Birger Dölling: Strafvollzug zwischen Wende und Wiedervereinigung. Kriminalpolitik und Gefangenenprotest im letzten Jahr der DDR, Berlin: Ch. Links Verlag 2009, 483 S., ISBN 978-3-86153-527-0, EUR 39,90
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Der Jurist Birger Dölling setzt sich in seiner Dissertation mit den Umbrüchen im Strafvollzug der untergehenden DDR zwischen Herbst 1989 und der Wiedervereinigung 1990 auseinander. Aus der Perspektive des Rechtshistorikers werden nicht nur die normativen und strukturellen Veränderungen des Gefängnis- und Justizapparates in den Blick genommen. Der Leser erhält in knappen Einführungskapiteln auch Einblicke in die politischen und gesellschaftlichen Umbrüche jener Monate. Auf diese Weise wird erstmals umfassend dargestellt, wie die Friedliche Revolution hinter den Gefängnismauern der DDR verlief.
Eine profunde Analyse der Veränderungen unter den besonderen Rahmenbedingungen 1989/90 setzt Kenntnisse von Theorie und Praxis des realsozialistischen Strafvollzuges voraus. Es ist ein Verdienst des Autors, dass er auf den ersten knapp 150 Seiten des Buches sowohl die normativen Grundlagen von Kriminalpolitik und Strafvollzugskonzepten, vor allem aber auch die Strafvollzugspraxis in der Endphase der DDR zusammenfasst. In der historischen Forschung wurden diese Fragen bislang zugunsten einer im Ergebnis einseitigen Auseinandersetzung mit dem Strafvollzug als Mittel der politischen Herrschaftssicherung des SED-Regimes weitgehend ausgeblendet.
Die Veränderungen hinter den Gefängnismauern werden in fünf chronologisch angelegten Abschnitten untersucht. Dölling setzt im Spätsommer 1989 ein und referiert schlüssig, wie die Zusicherung von Straffreiheit für Botschaftsflüchtlinge und gewaltsame Massenfestnahmen von Demonstranten in Dresden und Berlin die gesellschaftlichen Umbrüche hinter die Mauern der Haftanstalten trugen. Mit der erzwungenen Entkriminalisierung fast aller politischen Gefangenen durch eine erste Amnestie Ende Oktober 1989 bezweifelten die verbliebenen Insassen zunehmend die Legitimität ihrer Inhaftierung. Der Autor beschreibt detailliert, wie durch Streikversuche, Aufsässigkeit und Flugblätter zunächst Hafterleichterungen und schließlich die eigene Freiheit erzwungen werden sollten. Dem Aufbegehren der Insassen werden die Veränderungen innerhalb des Gefängnisapparates gegenübergestellt. Die Aufrechterhaltung des repressiven Strafvollzugsregimes war durch Aufhebung des paternalistischen Schutzes bei Befugnisüberschreitungen im Herbst 1989 nahezu unmöglich geworden. Dölling verweist auf die Ermittlungen gegen Gefängnismitarbeiter wegen Misshandlung und die daraufhin nachlassende Bereitschaft, Sicherheit und Ordnung mit allen Mitteln durchzusetzen. Den entscheidenden Hunger- und Arbeitsstreiks in den DDR-Haftanstalten Anfang Dezember 1989 wird verhältnismäßig wenig Platz eingeräumt. Der Versuch der Gefangenen eine Generalamnestie zu erzwingen, scheiterte nach Dölling am Fehlen eines gesellschaftlichen Konsenses über diese Frage, vor allem aber am Widerstand des Innen- und des Justizministeriums sowie der Staatsführung, die mit einer solchen Entscheidung die gesamte (und nicht nur politische) Rechtsprechung in der DDR in Frage gestellt hätte. Dass es den Insassen dennoch gelang, mit Vertretern der Staatsführung in Verhandlung zu treten, zählt zu den großen und bislang wenig beachteten Momenten der Friedlichen Revolution 1989/90. Mit dem Erlass des umfassenden Gnadenaktes vom 6. Dezember 1989 leerten sich die Haftanstalten in der DDR fast vollständig.
Die Handlungsspielräume und Erwartungen der einzelnen Akteure - Insassen, Gefängnispersonal und Öffentlichkeit, die seit dem Herbst 1989 mit den Kirchen und Bürgerinitiativen in die Haftanstalten drängte - werden in den jeweiligen Untersuchungsphasen gesondert in den Blick genommen. Damit gelingt eine hilfreiche Perspektiverweiterung, welche die Komplexität der Umwälzungen nachvollziehbar werden lässt. So wird unter anderem verständlich, warum die in der Bevölkerung geforderte Freilassung politischer Gefangener den Erwartungen der Insassen nur partiell entgegenkam. Dennoch waren Kirchen und Bürgerinitiativen für den grundlegenden Wandel im Strafvollzug seit dem Jahreswechsel 1989/90 unabdingbar. Die Durchsetzung eines ausnehmend liberalen Strafvollzuges im Frühjahr 1990 war nicht unwesentlich das Verdienst dieses zivilgesellschaftlichen Engagements, wenngleich insbesondere nach den freien Parlamentswahlen am 18. März 1990 die "Entmachtung der Bürgerbewegung" auch hinter den Gefängnismauern begann. Die restaurativen Bestrebungen des Gefängnisapparates waren letztlich erfolgreich, was Dölling unter anderem mit Verweis auf die weitgehend unkritischen Kontakte mit Strafvollzugspraktikern aus der Bundesrepublik begründet. Daneben drängten spätestens seit Sommer 1990 die Übernahme der westdeutschen Gesetzgebung und Dienstvorschriften eigene Reformvorhaben im DDR-Strafvollzug in den Hintergrund. Den mitunter revolutionären Veränderungen in der Haftausgestaltung war vor diesem Hintergrund keine lange Lebensdauer beschieden. Die Durchsetzung eines, bundesdeutschen Normen angepassten, Strafvollzuges schränkte bereits im Vorfeld der Wiedervereinigung die abgetrotzten Freiheiten der Insassen ein. Die noch verbliebenen Gefangenen reagierten darauf mit immer neuen Streiks und Ausbruchsversuchen und erreichten neben Urteilsüberprüfungen wenige Tage vor dem 3. Oktober 1990 eine Herabsetzung ihrer Haftstrafen.
Im abschließenden Abschnitt wagt Dölling einen Blick über die Wiedervereinigung hinaus. Die Bilanz der Umbrüche in den DDR-Haftanstalten fällt ernüchternd aus. Zwar gelangten nach der Amnestie vom 6. Dezember 1989 alle politischen Gefangenen in Freiheit und das düstere Kapitel der ideologisch motivierten Rechtsprechung war beendet. Doch eine nachhaltige Reform des gesamtdeutschen Strafvollzugswesens gelang ebenso wenig, wie ein Neuanfang in den Gefängnissen im Osten der Republik. Mehr als 90 Prozent der Mitte der 1990er Jahre in Justizvollzuganstalten in der ehemaligen DDR Beschäftigten hatten ihre Ausbildung vor 1990 erhalten. Dieser Befund steht nicht nur im eigentümlichen Widerspruch zu den Erkenntnissen der historischen Forschung über den DDR-Strafvollzug, sondern auch zu dessen negativem Bild im historischen Gedächtnis der wiedervereinigten Republik.
Die Studie beruht auf einer umfassenden Quellengrundlage. Die faktengesättigte und kleinteilige Darstellung geht mitunter zu Lasten einer eingehenderen Analyse, was dem Erkenntnisgewinn dieser Pionierarbeit insgesamt aber keinen Abbruch tut. Vielmehr legt der Band die Grundlage für eine weitergehende Beschäftigung mit dem DDR-Strafvollzug.
Ronny Heidenreich