Gabriela Signori (Hg.): Die lesende Frau (= Wolfenbütteler Forschungen; Bd. 121), Wiesbaden: Harrassowitz 2009, 475 S., ISBN 978-3-447-06007-3, EUR 98,00
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Unter dem Titel "Die lesende Frau" ist 2009 ein Sammelband erschienen, der wegen seiner fach- und methodenübergreifenden Beiträge Interesse weckt.
In den 1960er/70er Jahren rückte der Prozess des Lesens als Forschungsfeld in den Vordergrund, das sich bald als "neue Denkrichtung" (8) etablierte. Untersuchungsgegenstand waren das Buch an sich, aber auch Leseorte und Lektürepraxis. An diese Forschungstradition knüpft der Sammelband an, in dessen Einleitung Gabriela Signori betont, dass über Jahrhunderte hinweg das Motiv der lesenden Frau in Text- und Bildquellen allgegenwärtig gewesen sei (10). Zugleich gehe Lesen über reine Wissensvermittlung hinaus. Es symbolisiere gerade im Spätmittelalter Gebet und Meditation (11).
Dem Band liegt eine herkömmliche Gliederung in Antike, Mittelalter, Frühe Neuzeit und Neueste Geschichte zugrunde. Dabei könnte der Beitrag von Dagmar Eichberger sowohl dem Spätmittelalter als auch der Frühneuzeit zugeordnet werden, was darauf hindeutet, dass möglicherweise eine thematische Anordnung sinnvoller gewesen wäre.
Gleich der erste Beitrag von Johanna Fabricius, der unter dem Titel "Klobulines Schwestern. Bilder lesender und schreibender Frauen" (17-46) ein hellenistisches Grabmonument aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. in den Blick nimmt, greift zwei Elemente auf, die in fast allen anderen Beiträgen ebenfalls angesprochen werden. Fabricius bezieht sich auf Funde aus Rhodos, eine der wichtigsten Bildungsstätten des Hellenismus. Anhand der Reliefszene eines Rundaltars, die eine lesende junge Frau in aufgestützter Haltung (17) zeigt, entschlüsselt sie Normenverstöße griechischer Frauen von Stand. Liegende lesende Frauen, die mit Schriftrollen und aufgestütztem Kopf an Philosophendarstellungen erinnern, werden als Einzigartigkeit der Insel Rhodos vorgestellt. Hinzuweisen ist an dieser Stelle jedoch darauf, dass die insgesamt seltene Ausstattung von weiblichen Verstorbenen mit Bildungsattributen - anders als das Motiv des Lagerns - nicht exklusiv auf Rhodos beschränkt ist. Dort handelt es sich jedoch nicht um Einzelfunde, was die Autorin als in allen Bevölkerungsschichten akzeptierten Wert (21) der Gelehrtheit von Frauen deutet.
Christine Kunst nähert sich im nachfolgenden Beitrag der kulturellen Semantik des Lesens im antiken Rom (47-64). Auch sie greift Reliefdarstellungen auf, indem sie christliche Sarkophage untersucht, die Frauen lesend oder mit Attributen ihrer Bildung darstellen (61f.). Sie unterstreicht, dass die Lesefertigkeit im römischen Alltag für bestimmte weibliche Berufsgruppen vorausgesetzt wurde. Lesen war damit vielfach zweckgebunden (51).
Zeitlich an die Spätantike anknüpfend deutet Katrinette Bodarwé (65-79) das Lesen im Frühmittelalter als Symbol religiöser Lebensführung. Die Schnittmenge zwischen Antike und Mittelalter wird hier beispielhaft anhand des Christentums dargestellt. Der christliche Glaube manifestierte sich als Buchreligion (67), wodurch dem Lesen ein zunehmend religiöser Aspekt zukam. An dieser Stelle muss allerdings eingewandt werden, dass die Suche nach Kontinuitäten aufgrund der Überlieferungslage fast zwangsläufig eine Nähe von Christentum und Lesefähigkeit suggeriert, denn es sind vor allem Quellen kirchlicher Provenienz erhalten. Umso positiver ist, dass Bodarwé auch bildliche Darstellungen heranzieht (71f.). Insgesamt konstatiert sie für das Frühmittelalter einen bedeutenden Wandel: Lesen werde in deutlicher Abgrenzung zur Spätantike nun zur religiösen Übung, die Lesende selbst zur deo sacrata, während bis dahin ein weltlicher Bezug vorgeherrscht habe.
Eine Fortführung dieser Verbindung zwischen Religion und weiblicher Lesefähigkeit erfolgt im übernächsten Beitrag von Klaus Schreiner (113-154), der anhand von Quellen des hohen Mittelalters Maria als bibliophile Leserin zeigt. Der normativen Erwartungshaltung von Zeitgenossen zufolge sollten Frauen zum Lesen religiöser Schriften angeleitet werden (141).
Die Verknüpfung von gelehrter Welt und klösterlicher Lesepraxis gelingt schließlich in zwei Beiträgen mit ganz unterschiedlichem Untersuchungszeitraum: Constant J. Mews (81-111) hebt hervor, dass Heloise zu einer der letzten Generationen von Leserinnen zählte, die noch "fully at ease with a wide range of classical Latin authors" (91) gewesen seien. Es habe im 12. Jahrhundert für Frauen durchaus Möglichkeiten gegeben, lateinische Literatur zu rezipieren (109). Im gebildeten Milieu müsse davon ausgegangen werden, dass "weibliche Literatur" (101) öffentliches Vorlesen innerhalb einer intimen Gruppe von Freunden ebenso einschloss wie das zurückgezogene stille Lesen. Die Annahme der Forschung aus philologischer Perspektive - namentlich Jean-Yves Tilliette - dass es keine zwingende Notwendigkeit für einen tatsächlichen Austausch der untersuchten "Carmina" gebe, weist Mews zurück. Er stellt die Gegenfrage, warum Briefe an Frauen eine literarische Kunstform sein sollten, wenn der Austausch mit männlichen Kreisen nicht in Frage gestellt werde (103).
Einen vergleichbaren Gegensatz stellt Anne Bollmann an den Anfang ihrer Überlegungen zu Lesekult und Leseskepsis in Frauengemeinschaften (155-176), indem sie betont, dass Lesepraxis zum normalen Alltag in weiblichen Konventen gehörte (155) und als Hilfsmittel zur Verinnerlichung (167) diente. Die hier zugrunde gelegten Hauschroniken und devoten Schwesternbücher vom Niederrhein und aus der Ijsselregion müssen jedoch von süddeutschen Nonnenbüchern dominikanischer Prägung deutlich abgegrenzt werden. Das Ziel der Hauschroniken lag in der Erbauung nachfolgender Generationen anhand von Schwesternviten. Die Vermischung von Schreib- und Lesepraxis (163f.) kann darüber hinaus die Verknüpfung von vita activa und vita contemplativa quasi in Form eines begleitenden Lesens während der Arbeit belegen.
Zwischen dem ausgehenden Mittelalter und der beginnenden Frühen Neuzeit verfügten nur wenige Frauen über eigene Bibliotheken (243). Als eine von ihnen nennt Dagmar Eichberger (241-264) Margarete von Österreich, deren Bibliothek in Mechelen die Funktion eines semi-öffentlichen Raumes wahrnahm, indem sie Repräsentations- und Studierraum war. Die Leseempfehlungen des spanischen Humanisten Juan Luis Vives (1492-1540) dienen als Folie vor der die Bibliothek Margaretes als "Libreria per donne" analysiert wird (250f.). Dass zeitgenössische Beschreibungen grundsätzliche Unterschiede zwischen Büchern für Frauen und für Männer vornahmen, wird als gegeben vorausgesetzt. Im Fazit wird lediglich das "äußere Erscheinungsbild" als Frauenbibliothek gedeutet, nicht aber die inhaltliche Zusammensetzung. Diese "ging weit über die engen Grenzen dessen hinaus, was man von einer typischen Frauenbibliothek zu erwarten hatte" (257). Eichberger bleibt aber schuldig, was sie unter "typisch" versteht. Interessanter erscheint dagegen der letzte Absatz (258), in dem Margarete als Regentin skizziert wird. So bleibt zu fragen, ob wir es hier unabhängig von ihrem Geschlecht nicht mit einer Regentenbibliothek zu tun haben, die ihrerseits spezifische Anforderungen zu erfüllen hatte. Die Ausgangsfrage scheint hier also etwas zu kurz gegriffen.
Unterschiedliche Textarten für ähnliche Fragen verwenden Alfred Messerli und Gabriele Müller-Oberhäuser. Messerli widmet sich auf Grundlage der Literatur des 19. Jahrhunderts geschlechtsspezifischen Schreib- und Lesepraktiken in der deutschsprachigen Schweiz des 17./18. Jahrhunderts. Müller-Oberhäuser fragt anhand von Autobiographien nach Geschlechterunterschieden in der Lesegeschichte des viktorianischen Englands (348). Beide verweisen auf Debatten zur Lesesucht/reading-desease (307/347), die in beiden Lesekulturen für die Sorge vor Gefährdung der sozialen Ordnung stehen: einerseits als Sorge vor, andererseits als Nachweis von Emanzipationsbestrebungen. Die Verpflichtung der Frauen auf den häuslichen Bereich erscheint bei beiden Beiträgen als "Ausdruck eines komplementären Geschlechterrollendenkens, worin sich die Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben ausdrückt" (318). Die Auswahl von Autobiographien birgt allerdings das methodische Problem, dass lediglich Lebenserinnerungen vorliegen, in denen der erfolgreiche soziale Aufstieg gerade mit Hilfe von Büchern und der eigenen Lesefertigkeit thematisiert wird. Diejenigen, denen dieser Aufstieg nicht gelang, haben auch keine Selbstbeschreibungen verfasst.
Schließlich rückt das Motiv der lesenden Frau anhand von Abbildungen ins Zentrum: Fritz Nies (385-413) skizziert die Vorstellungen von geschlechtstypischer Lektüre anhand von Frauendarstellungen in Karikaturen und unterstreicht den heuristischen Wert von Karikaturen zur Entwicklung lesehistorischer Hypothesen. Elke Schutt-Kehm analysiert Exlibris-Darstellungen (439-467), die quantitativ zwischen 1890 und 1925 einen Höhepunkt erreichten (443). Ausgehend von Eignerporträts und allegorischen Darstellungen arbeitet sie heraus, dass sich in weiblichen Exlibris stets das Bild der Frau findet, das sich Männer von Frauen machten (456). Gleichzeitig betont sie die auffällige Verknüpfung von weiblicher Lektüre mit einem praktischen Nutzen, womit wiederum ein zentrales Thema der althistorischen und mittelalterlichen Beiträge aufgegriffen wird.
Der Tagungsband profitiert entscheidend davon, dass seine Beiträge sich auf einige wichtige Aspekte konzentrieren. Immer wieder wird auf den Normenverstoß der lesenden Frau verwiesen und auf die Existenz von zwei getrennten - weiblichen und männlichen - Lesewelten, die häufiger bestehende Parallelwelten verfestigten, als dass sie deren Grenzen aufbrachen. Außerdem wird die Lektürepraxis von Frauen epochenübergreifend mit der Frage des konkreten Nutzens verbunden. Wie ein roter Faden scheint der insgesamt gelungene Band daher vom Aphorismus eines Exlibris durchzogen zu sein: "Befreiung bringt dem Weibe nur der Geist" (444).
Britta Kägler