Monique Dubois: Zentralperspektive. In der florentinischen Kunstpraxis des 15. Jahrhunderts (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte; Bd. 78), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2010, 175 S., 194 Farbabb., ISBN 978-3-86568-475-2, EUR 29,00
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Der großformatige, reich bebilderte Band weckt hohe Erwartungen und die These, die auf dem Umschlag zu lesen ist, dass die "Zentralperspektive", deren "Erfindung" allgemein Brunelleschi und Alberti zugeschrieben wird, in der Florentiner Malerei eine "nur sehr partielle Akzeptanz" fand, macht neugierig. Im Zentrum der Untersuchung stehen Werke von Florentiner Malern des 15. Jahrhunderts. Zusätzlich werden in zwei Kapiteln Reliefs Florentiner Bildhauer und Werke der Intarsienkunst behandelt. Ein Vergleich mit der gleichzeitigen niederländischen Malerei soll die Florentiner Besonderheiten der Wirklichkeitswiedergabe verdeutlichen.
Das einleitende Kapitel über "Entdeckung und Theorie der Zentralperspektive" geht kurz auf die antiken und mittelalterlichen "Vorläufer" ein. Die Geschichte der Optik wird angerissen, indem deren wichtigste Vertreter genannt werden. Die knappen Hinweise werden allerdings jenen, die sich auf diesem wissenschaftsgeschichtlichen Gebiet nicht auskennen, kaum eine rechte Vorstellung vom Stellenwert der Optik für die Kunstentwicklung vermitteln können.
Dass der Architekt Filippo Brunelleschi die ersten perspektivisch konstruierten Bilder geschaffen hat, gilt als sicher, doch darüber, wie diese Bilder entstanden sind, wurde in der Forschung heftig gestritten. Die Verfasserin referiert die verschiedenen Deutungen. Die "Entdeckung der Zentralperspektive im Spiegelbild" wird als konkrete Möglichkeit genannt, doch wie die Umsetzung in ein konstruiertes Bild möglich wäre, wird nicht gesagt. Die alte These, dass die Bilder aus Grundriss und Aufriss konstruiert worden seien, wird wiederholt, doch das Problem, woher Brunelleschi maßstabsgleiche Grund- und Aufrisse gehabt haben soll, wird nicht angesprochen. Die Darstellung des Konstruktionsverfahrens im Anhang geht letztlich von einem Messvorgang aus. Die Verfasserin verweist dabei auf Quadrant und Astrolabium. Dass deren "Scheibe" der Bildebene entsprechen solle, auf die die Punkte übertragen werden, gibt zu der Vermutung Anlass, dass die Verfasserin keine konkrete Vorstellung davon hat, wie man mit diesen Instrumenten zu Bildpunkten kommen könnte. Dann wird auch das letztlich auf Euklid zurückzuführende Verfahren der Höhenmessung mit einem vertikalen Messstab angeführt. Das entscheidende Problem der Fixierung des Augenpunktes, das dabei zu lösen wäre, wird nicht angesprochen. Die Verfasserin bleibt bei einem "wir wissen nicht" wie Brunelleschi seine Bilder konstruierte. Zu Recht stellt sie fest, dass seine Konstruktion ohne "den Fluchtpunkt" auskommt, meint aber doch, dass sie ihn impliziert und dass Brunelleschi die Bedeutung von Augenpunkt und Fluchtpunkt als wesentliche Merkmale der Zentralperspektive erkannt habe. Wenn er mit dem Wissen von der Geometrie des Fluchtpunktes an seine Bilddemonstrationen herangegangen wäre, hätte er sich doch vielleicht passendere Objekte ausgesucht als das Oktogon des Baptisteriums und den über Eck gesehenen Palazzo Vecchio, bei denen es keinerlei senkrecht zur Bildebene verlaufende Linien wiederzugeben gab, die in der Projektion im Hauptpunkt zusammenlaufen würden.
In der Darlegung der Perspektivlehre Albertis unterlässt es die Verfasserin, auf den von Alberti erfundenen "velo" einzugehen, ein auf einen Rahmen gespanntes, gerastertes dünnes Tuch, das es ermöglichte, die Lage der Bildpunkte auf ein ebenso gerastertes Blatt zu übertragen. Der "velo", mit dem die Auffassung des Bildes als Durchschnitt durch die Sehpyramide und als "Fenster" zu demonstrieren war, war das Zwischenglied zwischen Brunelleschis Bildexperimenten und Albertis Konstruktionsanleitung. Mit ihm konnten komplexe, unregelmäßig geformte Objekte in Verkürzung gezeichnet werden. Dieses Instrument lehrt, dass die Fluchtpunktkonstruktion nicht am Anfang der Entwicklung stand und perspektivische Verkürzung auch ohne diese praktiziert werden konnte. Allerdings konnten mit diesem Gerät nur tatsächlich vorhandene Objekte wiedergegeben werden. Der entscheidende Fortschritt der dann von Alberti entwickelten Perspektivkonstruktion bestand darin, dass damit nach freier Erfindung eine Bühne für die in der "Historie" darzustellenden Figuren und Dinge geschaffen werden konnte.
Alberti begründete mit seiner später so genannten "costruzione legittima" die Fluchtpunktperspektive. Die Verfasserin weist darauf hin, dass Alberti "auf den einheitlichen Fluchtpunkt als solchen nicht näher eingeht" und hebt zu Recht hervor, dass der Begriff "punctus centricus", den Alberti für den Konvergenzpunkt der im Bild verkürzten Orthogonalen verwendet, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zentralstrahl der Sehpyramide steht. Nicht richtig ist jedoch die Behauptung, dass Alberti diesen Punkt in die Mitte gesetzt wissen wollte. Er bleibt vielmehr unbestimmt. Den Punkt bringt er an, wo es ihm passt ("dove me paia"). Es sei aber gut ("sara bene") ihn nicht höher anzubringen als die für das Bild angenommene Höhe eines Menschen. Wenn Alberti sich nicht dezidiert zur Lage des "punto centrico" äußert, muss man daraus schließen, dass ihm die geometrischen Grundlagen seiner Konstruktion nicht in vollem Umfang klar waren. Das betrifft auch die von ihm vorgeschlagene Probe der Konstruktion auf ihre Richtigkeit mittels der "Diagonalkontrolle". Dass die Diagonalen durch die Quadrate des konstruierten Pavimentes in den Distanzpunkten konvergieren, war ihm offensichtlich noch nicht bewusst. Es ist ein grundsätzlicher Fehler dieser wie vieler anderer Arbeiten zu den Anfängen der Perspektive, dass sie nicht bedenken, dass es bis zur vollständigen Klärung der geometrischen Regeln der Perspektivkonstruktion, die in den Traktaten von Vignola und Danti und von del Monte geleistet wurde, noch mehr als ein Jahrhundert dauern sollte.
Die vorliegende Untersuchung der konstruierten Perspektive in der Florentiner Malerei ist fokussiert auf drei Aspekte, die als konstitutive Komponenten herausgestellt werden: Einheitlicher Fluchtpunkt, korrekte Lage der Transversalen und "Ansicht auf Augenhöhe". Der durchgängig benutzte Begriff der "Augenhöhe" meint nach der Definition der Verfasserin die Übereinstimmung der Horizontlinie mit der Augenhöhe der dargestellten Figuren. Sie stellt fest, dass die hier geprüften Bilder fast ausnahmslos nicht in Augenhöhe der tatsächlichen Betrachter angebracht sind, was bei genauer Kenntnis und strenger Befolgung der Perspektivregeln doch zu erwarten wäre. Dieser wichtige Befund wird leider nur konstatiert, die Konsequenzen, die sich für die Bildauffassung ergeben, werden nicht erörtert. Dazu hätte auch eine grundlegende Untersuchung des Problems des Horizontes gehört. Man vermisst auch eine systematische Erörterung der verschiedenen Thesen zur Symbolik des Fluchtpunktes. In dem Kapitel, das - auf den Spuren von Daniel Arasse - der Perspektive in Darstellungen der Verkündigung gewidmet ist, erfährt man, dass es nahe liege, "die tiefe Raumflucht und den Fluchtpunkt als Symbol für das Nichtdarstellbare der Menschwerdung Christi und die Unendlichkeit Gottes zu interpretieren", doch historische Belege für die so behauptete Metaphysik des Fluchtpunktes werden nicht geliefert.
Im Kapitel über die "Gestaltungsprinzipien der Malpraxis" soll deutlich gemacht werden, dass in der Frührenaissance-Malerei an tradierten Darstellungsprinzipien festgehalten wird, die den Regeln der Perspektive entgegenstehen. So findet man auch nach der Jahrhundertmitte noch eine ansteigende Staffelung hintereinanderstehender Figuren, wo man nach den Perspektivregeln Isokephalie erwarten müsste. Ebenso kann man immer wieder die Divergenz von Raum- und Figurenperspektive oder die "Übergröße" einzelner Figuren feststellen, womit der von Alberti aufgestellte Grundsatz der Proportionalität verletzt wird. Leider bleibt die Verfasserin beim Konstatieren der Phänomene und dringt nicht zu grundsätzlichen Fragen der Bildauffassung vor.
Unter der Überschrift "Andere Verfahren der Raumdarstellung" wird zunächst die immer wieder angeführte Sinopie zu Uccellos "Anbetung des Kindes" behandelt, die ein Bodenraster zeigt, das sich aus den Linien ergibt, die zu einem mittleren und zwei seitlichen Fluchtpunkten geführt wurden. Diese Konstruktion lässt einen daran zweifeln, ob Uccello schon bewusst gewesen ist, dass die Fluchtpunkte der Linien, die die Bildebene im Winkel von 45° durchschneiden, die Distanzpunkte sind, denn dann hätte er bei seinem Wandbild mit einer Betrachterdistanz gerechnet, die nur die halbe Bildbreite beträgt. Man wird hier wieder auf die Frage nach der offensichtlich nur sukzessive erfolgten Erschließung der Perspektivregeln verwiesen. Dass dann unter den alternativen Perspektivverfahren auch die "umgekehrte Perspektive" erwähnt wird, ist schwer zu begreifen. Die Perspektive, mit der sich die Kunstgeschichte befasst, ist ein auf geometrischen Regeln gründendes Darstellungsverfahren. Eine Regel der "umgekehrten Perspektive" gibt es nicht. Sie ist eine ahistorische Rückprojektion, die aus dem neuzeitlichen Wissen der Perspektivgesetze argumentiert. Die Verfasserin behandelt dann die "Parallelprojektion, bei der die Orthogonalen parallel verlaufen und sich entlang einer Fluchtachse treffen". Auch die sogenannte Fluchtachse ist ein kunstgeschichtliches Konstrukt, das es in der Malpraxis nie gegeben hat. Es wurde mit dem Wissen der Linearperspektive postuliert, doch von einem "Konstruktionsverfahren" könnte man nur sprechen, wenn - so wie Alberti zunächst den Zentralpunkt setzt - zuerst die Fluchtachse gezeichnet worden wäre, von der aus die verkürzten Orthogonalen gezogen worden wären. Doch das ist bislang nirgendwo nachgewiesen worden.
Ein besonders wichtiges Anliegen der Verfasserin war es, herauszustellen, dass es in der antiken Wandmalerei Parallelprojektion und Zentralperspektive gab und dass der antike Einfluss für die Entwicklung der Perspektive in der Frührenaissance entscheidend war. Mit diesem Argument wird der gewichtige Einwand zur Seite geschoben, dass im 15. Jahrhundert nach jetzigem Wissensstand kein einziges der hier für die antike Perspektivkonstruktion angeführten Beispiele antiker Malerei bekannt war. Was die Frage der Perspektive in der Antike anbelangt, wäre es gut gewesen, wenn die Verfasserin die Dissertation von Berthold Hub (Die Perspektive in der Antike. Archäologie einer symbolischen Form, Frankfurt a.M. 2008) zur Kenntnis genommen hätte, der einen fundierten Überblick über die lange Geschichte der Auseinandersetzungen um dieses Problem geliefert hat. Die immer wieder diskutierten Stellen bei Vitruv konnten in der Frührenaissance nicht weiterhelfen. Die These der Verfasserin: "Das für die Zentralperspektive wichtigste Gestaltungsprinzip, das die Renaissance von der Antike übernahm, ist die Bildparallelität", ist zu bestreiten. Die Bildaufgabe, bei der schon in der Trecentomalerei die frontale Wiedergabe von Architektur bevorzugt wurde, war die Innenraumdarstellung. Bei Pietro Lorenzetti kam es zur Gleichsetzung der geöffneten Vorderfront des dargestellten Bauwerks mit dem Bildrahmen. Für dieses Konzept, das sich schon bald weitgehend durchsetzte und in dessen Tradition auch Masaccios "Trinität" steht, liefern die von der Verfasserin angeführten Beispiele der antiken Malerei kein Vorbild.
Insgesamt vertraut die Arbeit allzu sehr auf die Suggestivkraft der eingezeichneten Fluchtlinien. Die Beschränkung auf diese Art der Linearperspektive verkürzt die Problemlage unangemessen und zeichnet ein verzerrtes Bild. Nicht einzusehen ist auch, warum die Perspektivlehre Piero della Francescas ausgeblendet wurde, der die Theorie entscheidend weiterentwickelt und zugleich Defizite der Perspektivkonstruktion sichtbar gemacht hat. Die These, dass die "Zentralperspektive" als "maniera" aufgefasst wurde, die die Künstler anwenden oder ignorieren konnten, kann man allenfalls halten, wenn man ausschließlich auf diese spezielle Form der Wiedergabe von Körper und Raum blickt. Das perspektivische Bild war mit der Frührenaissance zu einem Postulat geworden, das kein Künstler ignorieren konnte und an dem sich ein Leonardo in Theorie und Praxis abarbeitete. Man orientiert sich auch in eine falsche Richtung, wenn man die Bemühungen um die Perspektive unter dem Schlagwort des "Naturalismus" subsummiert, wie es die Verfasserin macht. Vitruv postulierte, dass nur solche Bilder zu billigen seien, "quae sunt similes veritati". Das Konzept des "verisimile", der Wahrscheinlichkeit, das auch von der antiken Rhetorik bekräftigt wurde, wurde zum Fundament der Bemühungen um das neue Bild. Über das, was diese Wahrheit ist, hat man sich allerdings immer wieder gestritten. In der Frage der Perspektive standen fortan zwei Lager einander gegenüber. Michelangelos Ablehnung der Linearperspektive fand ihre Antwort in Fresken wie denjenigen Peruzzis in der Villa Farnesina, die ein Ausgangspunkt der bald schon blühenden Quadratura-Malerei waren.
Frank Büttner