Christian Kehrt: Moderne Krieger. Die Technikerfahrung deutscher Militärpiloten 1910-1945 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 58), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2010, 496 S., ISBN 978-3-506-76712-7, EUR 49,90
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In seinem Geleitwort zu dem 1936 erschienenen Buch "Flieger vor die Front! Ruf und Befehl an die deutsche Jugend" verkündete der Reichsluftfahrtminister und Oberbefehlshaber der Luftwaffe Hermann Göring der "Jugend von heute" und dem "Flieger von morgen": "Keiner glaube auch, daß Mut und Unerschrockenheit, körperliche Veranlagung und Diszipliniertheit allein den Flieger ausmachen. Unsere heutigen Flugzeuge mit ihren zahllosen Instrumenten und Geräten sind höchst komplizierte technische Wesen, die geistig aufgeschlossene Menschen voraussetzen." [1] Diese geistige Aufgeschlossenheit steht - der Untertitel verrät es schon - im Zentrum von Christian Kehrts Studie über die "Technikerfahrung deutscher Militärpiloten". Der Autor beleuchtet den Umgang deutscher Piloten mit den Herausforderungen der Flugtechnik insbesondere im Krieg, fragt nach dem Prozess ihrer leiblichen Aneignung sowie nach den sozialen und kulturellen Konflikten, welche die Technisierungsprozesse begleiteten.
Christian Kehrt, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr (Hamburg) und ehemals am Deutschen Historischen Museum (München) hat mit seiner am Darmstädter Graduiertenkolleg entstandenen, von Prof. Dr. Mikael Hård betreuten und nun für den Druck überarbeiteten Dissertation ein facettenreiches Buch vorgelegt. Dieser Facettenreichtum resultiert zum einen aus dem von den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg bis 1945 reichenden Untersuchungszeitraum, zum anderen aus der Vielfalt der verwendeten Quellen und behandelten Themen. Die beeindruckende Quellenbasis reicht von den Fotoalben der Soldaten und schriftlichen Zeugnissen über ihre Erfahrungen über die Testberichte der Erprobungsstellen der Luftwaffe und die Firmenunterlagen der Heinkel-Werke bis zu luftfahrtmedizinischen Untersuchungen und drei von ihm selbst geführten Oral History-Interviews.
Der chronologische und zugleich kluge systematische Aufbau sorgt dafür, dass Kehrt bei der Fülle der Themen nicht den Überblick verliert. Teil I des Buches gilt dem Zeitraum bis 1918. Teil II widmet sich den Jahren zwischen 1933 und 1945. Verbunden werden sie durch ein kurzes Kapitel zur Flugbegeisterung während der Weimarer Republik. Der Autor untersucht zunächst jeweils die Flieger- und Heldendiskurse, die "als kulturelle[r] Rahmen" (44) dienen und als Handlungsvoraussetzungen verstanden werden müssen (Kapitel I, II, VI). Daran schließt sich die Analyse der konkreten Flugpraxis und der technischen Erweiterungen der Erfahrungsräume (Kapitel III, VIII, X), des Pilotenkörpers als Schnittstelle von Mensch und Maschine (Kapitel IV, IX), des Pilotenhabitus (Kapitel VII) und der Gewalterfahrung und ihrer -dispositive (Kapitel V, XI) an. In dieser hier nur grob umrissenen thematischen Fülle erweist sich der heuristische Gewinn, den der Autor durch die methodisch überzeugende Untersuchung der technischen und praktischen Dimension der Kriegserfahrung erzielt.
Kehrts Studie liefert einen gewichtigen Beitrag zur Luftkriegshistoriographie und Erfahrungsgeschichte des "Zeitalters der Weltkriege". Indem er seinen Schwerpunkt auf die Praxis des Kriegsfluges sowie auf die Verinnerlichung, sprich Habitualisierung der technischen Vorgänge legt, vermag Kehrt den kultur- und sozialgeschichtlichen Zugriff der Kriegserfahrung um die insbesondere im Krieg ausschlaggebende technikhistorische Dimension zu erweitern. Er trägt damit nicht nur zur Beseitigung eines leidigen Forschungsdesiderats bei und zeigt die technische "Vermitteltheit des Gewaltbezuges" auf (13), sondern verdeutlicht eben auch, welche Grenzen die Faktizität der Technik dem diskursiven Entwurf des Fliegers auferlegte.
Den Piloten, und das heißt auch dessen Körper, zeigt Kehrt als Schnittstelle zwischen den diskursiv erzeugten Bildern des Fliegers und der Maschine. Es wird deutlich, dass der um den Flieger betriebene Heldenkult einerseits propagandistisch bedeutsam war, zielte er doch nicht zuletzt darauf, die Flugbegeisterung unter dem für die rasant wachsende Luftwaffe benötigten Nachwuchs zu entfachen. Andererseits diente das faschistoide Bild vom kalten, ruhigen, "modernen Krieger", der rücksichtslos seiner Todesarbeit nachgeht, auch dem Piloten selbst bei der Bewältigung einer komplizierter werdenden und in unbekannte Gefilde vordringenden Technik. Damit wurde ihm ein Rahmen angeboten, in den er die neuen technischen Erfahrungsräume integrieren, aber durch den er die zunehmend aussichtsloser werdende Lage und die von der Technik und den Technisierungsprozessen nicht erfüllten Erwartungen auch kompensieren konnte. Der "Zauber des mechanischen Todes", so ließe sich in Anlehnung an Ernst Jünger behaupten, war indes nur bedingt diskursiv zu bewältigen. [2] "Schneid", "Einsatzwille" und "der Rausch der Todesverachtung" reichten eben nicht aus, die Schwerkraft zu überwinden. Oder wie es bei Kehrt lakonisch heißt: Bei einer "Beschleunigung von über 7g waren auch den stärksten und einsatzfreudigsten Piloten physiologische Grenzen gesetzt" (328).
Kehrts Buch führt dem Leser deutlich vor Augen, dass es keineswegs eine "reaktionäre" deutsche Technologiefeindlichkeit war, die den Misserfolg der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg verursachte, wie die ältere Luftkriegsforschung annahm. Das Scheitern von Görings Truppe, das vor dem Hintergrund der übersteigerten und von der Propaganda geschürten Erwartungen besonders drastisch wirkte, gründete in jenem "strukturellen Dilemma" zwischen dem Bedarf der Front (Fluggerät, Infrastruktur, gut ausgebildete Piloten) und den tatsächlich vorhandenen Kapazitäten, welches die deutsche Kriegführung insgesamt prägte. Je aussichtsloser die Kriegslage, desto bestimmender wurde auch die kompensatorische Rolle der Ideologie. Gerade die "Kerngeneration der Luftwaffe", die den Jahrgängen 1911 bis 1920 entstammte, suchte beim "fliegenden Schwert" nicht nur die "traditionellen" Bilder militärischer Männlichkeit zu erfüllen (249), sondern wurde auch von einer ausgeprägten Technikfaszination motiviert.
Angesichts dieses Befundes ist es umso verwunderlicher, dass Kehrt auf Jeffrey Herfs Interpretament des reactionary modernism zurückgreift, um das vermeintliche Paradoxon zwischen Diskurs und Praxis zu erläutern. [3] Die Bilder des Luftkriegshelden und der Habitus des "moderner Kriegers" erscheinen allein vor dem Hintergrund der normativen Modernisierungstheorie als "reaktionär", das heißt nicht dem Gleichklang von liberaler Ordnung und Fortschritt entsprechend. Indes schmälert dieser Einwand keinesfalls den Erkenntnisgewinn dieser lesenswerten Studie, der in dem fundierten Einblick in die habituelle, praktische und technische Dimension des Luftkrieges liegt.
Anmerkungen:
[1] Hermann Göring: Geleitwort, in: Karl Theodor Haanen: Flieger vor die Front! Ruf und Befehl an die deutsche Jugend, Berlin 1936, o.S.
[2] Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt, Hamburg 1932, S. 104. Dort auch das folgende Zitat.
[3] Jeffrey Herf: Reactionary Modernism. Technology, Culture, and Politics in Weimar and the Third Reich, Cambridge u.a. 1984.
Fernando Esposito