Jörg Echternkamp: Soldaten im Nachkrieg. Historische Deutungskonflikte und westdeutsche Demokratisierung 1945-1955 (= Beiträge zur Militärgeschichte; Bd. 76), München: Oldenbourg 2014, X + 540 S., ISBN 978-3-11-035093-7, EUR 49,95
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Die Transformation von einer gewaltgeprägten Kriegs- zu einer an demokratischen Werten orientierten Nachkriegsgesellschaft ist ein langwieriger und schwieriger Prozess. Die meisten historiografischen Studien konzentrieren sich entweder auf die Kriegszeit oder nehmen die Nachkriegszeit in den Fokus. Dabei vernachlässigen sie oftmals die Frage, wie der Wechsel von einem diktatorischen zu einem friedfertigen, demokratischen Staat gelingen konnte.
Jörg Echternkamp, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Halle an der Saale und Projektleiter am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, richtet den Blick in der Druckfassung seiner Habilitationsschrift nicht nur auf diesen Übergang, vielmehr verbindet er die politische Frage des Systemwechsels in (West-)Deutschland mit der kultur- und politikgeschichtlichen Frage nach Deutungs- und Darstellungskonflikten von Krieg und Besatzungszeit, um herauszufinden, inwieweit diese den Aufbau einer demokratischen Nachkriegsordnung mitbestimmten.
Bereits 2001 hat Klaus Naumann in dem von ihm herausgegebenen Sammelband "Nachkrieg in Deutschland" festgestellt, dass es nach 1945 "Deutungskämpfe" um die "Bedeutung, Anerkennung und 'Bewältigung' von Opfern, Leid und Zerstörung" gab, "in denen die Umrisse eines neuen Ordnungsmodells ausgetestet und ausgefochten wurden". [1] Echternkamp versucht nun, den Zusammenhang von Kriegserfahrung und politischen Forderungen im Demokratisierungsprozess eingehender zu analysieren und bedient sich dabei des kulturhistorischen Konzepts der kollektiven Repräsentationen von Roger Chartier. Repräsentationen wurden von Chartier weniger als "Ausdruck unbewusster Mentalitäten" verstanden, denn als "interessengeleitete, situationsspezifische Deutungen [...] durch bestimmte Teile der Gesellschaft, die mit unterschiedlichen, bewusst gewählten Strategien die soziale Ordnung klassifizieren und den [...] Platz ihrer Gruppe darin definieren". Echternkamp nutzt dieses Konzept, um "die kulturelle Selbstdeutung von Individuen und zugleich ihre soziale Position zueinander in Beziehung zu setzen" (21).
Die Studie umfasst das erste Nachkriegsjahrzehnt; es sei aber wichtig gewesen, die Kriegszeit und insbesondere das letzte Kriegsjahr miteinzubeziehen, da sowohl die damaligen Darstellungen und Vorstellungen von Militär und Krieg als auch die Kriegserfahrungen und -erinnerungen selbst die kollektiven Repräsentationen in der Nachkriegszeit maßgeblich beeinflusst hätten. Zum Teil entwickelten sich in der Nachkriegszeit ganz andere Vorstellungen vom Soldatentum oder von deutschen Tugenden als dies noch zu Kriegszeiten der Fall war, da sich die Repräsentationen von Militär und Krieg in der Nachkriegszeit in Westdeutschland - im Gegensatz zum NS-Regime - frei entfalten konnten. Echternkamp begründet das Ende des Untersuchungszeitraums unter anderem damit, dass seit der Mitte der 1950er Jahre die Debatten über Krieg und Militär unter deutlich veränderten Rahmenbedingungen stattfanden. Ein längerer Zeitraum bringe die Gefahr "heuristischer Unschärfe" mit sich (35).
Echternkamp konzentriert sich auf drei Konfliktfelder, die in mehreren Unterkapiteln aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden. Seine Analysen basieren auf einem eindrucksvollen Quellenkorpus, bestehend aus privaten und amtlichen Dokumenten in zahlreichen Archiven. Im ersten Untersuchungsfeld "Konfrontationen mit dem Krieg" wird deutlich, dass nicht die Kriegserfahrung an sich, sondern die Erfahrung des verlorenen Krieges für viele Beteiligte prägend war, um sich in der Nachkriegszeit von Krieg und Wehrmacht zu distanzieren. Jedoch lassen sich Echternkamp zufolge durchaus unterschiedliche Wahrnehmungen und Deutungen ausmachen, aus denen er ein wesentlich positiveres Fazit zieht als viele seiner Kollegen [2], die vor allem die Selbstviktimisierung und das mangelnde Verantwortungsbewusstsein vieler Wehrmachtsoldaten hervorgehoben haben. Die Berichterstattung in den Medien über die Kriegsverbrecherprozesse und die Rolle der Wehrmacht setzten, so Echternkamp, Diskussionen und Auseinandersetzungen in Gang, die es vorher nicht geben konnte. Der begonnene Austausch unterschiedlicher Meinungen ermöglichte seiner Ansicht nach eine Weiterentwicklung der kollektiven Repräsentation von Krieg und Wehrmacht und diente letztlich der inneren Demokratisierung.
Im zweiten Teil mit dem Titel "Veteranen im Deutungskampf" zeigt Echternkamp, dass die kollektiven Repräsentationen des Krieges (dies gilt insbesondere für die Erfahrungsgemeinschaften, die aus den ehemaligen Wehrmachtsoldaten und Heimkehrern/Spätheimkehrern entstanden waren) unter den neuen politischen Rahmenbedingungen zwischen Kriegsende und Wiederbewaffnung mitentscheidend waren für die Etablierung einer neuen sozialen Ordnung. Diese Gruppen sahen sich nicht nur als Opfer des Krieges, sondern waren bereit, den neuen Staat durch ihre Erfahrung und ihr Wissen zu unterstützen. Die Regierung Adenauer erkannte die potenzielle Macht der Veteranengemeinschaften und versuchte, sie nicht zuletzt als Wähler für sich zu gewinnen.
Der dritte Themenbereich "Der Krieg als Chance?" konzentriert sich auf den konfliktreichen Übergang von Entmilitarisierung zur Remilitarisierung. Der anfänglich massive Protest der westdeutschen Bevölkerung und die Skepsis der Westalliierten schwächten sich mit der Verschärfung des Ost-West-Konflikts ab. Wurde die Reaktivierung des deutschen Militärs zunächst noch als Bedrohung empfunden, so wussten die Amerikaner schließlich sein Potenzial zu nutzen. Echternkamp kann auch dem steinigen Weg bis hin zur Wiederbewaffnung etwas Positives abgewinnen: Sowohl die Diskussionen über die Remilitarisierung als auch die zugleich offen ausgetragenen Deutungskonflikte über die Vergangenheit hätten den (friedlichen) Demokratisierungsprozess beschleunigt.
Echternkamp gelingt es, das Konzept der kollektiven Repräsentationen erfolgreich auf die drei von ihm ausgewählten Konfliktfelder anzuwenden. Seine Untersuchung macht deutlich, wo und inwieweit die kollektiven Repräsentationen von Krieg und Militär einen politischen und kulturellen Wandel ermöglicht und mitgestaltet haben. Die insgesamt überzeugende Studie, die sich hauptsächlich an die Fachwelt richtet, bietet neue Erkenntnisse auf vertrautem Forschungsterrain und ermutigt dazu, Chartiers Konzept zur Analyse weiterer historiografischer Themen - etwa historische Deutungskonflikte im internationalen Vergleich - einzusetzen.
Anmerkungen:
[1] Klaus Naumann (Hg.): Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, 9.
[2] Norbert Frei: Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996; oder: Peter Reichel: Vergangenheitsbewältigung in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur von 1945 bis heute, München 2001.
Sonja Schilcher