Manfred Hettling / Jörg Echternkamp (Hgg.): Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individualisierung der Erinnerung, München: Oldenbourg 2013, 540 S., ISBN 978-3-486-71627-6, EUR 79,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Igor Narskij: Fotografie und Erinnerung. Eine sowjetische Kindheit - Wissenschaft als "Roman", Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2013
Jürgen Zimmerer (Hg.): Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt/M.: Campus 2013
Johannes Gießauf / Walter M. Iber / Harald Knoll (Hgg.): Fußball, Macht und Diktatur. Streiflichter auf den Stand der historischen Forschung, Innsbruck: StudienVerlag 2014
Jörg Echternkamp: Soldaten im Nachkrieg. Historische Deutungskonflikte und westdeutsche Demokratisierung 1945-1955, München: Oldenbourg 2014
Manfred Hettling (Hg.): Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003
Jörg Echternkamp (Hg.): Militär und Gesellschaft in Ost- und Westdeutschland 1970-1990, Berlin: Ch. Links Verlag 2021
In Zeiten, in denen die Kategorie "Transnationalität" omnipräsent ist, begehen Manfred Hettling und Jörg Echternkamp bereits ausgetreten geglaubte Pfade: Obwohl einem wahrlich transnationalen Thema gewidmet, besteht der Sammelband "Gefallenengedenken im globalen Vergleich" bewusst aus 20 Länderstudien und einem zusammenfassenden Aufsatz. Das Werk sieht sich zwar in der Tradition von George Mosse, Jay Winter und Reinhart Koselleck [1], möchte aber die Fokussierung auf einzelne Kriege und den europäischen Raum aufbrechen.
Die nationale Perspektive ist dabei, so lässt sich aus den einleitenden Worten von Hettling herauslesen, keine arbeitstechnische Erleichterung, sondern eine konzeptionelle Notwendigkeit. Die Ausformung des Nationalstaats und die Ausbildung eines politischen Totenkults fallen zeitlich eng zusammen: Der Tod des Soldaten wurde ab 1800 zu einer immens politischen Angelegenheit - und ist es trotz Ausrufung des "postheroischen Zeitalters" geblieben. [2] Das Gefallenengedenken könne in diesem Sinne, so Hettling, als Indikator gefasst werden, der es ermögliche, Fragen des historischen und politischen Selbstverständnisses von Gemeinschaften vergleichend zu analysieren. Drei Einflussfaktoren gelte es dabei komparativ zu untersuchen: die Ausdrucksformen gesellschaftlicher Teilhabe, die jeder Gemeinschaft inhärenten religiösen Vorgaben sowie die spezifisch nationalen Deutungsbedingungen.
Dabei lassen sich in der komparativen Analyse drei Charakteristika des modernen Gefallenengedenkens ausmachen: Erstens könne grundsätzlich eine Individualisierung des Totenkults in allen westlichen Ländern - laut Tino Schölz auch im stark vom Staatsshintō geprägten Japan - konstatiert werden. Anders ausgeprägt seien die Gedenkkulturen hingegen in vom Islam und dessen ausgeprägtem Jenseitsversprechen geprägten Nationen sowie in sozialistischen Ländern. Eben diese Unterschiede stellen Neil J. Diamant und Shaun Kingsley Malarney in ihren Studien zu China und Vietnam fest: In diesen beiden Ländern stünde der "Tod aus ideologischen Gründen", der "Tod des Märtyrers" für die politische Sache im Fokus des Gedenkens (121). Auch für die ehemalige Sowjetunion könne man laut Guido Hausmann eine "Heroisierung der Revolutions- und Bürgerkriegstoten" feststellen (418). Kritisch ist aber anzumerken, dass sich die Urteile für den islamischen Raum nicht mit den Ergebnissen der Länderstudien zur Türkei und zum Irak decken. Klaus Kreiser beschreibt die Unterschiede zwischen türkischer und europäischer Gefallenengedenkkultur als Ausdruck der Lenkung der Rituale durch staatliche und militärische Instanzen, die Ursachen seien sei "weniger in der Religion des Islam" zu suchen (486). Auch Ronen Zeidel, Achim Rohde und Amatzia Baram sprechen in ihrer Länderstudie zum Irak vom Krieg (und der späteren Gedenkkultur) als "Mittel zur Erzeugung einer homogenen und geeinten irakisch-arabischen Nation" (229).
Als zweiten übergreifenden Gestaltungsfaktor des politischen Totenkults fasst Hettling die Zentralität des "Pfads der Nationsbildung" (41). Kriegerische Konflikte hätten die Deutungskultur einer Gemeinschaft lange geprägt. So unterstreichen Joan Beaumont (Australien), Stefan Goebel (Großbritannien) und Jonathan F. Vance (Kanada) die überragende Bedeutung des Ersten Weltkriegs; der Zweite Weltkrieg sei "zu einem kaum sichtbaren, geradezu banalen Nachtrag zum 'Großen Krieg'" geworden (213). Ganz anders gestaltet sich das Gedenken in Deutschland (Hettling/Echternkamp) und Frankreich (Mechthild Gilzmer). Spanien dagegen, führt Carsten Humlebæk aus, sei tief geprägt durch eine Art von "Bürgerkriegskultur". Ähnliches lässt sich laut Stefan Rinke und Sylvia Dümmer Scheel auch für Chile konstatieren.
Hettling beschreibt schließlich, drittens, wie wichtig es sei, die Sinnhaftigkeit des gewaltsamen Todes zu repräsentieren - ein Phänomen, das sich auch in der gänzlich unbedrohten Schweiz (Georg Kreis) beobachten lässt. Länder wie die USA (Michael Geyer) könnten sich aufgrund des historisch anderen Pfades, den sie nach 1945 eingeschlagen hätten, weitaus ungehemmter aus dem Arsenal der Gedenkformen bedienen als etwa Italien (Michele Nani) oder Polen (Joanna Wawrzyniak). Der Krieg ist zwar - wenn auch vor allem in der Form internationaler Missionen nach Europa - zurückgekehrt, aber die Gedenkformen fehlen - von Ausnahmen wie Finnland (Agilolf Kesselring) oder die Niederlande (Piet H. Kamphuis) - weitgehend.
Manfred Hettlings und Jörg Echternkamps Sammelband spannt einen breiten geographischen und historischen Bogen. Tatsächlich lassen sich die Länderstudien mithilfe des von Hettling konzipierten Rasters mit großem Gewinn lesen. Global heißt hier nicht Europa plus USA: Absolut positiv zu werten ist die geographische Ausweitung, wobei das Fehlen einer Studie zu Afrika "nicht zuletzt der dünnen Forschungslage geschuldet ist" (10). Ein Versuch der (Ein-)Ordnung der Beiträge jenseits der alphabetischen Gliederung wäre aber sinnvoll gewesen. Ebenfalls zu loben ist die Berücksichtigung diverser Formen des materialisierten Gedächtnisses abseits des klassischen Denkmals: So werden etwa Formen des Internetgedenkens thematisiert (wie etwa im Beispiel zu Israel von Maoz Azaryahu) und somit auch Gedenkrituale des 21. Jahrhunderts berücksichtigt; ein stärkerer Fokus auf Film, Fernsehen, Erinnerungsmedien wie Schulbücher etc. wäre indes wünschenswert gewesen. Wer sich mit nationalen Erinnerungskulturen im globalen Vergleich beschäftigen möchte, kommt an diesem Band nicht vorbei.
Anmerkungen:
[1] Vgl. George Mosse: Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993; Jay Winter: Sites of memory, sites of mourning. The Great War in European cultural history, Cambridge 1995; Reinhart Koselleck / Michael Jeismann (Hgg.): Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994.
[2] Herfried Münkler: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie, Wielerswist 2006, insbesondere 310 ff.
Ina Markova