht in keiner Weise der Eindruck, Heuss etwa belastende Äußerungen seien unterdrückt worden. Im Gegenteil, die kritische Edition folgt wissenschaftlichen Standards, und der Bearbeiter und Herausgeber des Bandes, Michael Dorrmann, verdient höchste Anerkennung für seine umsichtige Kommentierung und für die mühevolle Zusammenstellung der Dokumente überwiegend aus der Empfängerüberlieferung, die Recherchen in mehr als dreißig Archiven erforderte. Der repräsentativ ausgestattete Band bietet schon rein äußerlich und vom Satzbild her die Voraussetzungen für eine angenehme Lektüre. Allerdings gebietet die Fairness den Hinweis, dass nicht jedes geschichtswissenschaftliche Editionsprojekt über Förderer wie die Robert Bosch Stiftung, die Daimler AG, die Porsche AG oder die Landesbank Baden-Württemberg verfügt.
Was erfahren wir aus der Edition über Theodor Heuss, der in der Weimarer Republik seine "berufliche Tätigkeit weitgehend auf die Kombination von Lehramt, Publizistik und politischer Wirksamkeit" aufbaute (480 f.) oder der, wie der Bearbeiter es formuliert, als "bildungsbürgerlicher Multifunktionär" wirkte (Einführung, 24). Zunächst einmal klagte der bekennende Württemberger, der seit 1918 in Berlin lebte, nahezu unablässig über finanzielle Engpässe und über das vermeintlich knappe Budget seines Haushalts. Tatsächlich verdiente Heuss zunächst als Redakteur, dann als Dozent und zeitweiliger Studienleiter an der nichtstaatlichen "Deutschen Hochschule für Politik" sowie als Reichstagsabgeordneter (1924-1928 und 1930 bis November 1932) nicht so schlecht, und seine publizistische und Vortragstätigkeit führte zu ständigen Zusatzeinnahmen, um derentwillen er ungeheuer fleißig war und nahezu ständig irgendetwas schrieb. Dem Monatseinkommen eines Facharbeiters war Heuss offenkundig in der Regel um ein Mehrfaches voraus. Doch diesen Vergleich würde er von sich gewiesen haben: Es ging ihm um die Aufrechterhaltung eines bürgerlichen Lebensstils, den er als Norm nicht in Frage stellte. So mokierte er sich 1924 über den Bürgermeister von Göppingen, dessen "Frau immer noch ohne Dienstboten und der Haushalt darum genauso schmuddelig [sei] wie je" (216). Heuss ließ keinen Zweifel, dass er sein Leben standesgemäß zu verbringen gedachte. Dazu gehörten Dienstpersonal, Zigarren und auch im Krieg "ein ganz behaglicher Kaffee" (97), Bildungsreisen und ein Sohn mit Abitur und Studium, der seine politische Heimat möglichst nicht bei den Sozialdemokraten suchen sollte.
Als Politiker achtete Heuss strikt auf die Bewahrung seiner finanziellen Unabhängigkeit, er betrachtete seine Mitstreiter in der Deutschen Demokratischen Partei stets mit Argwohn, sofern sie als Interessenvertreter wirtschaftlicher Kreise auftraten oder ihre Karriere einem berufsständischen Proporz bei der innerparteilichen Kandidatenauswahl zu verdanken hatten. Heuss wollte in der Politik "Männer einer freien und unabhängigen Geistigkeit" (216) am Werke sehen, er postulierte "Männer der Erfahrung, Bildung und inneren Unabhängigkeit" (230) als Idealbild parlamentarischer Volksvertreter, und selbstverständlich sah er in sich dieses Ideal verkörpert. Die Republik sei "am sichersten in der Hand und Gesinnung der selbständigen mittleren Leute" und es sei Aufgabe liberaler Politik, "die Mittelschicht an den Staat heranzubringen", zumal "das Proletariat allein" den Staat nicht trage (241). Das korrespondiert mit gelegentlichen zeitgeisttypischen kulturkritischen Bemerkungen über die "seelische Vermassung" des [!] Deutschen (494), der nicht selten "vom Großstädtertum innerlich aufgefressen" (230) sei, oder über den Wert des Führergedankens in der Demokratie. Mitunter brachte Heuss sein stark auf die Persönlichkeit von Menschen fixiertes politisches Denken - selbst vor Bewunderung für einen psychologisierenden Grafologen schreckte er nicht zurück (152 f.) - in einer Schwärmerei für "tapfere, ringende Männlichkeit" oder für "ein wunderschönes Mannsstück" zum Ausdruck; Schicksalsschläge galt es "mannhaft" zu ertragen (147; 92; 163). Solche Denkkategorien und Ideale weisen in vielem eher zurück in das 19. Jahrhundert als voraus in die moderne Industriegesellschaft. Allerdings verraten sie auch etwas über die Grundlagen politischer Kultur in der Adenauerzeit.
Was das Wirken von Heuss als Politiker und Parlamentarier in der Weimarer Republik anbelangt, so gilt, was er selbst über seinen 1919 verstorbenen Mentor Friedrich Naumann sagte, dessen tiefgreifende Prägung den ganzen Band hindurch erkennbar ist und dessen Biografie zu schreiben sich Heuss als Langzeitprojekt vorgenommen hatte: Briefe gibt es "vor allem wenige, in denen politische Fragen intensiver erörtert wurden" (539). Gewiss findet man reiches Material zu innerparteilichen Erwägungen und auch Intrigen in der DDP, insbesondere zum verzweifelten und mehrfach scheiternden Bemühen von Heuss, einen sicheren Listenplatz für die jeweils nächste Reichstagswahl zugesprochen zu bekommen, nicht zuletzt um der Diäten willen. Noch im Oktober 1932 wähnte er sich angesichts seiner von ihm selbst immerzu betonten Verdienste um die DDP von der Parteiführung der nunmehrigen Deutschen Staatspartei im Kampf um einen Platz auf der Reichsliste "nach Strich und Faden hereingelegt" (512).
Die eigene Stellung von Heuss zu einer Fülle von politischen Problemen angesichts des langwierigen Zersetzungs- und Auflösungsprozesses der liberalen Parteien der bürgerlichen Mitte während der Weimarer Republik lässt sich aus eher knappen und verstreuten Bemerkungen nur mühsam herausfiltern; eine Neupublikation seiner zahlreichen verstreut erschienenen Schriften wird dazu mehr an Material liefern. Heuss selbst wollte sich in der Reichstagsfraktion der Demokraten nicht "zum rechten oder linken Flügel" rechnen lassen und sich Entscheidungen "je nach der inneren Gewissenhaftigkeit" vorbehalten (229). Tatsächlich tendierte er in innenpolitischen Fragen nicht selten mehr zur Rechten, so in Fragen der Koalitionsbildung mit der DNVP 1924, des sogenannten Schmutz- und Schundgesetzes oder des Abtreibungsrechts. Außenpolitisch vertrat Heuss, der noch im Mai 1918 die Kriegspolitik des kaiserlichen Deutschland beifällig kommentierte (98 f.), einen republikanischen Revisionismus mit friedlichen Mitteln, der vehement auf einen Anschluss Österreichs zielte, darüber hinaus für "die Wiedergewinnung des Elsaß" (148, möglicherweise nicht ganz ernst gemeint) und für eine "Neugestaltung der Ostprobleme" im Anschluss an einen deutsch-französischen Interessenausgleich plädierte (535). Die Reichswehr wollte Heuss etwas naiv aus der Politik heraushalten; er bezeichnete die vorgebliche "Entpolitisierung der Reichswehr" geradezu als Verdienst des demokratischen Ministers Gessler, den Heuss stets vor jeglicher Kritik in Schutz nahm (233 f.). Vieles in seinen politischen Stellungnahmen kennzeichnet Heuss eher als Rechts- denn als Linksliberalen.
Die Nationalsozialisten erscheinen in der Korrespondenz erst im August 1930 während des Reichstagswahlkampfes. Heuss unterschätzte trotz seiner seitdem nachweisbaren intensiven Beschäftigung mit der NS-Bewegung offensichtlich die mit ihr verbundenen Gefahren. Man dürfe vor ihren Repräsentanten keine Angst zeigen, so sein wesentliches Rezept. Heuss hielt im Dezember 1931 Nachrichten über Schändungen jüdischer Friedhöfe und Misshandlungen jüdischer Familien in ostdeutschen Kleinstädten schlicht für "übertrieben" (441); für den Fall einer Beteiligung der Nationalsozialisten an der Regierungsmacht fürchtete er vor allem deren "Dilettantismus" (449). Bis zuletzt ist von einer drohenden revolutionären Umwälzung keine Rede. Die Briefe vom Herbst und Winter 1932/33 spiegeln immer noch die im Rückblick gespenstisch anmutende Beschaulichkeit bürgerlichen Daseins in der Zuversicht, dass die Erholung der wirtschaftlichen und politischen Lage bevorstehe und bruchlos "der Zeitpunkt wiederkommt, wo eine tapfere bürgerliche Gesinnung und eine Neuprägung liberaler Gedanken den Deutschen notwendig genug sein werden" (494). So schärfen die Briefe von Theodor Heuss den Blick für die Offenheit jeder historischen Situation. Auch sonst bieten sie eine anregende, fruchtbare und nicht selten unterhaltsame Lektüre.
Rainer Behring