Werner Lippert / Christoph Schaden (Hgg.): Der rote Bulli. Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie. Ausst.-Kat. NRW-Forum Düsseldorf, 2010, 260 S., (Vertrieb durch das Museum), EUR 33,00
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Der wissenschaftliche Wert von Ausstellungskatalogen zur jüngeren Kunst ist nicht immer erkennbar. Vielfach handelt es sich tatsächlich nur um institutionell verbrämte Elogen auf Trendsetter des Kunstmarktes. Doch sollte diese kritische Einsicht nicht zu dem Kurzschluss führen, sogleich sämtliche Ausstellungskataloge zu disqualifizieren und damit die vorhandenen Gräben zwischen universitärer Kunstgeschichte und dem Ausstellungswesen noch zu vertiefen. Gerade im Bereich der Geschichte der künstlerischen Fotografie ist der Nachholbedarf an Wissen zu den Entwicklungen der vergangenen vier, fünf Dekaden noch immens. Umso erfreulicher ist es, wenn eine Ausstellung zum Verhältnis zwischen dem amerikanischen Fotografen Stephen Shore (geboren 1947) und der Düsseldorfer Fotografie um Bernd und Hilla Becher den wechselseitigen Kenntnisstand zwischen amerikanischer und deutscher Fotografie untersucht. Dies versprach die Präsentation des Düsseldorfer NRW-Forums mit dem für Nicht-Kenner etwas verrätselten Titel "Der Rote Bulli. Stephen Shore und die Neue Düsseldorfer Fotografie". Er bezieht sich auf ein prominentes Foto Shores, das einen VW-Bulli an einer Straßenkreuzung zeigt, der dem Arbeitswagen der Bechers ähnelt.
Die kunsthistorische Bedeutung von Stephen Shore und auch sein Stellenwert für die deutsche Fotografie sind bereits mehrfach unterstrichen worden. Grundlegend dafür war eine Shore-Ausstellung des Westfälischen Kunstvereins Münster im Jahr 1994. In jenem Katalog findet sich ein Interview zwischen Heinz Liesbrock und den Bechers [1], das den Horizont für die Fragestellung des vorliegenden Katalogs eröffnet hat. Seit diesem Interview ist bekannt, dass das Düsseldorfer Fotografenpaar seit den frühen 1970er-Jahren durch Hinweise an Kuratoren und eigene sammlerische Tätigkeiten selbst viel für die Vermittlung ihres amerikanischen Kollegen in Europa getan hat.
Neben Shore und den Bechers legt das von Christoph Schaden initiierte Projekt "Der Rote Bulli" sein Augenmerk besonders auf die nachfolgende Schüler-Generation, die Bernd Becher an der Düsseldorfer Kunstakademie seit 1976 ausgebildet hat. Problematisch erscheint in dieser Hinsicht allerdings die Engführung auf mögliche Anregungen durch nur einen Amerikaner, während umgekehrt auf der anderen Seite des Atlantiks eine ganze "Becher-Schule" in den Blick genommen wird. So kann der fälschliche und in den Texten des Ausstellungskatalogs auch nicht kritisch reflektierte Eindruck entstehen, als sei allein die Kenntnis von Shores Fotografie maßgeblich für die Rezeption amerikanischer Fotografie in Düsseldorf gewesen - zentrale Positionen wie die von Edward Ruscha, Joel Sternfeld, William Egglestone oder Jeff Wall auszublenden, wäre jedoch eine Verkürzung der Tatsachen.
Glücklicherweise ist der Katalog hier hilfreicher als die Ausstellung, die sich - wie der Bildteil des Buches (93-248) - auf Vergleiche beschränkt und dabei von den "Becher-Schülern" z.T. nicht von ungefähr unpubliziertes Material zeigt, das allein die Angemessenheit der leider auch im Bereich der alten Kunst stets repetierten "Einfluß"-These belegen soll. "Erklärt" wird mit dieser methodisch zweifelhaften Suggestion der Bildvergleiche natürlich nichts, was allerdings auf der Ebene des materialreichen Textes von Christoph Schaden (28-71) auch nicht wirklich behauptet wird. Insgesamt aber bleibt die Ebene der "Becher-Schüler" dieses Katalogs für den wissenschaftlichen Kontext weniger ertragreich, auch wenn Maren Polte in einem Aufsatz den Horizont dieser marktkonformen Terminologie zu Recht problematisiert (270-291) und eine Grafik im Anhang des Katalogs erstmals den wirklichen Umfang der Schülerschaft auflistet (330-333). Auf der Basis des Archivs der Kunstakademie Düsseldorf konnten überraschenderweise nur 87 Studierende in 22 Jahren gezählt werden.
Was den Katalog zu einem für die wissenschaftliche Kunstgeschichte dennoch wirklich wichtigen Beitrag macht, ist die gleichsam doppelte Optik auf die Rezeptionsgeschichte von Shore einerseits und der Bechers andererseits. In beiden Fällen erweitern sie den bisherigen Kenntnisstand der Forschung erheblich. Der bereits erwähnte Beitrag von Christoph Schaden verfolgt minutiös die deutsche Rezeption Shores und konzentriert sich dabei auf die Zeit vor der bahnbrechenden Ausstellung in Münster 1994. Interessant ist dies besonders, weil hier nicht nur abermals die bahnbrechende Wirkung der beiden Documenta-Ausstellungen 1972 und 1977 offensichtlich, sondern en passant auch noch eine Reihe Details des Aufkommens von Fotografie im Kontext künstlerischer Galerien und Museen angesprochen werden. Nicht minder wertvoll sind die Beiträge zur Rezeption der Bechers - ein Thema, das man bereits wohl bearbeitet glaubte. [2] Doch wohl erstmals verfolgt Jeffrey Ladd systematisch die Rezeption des Düsseldorfer Fotografenpaars in den USA (72-90), wobei er erstaunlich viele frühe Belege gefunden hat. Und Gerald Schröders Rezeptionsgeschichte für den deutschen Kontext (292-325) fügt dem Wissen um die Nähe der Bechers zur Conceptual Art nun auch noch plausible Belege für ihre Wahrnehmung im Kontext der Minimal Art hinzu. So jung die Geschichte der Fotografie als Kunst auch zu sein scheint, es gibt immer noch viel aufzuarbeiten. Dieses Buch leistet an einigen Stellen einen wichtigen Beitrag.
Anmerkungen:
[1] "Seine Bilder haben etwas von einer ersten Begegnung." Hilla und Bernd Becher im Gespräch mit Heinz Liesbrock, in: Stephen Shore. Fotografien von 1973 bis 1993, hg. von Heinz Liesbrock, München 1994, 27-33.
[2] Vgl. Susanne Lange: "Was wir tun, ist letztlich Geschichten erzählen...". Bernd und Hilla Becher: Eine Einführung in Leben und Werk, München 2005.
Stefan Gronert