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Rolf-Dieter Müller: Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik. Die Biographie (= Veröffentlichungen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes 1945-1968; Bd. 7), Berlin: Ch. Links Verlag 2017, 2 Bde., 1372 S., ISBN 978-3-86153-966-7, EUR 98,00
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Rezension von:
Armin Wagner
Dresden
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Armin Wagner: Rezension von: Rolf-Dieter Müller: Reinhard Gehlen. Geheimdienstchef im Hintergrund der Bonner Republik. Die Biographie, Berlin: Ch. Links Verlag 2017, in: sehepunkte 18 (2018), Nr. 9 [15.09.2018], URL: https://www.sehepunkte.de
/2018/09/31212.html


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Rolf-Dieter Müller: Reinhard Gehlen

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Lebensbeschreibungen von Feldherren und Generalen kommen häufig dickleibig daher. Ein Klassiker wie Winstons Churchills Buch über seinen Vorfahren, den Herzog von Marlborough, bringt es in der Manesse-Ausgabe von 1990 auf 1.083 Seiten. Für Paul von Hindenburg durften es 2007 bei Wolfram Pyta 1.120, für Generaloberst Friedrich Fromm zwei Jahre zuvor bei Bernhard R. Kroener 1.060 Seiten sein. Daran scheint Rolf-Dieter Müller Maß genommen zu haben, einer der besten Kenner der Wehrmacht, der dem im Dezember 1944 vom Oberst zum Generalmajor beförderten Reinhard Gehlen jetzt 1.372 Seiten einräumt. Das ist zu viel. Gleichwohl verwundert der Umfang nicht. Wie sollte ein Historiker widerstehen, der sich im ersten Teil seiner Biografie in extenso auf sein Spezialgebiet kaprizieren kann - hier im Besonderen auf eine dichte Beschreibung von Arbeitsweise und Atmosphäre im Oberkommando des Heeres (OKH). Dort war der junge, pragmatische Generalstabsoffizier Reinhard Gehlen u.a. Adjutant von Generalstabschef Franz Halder, um schließlich die Abteilung Fremde Heere Ost (FHO) zu übernehmen - kein militärischer Geheimdienst, wie bis heute oft dargestellt, sondern verantwortlich für die Auswertung von der Front eintreffender Informationen über die Rote Armee. Gehlens Tätigkeit im OKH beschreibt Müller allerdings vielfach im Konjunktiv; quellenmäßig lässt sich der gelernte Artillerist in dieser Zeit nicht immer konkret fassen. Im zweiten Teil der Biografie dominieren dann Forscherglück und Finderstolz: Im Rahmen der Unabhängigen Historikerkommission zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes sind so viele Quellen erstmals in die Hände der Kommissionsmitarbeiter gelangt, dass allein deren Sichtung eine wahre Herkulesarbeit gewesen sein muss. Und scheinbar alles will erzählt sein.

Müller ist ein belesener Biograf, der umfassend in deutschen, amerikanischen und britischen Archiven, sogar im Stadtarchiv Haifa recherchiert hat. Die vier großen Teile des zweibändigen Opus ("Der General", "In US-Diensten", "Auf dem Weg zum Bundesnachrichtendienst", "Der Präsident") werden mit über 3.000 Fußnoten unterfüttert. Dem Autor gelingt, über das Buch verteilt, immer wieder ein Psychogramm Gehlens, das gerade dort überzeugt, wo es die widersprüchlichen Charakterzüge des Protagonisten nicht in Deckung zu bringen versucht. Die Wahl des Offizierberufs durch den 1902 in Erfurt geborenen und in Breslau aufgewachsenen Gehlen war in den 1920er Jahren eher ungewöhnlich, zumal es keine ausgeprägte familiäre Vorbelastung gab. Von Anfang an ehrgeizig, fleißig, akkurat, auch streberhaft, besaß Gehlen das diplomatische Talent zur Rückversicherung. Zur Kühnheit drängte es ihn dagegen offenkundig nie. Müller zeigt, wie Gehlen schon in seinem Artillerieregiment Kameraden begegnete, die sich Jahrzehnte später in der nach ihm benannten Organisation Gehlen (kurz: Org) wiederfanden. Die Generalstabsausbildung absolvierte er brillant. Im OKH protegierten ihn so unterschiedliche und sich in Abneigung verbundene Offiziere wie Halder und Erich von Manstein. Gehlen wurde Operateur, nicht Weltanschauungskrieger; er war weit davon entfernt, jemals Widerstand zu leisten, aber er war ein Mann des Heeres, kein Parteigänger des Nationalsozialismus. Am 20. Juli 1944 befand er sich im Lazarett.

Als Leiter von FHO beschäftigte sich Gehlen zwar qua Amt intensiv mit der Roten Armee, ein "Russlandkenner" wie der vormalige Militärattaché Ernst Köstring oder der Abwehrexperte Hermann Baun war er jedoch nicht - weder kannte er das Land aus eigener Anschauung noch beherrschte er die Sprache. Er musste den Spagat bestehen, seine Prognosen so im Ungefähren zu halten, dass sie nie völlig falsch, vor allem aber nie defätistisch erschienen. "Semantisches Tricksen" nennt Müller dies (239), während Hitler den "Märchenerzähler" Gehlen (258) Ende März 1945 schließlich in die sogenannte Führerreserve versetzen ließ. Aber der kühle Analytiker ahnte um den Wert seiner Unterlagen für die Amerikaner nach dem absehbaren Kriegsende. Vielfach beschrieben wurden in der bisherigen Literatur die beiden angeblichen Gründungspakte der Org: So habe sich Hermann Baun Anfang April 1945 im sächsischen Bad Elster Gehlen unterstellt; und im August 1946 habe Gehlen mit dem Leiter des Nachrichtendienstes der U.S. Army in Europa ein "Gentleman's Agreement" über die Verwendung der alten FHO auf Augenhöhe getroffen. Mit beiden, ohnehin lange angezweifelten Legenden räumt Müller abschließend auf: Die Org war eine amerikanische Hilfstruppe und nur den USA zur Loyalität verpflichtet. Gehlen blieb Befehlsempfänger.

Das ausschließlich militärische FHO-Erbe war Last und Chance zugleich für die junge Org. Sie konnte über ihr Instrumentarium der Truppenbeobachtung, aber auch durch die Befragung zurückkehrender deutscher Kriegsgefangener an alte Methoden anknüpfen und damit den Amerikanern ein taktisches Wissen liefern, das diese aus eigenen Quellen nicht besaßen. Hinsichtlich der order-of-battle-intelligence über die Sowjetarmee sei die Org das Beste gewesen, was es auf der Welt gegeben habe, hieß es damals, allerdings durch Observation, nicht durch Penetration - während sie in der politischen Spionage weniger als ein Prozent der nutzbaren Informationen geliefert habe.

Zwischenzeitlich löste sich die Frage, ob Gehlen oder Baun diesen Dienst führen würden. Letzterem fehlte das Händchen im Umgang mit den Amerikanern, und seine konzeptionellen Vorstellungen eines weltweit operierenden, die Sowjetunion geographisch einkreisenden Nachrichtendienstes waren utopisch. So wurde der anpassungsfähige Nicht-Nachrichtendienstler Gehlen letztlich dem Profi Baun vorgezogen. Gehlen interessierte sich folgerichtig auch kaum für das nachrichtendienstliche Geschäft als solches - ihm ging es um das politische Überleben seines Apparates. Dafür antichambrierte er in Washington wie später bei seinem "Marsch auf Bonn" (734), blieb opportunistisch und intrigant: Baun, Gerhard Graf von Schwerin, Friedrich Wilhelm Heinz, Otto John - Gehlen verstand es, sich gegen alle Konkurrenten durchzusetzen, auch wenn sein beharrlich verfolgter Plan, nur einen offiziellen westdeutschen Nachrichtendienst für In- und Ausland zu etablieren, nicht aufging. Er erkannte schnell den Wert einer engen nachrichtendienstlichen Beziehung zu Frankreich, blieb aber zugleich "Atlantiker", nicht innerlich überzeugt von der amerikanischen Demokratie, aber mit einem feinen Gespür für die Absicherung der eigenen Position.

Wie sich Gehlen bis 1968 zwischen beiden Hauptstädten durchlavierte - mal dort mehr, mal hier weniger gelitten, mal mit der CIA auf seiner Seite, mal in deren kritischem Fokus -, beschreibt Müller aus einer enormen Dichte an Quellen, die auch Auskunft geben über die Agonie des Bundesnachrichtendiensts (BND) nach Felfe- und "Spiegel"-Affäre Anfang der 1960er Jahre und über die tiefe Entfremdung Gehlens von seinem einstigen FHO-Ziehkind und Nachfolger als BND-Präsident Gerhard Wessel. Sein intensivster politischer Kampf richtete sich gegen die Eingliederung der militärisch ausgerichteten Org in das Verteidigungsministerium, für eine Direktanbindung des BND an den Bundeskanzler, womöglich auch mit Ministeriumsrang. Müllers Arbeit legt nahe, dass das Jahr 1956 eine größere Zäsur für Gehlens Truppe bedeutete als 1945, obwohl man nun wieder ein deutscher Dienst war, kein US-Zuträger. Aber aus einer Art Familienunternehmen wurde nun eine Bundesbehörde. Der von vielen Zeitzeugen beschriebene besondere Geist der FHO und Org ging allmählich verloren.

So aus der Zeit gefallen Gehlen am Ende seiner beruflichen Laufbahn wirkte, so wenig echter Demokrat er war, so klar betont Müller auch die Erfolge dieses bis in die Knochen vom Generalstabsdienst geprägten Offiziers. Im Ostblock, so hieß es, genieße der BND höheres Ansehen als in Bonn und gelte als bester westlicher Nachrichtendienst. Durch die Unterwanderung rechtskonservativer und nationalistischer Soldatenverbände trug er zur inneren Stabilisierung der Bundesrepublik bei. Als wesentlich kann der Anteil Gehlens daran gelten, im Zuge der Wiedererlangung der außenpolitischen Souveränität der jungen Bundesrepublik an einer entscheidenden sicherheitspolitischen Schnittstelle die Balance westdeutscher und amerikanischer Interessen gehalten zu haben. Überdeckt wurden diese Leistungen von der seit 1961/62 intern wie extern anschwellenden Kritik an ihm, durch sein Versäumnis, rechtzeitig abzugehen, und schließlich seine ungelenke publizistische Kampagne gegen die sozialliberale Ostpolitik.

Soll der Ausuferung der Darstellung mit Nachsicht begegnet werden, weil Historiker eben gold digger sind und dabei angesichts zahlreicher neuer Quellen häufig nicht sofort erkenntlich wird, was Nugget und was Sandkorn ist, muss doch die Frage aufgeworfen werden, ob diese Biografie forschungsstrategisch klug platziert ist. Die Bände der Unabhängigen Forscherkommission behandeln Org und BND in breiter Perspektive (und riesigem Umfang), ohne sich nur auf personelle und mentale Kontinuitäten zum Nationalsozialismus zu konzentrieren. Sie thematisieren auch das nachrichtendienstliche Handeln des Dienstes bis zum Ende der Ära Gehlen. Die Biografie des BND-Gründers und "Übervaters" wäre ein Abschluss dieses ambitionierten Vorhabens gewesen, in dem zentrale Befunde noch einmal hätten hinterfragt und abschließend gebündelt werden können. Diese Chance zur inneren Zusammenführung der Reihe wurde nicht genutzt. Umso mehr bleibt zu hoffen, dass nach Vorliegen aller im Editionsplan angezeigten Bände noch eine separate Synthese der vielfältigen Resultate auf wenigen hundert Seiten erfolgen wird, um das "BND-Projekt" für alle Zeithistoriker und das interessierte Publikum greifbarer zu machen.

Armin Wagner