Volker Bauer / Holger Böning (Hgg.): Die Entstehung des Zeitungswesens im 17. Jahrhundert. Ein neues Medium und seine Folgen für das Kommunikationssystem der Frühen Neuzeit (= Presse und Geschichte - Neue Beiträge; Bd. 54), Bremen: edition lumière 2011, XVII + 479 S., ISBN 978-3-934686-82-3, EUR 44,80
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Die frühen gedruckten periodischen Zeitungen, ihre Vorläufer und ihre Wirkungen auf das frühneuzeitliche Mediensystem behandelt der lesenswerte Sammelband mit den Beiträgen einer Tagung zum 400. "Geburtstag" (2009) des Wolfenbütteler "Aviso", der zweiten gedruckten Wochenzeitung der Welt. Entscheidend an der periodischen Zeitung war, das Zeigen mehrere Beiträge, die Verstetigung des Nachrichtenflusses, der erst als Folge der Entwicklung eines funktionsfähigen Postsystems denkbar wurde und die kalkulierbare Auffindbarkeit und allgemeinere Zugänglichkeit von Nachrichten ermöglichte.
Die Bedeutung der Post- und Botenkurse zeigt sich im etwas zornigen Beitrag (145f.) Martin Welkes. Der Altmeister der Zeitungsforschung nutzt die genaue Kenntnis der Nürnberg-Hamburger Botenkurse, um die zeitliche Priorität und qualitative Überlegenheit der Straßburger "Relation" über den "Jubilar" aus Wolfenbüttel zu belegen. Damit revidiert er bis heute gängige (147) Urteile der nationalistischen Zeitungsforschung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sowie der nationalsozialistischen Pressegeschichte, die dem damals französischen Straßburg nicht die Ehre der ersten Zeitung der Welt überlassen wollten.
Wie der Aviso so waren auch alle anderen gedruckten Zeitungen auf den Nachrichtenfluss angewiesen, der sich seit etwa der Mitte des 16. Jahrhunderts von Italien her in kommerziell betriebenen Korrespondenznetzen entlang der Poststationen entfaltet hatte. Diese handschriftlichen "Geschriebenen Zeitungen" wöchentlich zu drucken minderte, so Heiko Droste, deren Aktualität leicht, deren Exklusivität deutlich und deren Preis um das Vier- bis Zwölffache (19). Interessanterweise bezeichneten die Zeitgenossen mit "Zeitung" lange unterschiedslos geschriebene und gedruckte Nachrichten (16).
Dies bestätigt Holger Böning in seinem wie immer quellengesättigten, differenzierten und systematischen Vergleich geschriebener und gedruckter Zeitungen, der die Produzenten, Konsumenten, Preise und Auflagen umfasst. Vor allem in grossen Städten koexistierten die beiden medialen Formen nebeneinander, wobei die gedruckten leichter zu zensurieren waren, aber weniger Wirtschaftsnachrichten boten. Der Niedergang der geschriebenen Zeitung setzte am Ende des 17. Jahrhunderts ein und beschleunigte sich nach 1750.
Auch die sogenannten "Neuen Zeitungen", seit dem frühen 16. Jahrhundert unregelmässig gedruckte, oft illustrierte einzelne Sensationsnachrichten, als weiteres Vorläufermedium wurden seit dem Dreißigjährigen Krieg von den regelmässigen gedruckten Zeitungen verdrängt und überlebten nur noch in Nischen bis ins 18. Jahrhundert, wie Helmut W. Lang mit eindrücklichen, wenn auch nicht ganz unproblematischen Zahlen zeigt (84).
Eine vielfältige Beziehung der gegenseitigen Nutzung bestand laut Daniel Bellingradt zwischen der akzidentiellen "Flugpublizistik" - Einblattdrucke, Flugblätter und Flugschriften - und den periodisch gedruckten Zeitungen. Informationen "wanderten" aus dem Bereich des Mündlichen in die Flugpublizistik und von dort in die periodischen Medien (Zeitungen und Zeitschriften) - und zurück. Allerdings gab es auch Fälle in denen die verschiedenen Mediengattungen sich nicht wahrnahmen.
Doch die Zeitungen verdrängten nicht nur ältere Medien, sie alimentierten diese auch. So bezogen die traditionellen Kalender (Klaus-Dieter Herbst), die Messrelationen (Martina Stalljohann) und die "Geschichts-Romane" (Günter Dammann, Gerhild Scholz Williams) ihr Material teilweise aus den gedruckten Periodika.
Andererseits generierten die gedruckten Zeitungen, und darin liegt nicht zuletzt ihre überragende medienhistorische Bedeutung, auch neue Mediengenres wie etwa die monumentalen Fortsetzungschroniken "Diarium Europaeum" und "Theatrum Europaeum" (Sonja Schultheiß-Heinz) oder die Gattung der "Zeitungsextrakte", wie Esther-Beate Körber konzise darlegt. Erste Versuche, die überbordende Nachrichtenfülle zu selektieren, bezogen sich am Ende des 16. Jahrhunderts noch auf die geschriebenen Zeitungen, doch die zusätzlich ordnende Funktion der Zeitungsextrakte entwickelte sich erst als Reaktion auf die gedruckten Zeitungen seit den 1660er Jahren und die erklärende und werbende erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Verschiedene Veränderungen der Mediensituation und des Konsumverhaltens läuteten in den 1770er Jahren das Ende dieser Gattung ein.
Ganz der erklärenden Funktion verschrieben sich die um 1700 aufkommenden Zeitungslexika. Ihre Vorläufer im Bereich der Wörterbücher und Briefsteller verwiesen seit dem späten 17. Jahrhundert in ihren Titeln auf die Zeitungen und das berühmte Hübnersche Zeitungslexikon (1704, 31. Aufl. 1828), das übrigens von Philipp Balthasar Sinold genannt von Schütz verfasst wurde, beschränkte sich auf die Erklärung von zeitungsrelevanten Inhalten. Es lebte davon, dass "Zeitungsnachrichten vergesellschaften" (376). Allerdings waren die Informationen in Zeitungslexika oft nicht zuverlässig (373).
Der Einfluss der Zeitung auf das Modell der gelehrten Zeitschrift, das aus Europa übernommen wurde (Journal des Sçavans, Paris 1665, Philosophical Transactions, London 1665) und eine Art kritische, gedruckte und illustrierte Gelehrtenkorrespondenz über Bücher, Experimente und Beobachtungen sowie Personalnachrichten bot, äußerte sich, so Thomas Habel, in der Taktung, während die Inhalte neu und die formale Aufmachung am Buch orientiert waren.
Auch die Entstehung der populären Zeitschriften war an die Zeitungen gekoppelt, als deren Supplemente sie zunächst an das allgemeine Publikum gebracht wurden, wie Flemming Schock darlegt. Sie ergänzten den Nachrichtenjournalismus der Zeitungen durch Kommentare und Urteile.
Eindrücklich zeigt Volker Bauer die Wirkung der Zeitung auf die gelehrten Universalgenealogien, die im 16. Jahrhundert in Form von lateinisch geschriebenen, oft mehrbändigen Folianten die Herkunft berühmter Familien von biblischen und antiken Ursprüngen bis ins Mittelalter beschrieben. Ein erster Anpassungsschub führte zu kleineren Formaten und einer Aktualisierung insofern, als die Genealogien erst um 1400 einsetzten und bis in die Gegenwart geführt wurden (395-398). Seit den 1670er Jahren beschränkten sich die nun zunehmend deutsch verfassten Universalgenealogien auf die Behandlung "jetztlebender" (399) Familien. Seit 1717 erschienen Universalgenealogien in jährlich aktualisierter, dem Kalender angenäherter Form. Die Erhöhung der Erscheinungshäufigkeit war möglich, weil Universalgenealogien die Personalia-Nachrichten der Zeitungen und Zeitschriften auswerteten und umgekehrt dem Zeitungsleser ein ideales Nachschlagewerk für alle dynastischen Zusammenhänge boten.
Insgesamt bietet der Sammelband wertvolle und neue Einblicke in die Medienwelt des 17. Jahrhunderts. Er erhellt Zusammenhänge der Zeitungen mit ihren Vorläufermedien und insbesondere ihre Auswirkungen auf andere, zum Teil von der Zeitung angestoßene Medientypen. In der Zusammenschau fällt auf, dass viele dieser neuen Medienformen und -typen sich zwischen 1660 und 1700 ausprägten. Offensichtlich veränderte sich das Mediensystem (Johannes Arndt) in diesen Jahrzehnten in eine Richtung, die man als Entstehung der modernen Öffentlichkeit - hundert Jahre eher, als Jürgen Habermas 1962 vorschlug - bezeichnen kann. Wenn auch der Wolfenbütteler Aviso als der eigentliche "Jubilar" des Bandes etwas zu kurz kommt, so freut sich der Leser über die soliden und spannenden Beiträge zur Schlüsselposition der Zeitung im Mediensystem des 17. Jahrhunderts. Umso dringlicher rufen die mehrfachen Hinweise auf die desolate Quellenlage (63, 66, 68, 162, 165, 203, 245, 436) nach einer koordinierten Digitalisierung der Zeitungsbestände des 17. und 18. Jahrhunderts.
Andreas Würgler