Robert Irwin (ed.): Islamic Cultures and Societies to the End of the Eighteenth Centuries (= The New Cambridge History of Islam; Vol. 4), Cambridge: Cambridge University Press 2010, XX + 921 S., ISBN 978-0-521-83824-5, GBP 125,00
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Band IV des sechsbändigen Nachschlagewerkes The New Cambridge History of Islam trägt den Titel Islamic Cultures and Societies to the End of the Eighteenth Century. Dieser Band wurde von Robert Irwin, einem Arabisten und ausgewiesenen Kenner insbesondere der klassischen und nachklassischen arabischen Literatur, Kultur und Sozialgeschichte, herausgegeben. Das Buch gliedert sich in vier thematische Blöcke (1. Religion und Recht; 2. Gesellschaft, Politik und Wirtschaft; 3. Literatur sowie 4. Bildung, Kunst und Kultur) mit insgesamt 27 Kapiteln.
In seiner Einleitung behandelt der Herausgeber mit Sachkenntnis und stilistisch gekonnt einige generelle Charakteristika, Leitprinzipien und historische Entwicklungen des Islams als Religion und Lebensweise. Er setzt damit den Rahmen für die komplexen Fragen zu den Grundsätzen und Spezifika der islamischen Kulturen und Gesellschaften in der Vormoderne, welche der Band im Überblick zu behandeln beabsichtigt. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang die Überlegungen zu den Ursachen und Wirkungen von Krise und Reform innerhalb vormoderner islamischer Gesellschaften sowie den Akteuren, welche an diesen Prozessen beteiligt sind.
Den Auftakt zu Block Eins des Bandes ("Religion and Law") bildet Jonathan Berkeys Abriss der historischen Entwicklung des Islams (19-59). Berkey schlägt hier den Bogen vom vorislamischen Arabien und dem Auftreten Muḥammads bis hin zur klassischen und nachklassischen Periode des Islams. Diese gute, in sich geschlossene Kurzdarstellung zur Geschichte und Geistesgeschichte des Islams in vormoderner Zeit trägt Modellcharakter. Ihr folgen zunächst kenntnisreiche Ausführungen von Alexander Knysh zum Sufismus (60-104), und von Farhad Daftary zur Geschichte und den theologischen Ansichten nicht-sunnitischer Glaubensrichtungen wie den Zwölfer-Schiʿiten und kleinerer Religionsgemeinschaften wie den Ismaʿiliten (mit den aus ihnen hervorgegangenen Gruppierungen der Qarmaten und Druzen), den Zaiditen und den synkretistischen Nusairiern (105-141). Wael B. Hallaq widmet sich anschließend der islamischen Gesetzgebung bzw. einzelnen Rechtsschulen (142-183). David Wasserstein behandelt die Problematik des Übertritts zum Islam und den Status der "Schutzbefohlenen", der ahl aḏ-ḏimma, also der Juden, Christen und anderer, im Machtbereich des Islams (184-208), und Richard W. Bulliet erörtert die Frage einer "gottgewollten Ordnung" in muslimischen Gesellschaften (209-221).
Block Zwei des Bandes ("Societies, Politics and Economics") vereinigt sechs Themenbereiche. Said Amir Arjomand befasst sich mit der Legitimation und der politischen Organisation von Staatsformen im Islam wie Kalifat, Imamat, Königtum und anderen Formen der Herrschaft, einschließlich eines von Militärs oder Bürokraten gestützten Regimes (225-273).
Hugh Kennedy führt in eine grundsätzlich andere Thematik ein. Er stellt die zentrale Bedeutung der "Stadt" für islamische Gesellschaften der Vormoderne heraus und verdeutlicht, dass die "islamische Stadt" nicht nur im ökonomischen Sinne, sondern auch als wichtiges politisches, religiöses und wissenschaftliches Zentrum für die Entwicklung muslimischer Gesellschaften eine vitale Rolle spielt. Die Dynamik der Städte wird mit dem Einfluss kontrastiert, den die Nomaden auf die gesellschaftliche Entwicklung in der vormodernen islamischen Welt ausübten. Da die Nomaden eine politische, ökonomische und militärische Kraft sind, die (im Unterschied zu Westeuropa, Indien oder China) für die vormoderne islamische Welt charakteristisch sind, sind diese Überlegungen besonders wichtig (274-289).
Das Leben auf dem Lande und die Geschichte der Agrarwirtschaft bis 1800 umreist Andrew Watson (290-305); Fragen der Demographie und Migration wiederum behandelt Suraiya N. Faroqhi (306-331), gefolgt von Warren C. Schultz' Untersuchung zu den Mechanismen des Handels (332-354) sowie dem Beitrag von Manuela Marín zu Frauen, Geschlechterbeziehungen und Sexualität im Islam (355-379).
Block Drei ("Literature") wendet sich dem in der Vormoderne weitgefassten Bereich des "Buchwissens" zu. Den hier zu findenden Darstellungen gelingt es, ein eindrucksvolles und weitgehend auch ausgewogenes Bild von der kulturellen Vielfalt, geographischen Ausdehnung und Vitalität des vormodernen islamischen Schrifttums zu vermitteln. Dabei wird die arabische Literatur von Julia Bray (383-413), die persische Literatur von Dick Davis (414-423), die türkische Literatur von Ģiğdem Balim Harding (424-433) und die Urdu-Literatur von Shamsur Rahman Faruqi behandelt (434-443). Gut lesbare Überblicke speziell zur historiographischen und zur biographischen Literatur folgen aus der Feder von Li Guo (444-457) und Michael Cooperson (458-473). Michael Bonner und Gottfried Hagen (474-494) schließlich stellen verschiedene Texte von Muslimen über nicht-muslimische Gebiete vor, jene Länder also, die aus islamischer Sicht als "Haus das Krieges (dār al-ḥarb)" gelten, da sie (noch) nicht zum Einflussbereich des Islams, dem "Haus des Friedens (dār as-salām)" gehören.
In Block Vier ("Learning, Art and Culture") befasst sich Francis Robinson mit dem besonderen Stellenwert, den verschiedene Konzeptionen zu Wissen, Bildung und den Wissenschaften im Islam innehaben. Eingegangen wird dabei unter anderem auf Wege der Wissensvermittlung, Wissensaneignung und Bildungseinrichtungen ebenso wie auf solche Spezialthemen wie die spirituelle Bildung, die Kindererziehung, die Bildung von Sklaven sowie der Unterricht für Mädchen und Frauen (497-531).
Hieran schließen sich die Ausführungen von Richard C. Taylor zur islamischen Philosophie (532-563) sowie von Sonja Brentjes und Robert G. Morrison (564-639) zu den strukturbildenden Gedankenmodellen und historischen Entwicklungen vor allem der Naturwissenschaften im Islam an. Diese Autoren thematisieren ein weites Spektrum von Fragen, so unter anderem die "Übersetzungsbewegung" vom 8. bis zum 10. Jahrhundert n. Chr. (als deren Ergebnis wichtige Zeugnisse des antiken griechischen, persischen und indischen intellektuellen Erbes in arabischer Übersetzung verfügbar und zum Ausgangspunkt innovativer neuer Forschungen durch die Muslime wurden), die Tradition der Förderung wissenschaftlicher Aktivitäten durch private Geldgeber, die generellen und einige Islam-spezifische Charakteristika bestimmter Wissenschaftsdisziplinen (z. B. der Kosmologie, Astronomie und Astrologie), das dynamische Verhältnis von Wissenschaft und Kunst sowie die Stellung der Magie im Islam bzw. ihr Verhältnis etwa zur Medizin und Mathematik. Diese Gedanken rundet Nomanul Haq mit informativen Einblicken in die okkulten Wissenschaften sowie in die Medizin, welche in anderen Handbüchern zum Islam oft fehlen, ab (668-681).
Jonathan Bloom zeichnet ein großartiges Bild von der Geschichte und den Spezifika der "Koexistenz von Schrift- und oralen Kulturen" im Islam, welche er zu Recht als ein besonderes Wesensmerkmal vormoderner islamischer Gesellschaften charakterisiert (668-681). Inhaltsreiche Überblicksdarstellungen von Marcus Milwright zur islamischen Kunst und Architektur (682-742), von Anon Shiloah zur Musik (743-750) und David Waines zum Kochen (751-763) runden diesen gehaltvollen Band ab.
Am Schluss des Bandes finden sich ein kommentiertes Glossar der häufig begegnenden arabischen termini technici (764-771), eine nach Kapiteln gegliederte und in weiterführende Literatur, Primärquellen und Sekundärliteratur unterteilte Bibliographie (772-844) sowie ein allgemeiner Index (845-921). Dieser gewissenhaft erstellte wissenschaftliche Apparat erleichtert die Benutzung des Handbuches ganz wesentlich.
Abschließend ist zu sagen, dass mit dem vorliegenden Sammelband ein zweckmäßig strukturiertes, gut lesbares und, was die thematischen Inhalte betrifft, akkurat recherchiertes und verlässliches Nachschlagewerk zur islamischen Kultur- und Geistesgeschichte bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert n. Chr. vorliegt. Der Band reiht sich sinnvoll in die Gesamtkonzeption des sechsbändigen The New Cambridge History of Islam ein. Darauf hinzuweisen ist hier lediglich, dass die Einzelbeiträge Überblickscharakter tragen und natürlich nur Schlaglichter auf ausgewählte Aspekte zur islamischen Kultur-, Literatur und Wissensgeschichte werfen können; sie können und wollen keine erschöpfenden Darstellungen dieser z. T. hochkomplexen Entwicklungen liefern. Dies wirkt sich etwas nachteilig beispielsweise in den Abschnitten zu den vom Islam geprägten Literaturen aus, wo das für den vormodernen Bildungskanon zentrale Konzept des adab nur auf einigen wenigen Seiten behandelt wird. Auch die Tatsachen, dass die zitierte Primärliteratur größtenteils Übersetzungen betrifft (und nur selten die arabischen, persischen, türkischen usw. Originaltexte selbst einbezieht), sowie dass gelegentliche Hinweise auf in der Islamwissenschaft kontroverse Forschungsfragen weitgehend fehlen, sind Punkte, die hier angemerkt werden sollen.
Insgesamt ist jedoch festzustellen, dass der Herausgeber und die Autoren des Bandes mit den gewählten thematischen Schwerpunkten große Sachkenntnis und ein gutes Gespür nicht nur für die zentralen Themen der islamischen Ideengeschichte, sondern auch für jene faszinierenden Fragen der Entwicklung der arabisch-islamischen Welt bewiesen haben, welche sich gelegentlich am Rande der westlichen islamwissenschaftlichen Forschung bewegen (wie z. B. die muslimische Sicht "des Anderen", die aus den Berichten über die nicht-muslimischen Gebiet deutlich wird, oder die Frage zum Verhältnis von Magie und Islam, oder auch zur Kochkunst). Der vorliegende Band bietet eine gleichermaßen lebendige und fundierte Gesamtschau zu wesentlichen Aspekten der islamischen Kultur- und Geistesgeschichte in vormoderner Zeit; er ist eine wirkliche Bereicherung auf dem derzeit blühenden Markt der Handbücher zum Islam.
Sebastian Günther