Dieter Krüger / Felix Schneider (Hgg.): Die Alpen im Kalten Krieg. Historischer Raum, Strategie und Sicherheitspolitik (= Beiträge zur Militärgeschichte; Bd. 71), München: Oldenbourg 2012, 414 S., ISBN 978-3-486-58817-0, EUR 39,80
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Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis eines Kooperationsprojektes der Landesverteidigungsakademie in Wien und des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Potsdam. Er basiert auf einer Tagung, an der Historiker aus acht Ländern teilgenommen haben. "Während die Fachdisziplin bisher vorwiegend die Planungen und Bedrohungsbilder beider Machtblöcke des Kalten Krieges im zentralen Sektor 'NATO-Mitte' in Deutschland untersucht hat", wie in der Publikation dargelegt wird (7), stand die strategische Bedeutung des Alpenraumes bislang kaum im Fokus der Forschung. Diese Lücke versucht der Sammelband zu schließen.
Ein Viertel des Buches widmet sich allerdings nicht dem Zeitraum des Kalten Krieges, sondern dem historischen Raum Alpen von Hannibals Alpenüberquerung im Jahr 218 v. Chr. bis zur vermeintlichen Alpenfestung im Zweiten Weltkrieg. Die Lektüre lohnt sich, verdeutlicht sie doch die Horrorvorstellung jedes Militärstrategen. In einem durch seine geographischen Begebenheiten gezeichneten Raum wie den Alpen versagte jede normale Kriegsführung. Alexander Suvorov verlor bei seiner Alpenüberquerung 1799 im Zweiten Koalitionskrieg gegen Napoleon ein Viertel seines über 20.000 Mann starken Heeres. Die Natur ist der größte Feind der Menschen bei solch einer Kriegsführung. Noch heute spielt die Technik eine untergeordnete Rolle. Lenkwaffenträger werden nach wie vor mit Haflinger-Pferden transportiert. Im Ersten Weltkrieg gingen zwei von drei Soldaten nicht im Kriegsgeschehen zugrunde, sondern fielen den rauen Bedingungen der Natur zum Opfer. Allein 60.000 Soldaten fanden den Tod in Lawinen. Von den Zeiten Ötzis bis zum Ersten Weltkrieg hat sich die Technik nicht wesentlich verbessert. Später dient der Hubschrauber zur Versorgung und zur Verlegung von Menschen und Material, ermöglicht aber keinen Bewegungskrieg. Der Mitherausgeber Felix Schneider führt in seinem Beitrag an, dass die Amerikaner tatsächlich am Ende des Zweiten Weltkrieges eine Alpenfestung erwartet und diese gefürchtet hatten. Schneider sieht darin auch den Grund, warum sich die Amerikaner verstärkt dem Alpenraum zuwandten und deshalb auf einen Wettlauf mit den Sowjets auf Berlin verzichteten.
Drei Beiträge widmen sich der Schweiz (Peter Braun, Hans Rudolf Fuhrer, Stefanie Frey/Jürg Stüssi-Lauterburg), zwei Österreich (Erwin A. Schmidl, Horst Pleiner), einer Italien (Maurizio Cremasco), einer Bayern (Helmut Hammerich), einer Slowenien (Vladimir Prebilič) und einer der Triest-Frage von 1947 bis 1954 (Miljan Milkič). László Ritter berichtet über den geheimen Krieg zwischen dem "sowjetischen Block" und Jugoslawien nach dem Bruch Titos mit Stalin. Der letzte Beitrag von Sviatlana Stsiaposhyna versucht den Alpenraum aus sowjetischer Perspektive in der Gorbatschow-Ära zu beleuchten. Dem französischen Westalpenraum ist kein eigener Beitrag gewidmet. Eine bestechende Analyse des Themas durch den Mitherausgeber Dieter Krüger rundet den Band ab, die das Buch trotz einiger Schwachstellen zu einem Gewinn macht.
Die meisten Beiträge diskutieren die operativen Planungen der NATO und der Schweiz für den Fall eines Angriffskrieges des Warschauer Paktes auf Westeuropa. Diese liefen darauf hinaus, die Alpentäler als Rückzugsgebiet und Bollwerk zu nutzen, um den aus der Ebene voranrückenden Gegner zu attackieren. Wenn er schon nicht besiegt werden konnte, sollte er zumindest in Abnutzungskämpfen gebunden werden. Stefanie Frey und Jürg Stüssi-Lauterburg halten fest, dass ab 1950 eine Zusammenarbeit zwischen der NATO und der Schweiz beobachtet werden könne (222). Das Interesse der NATO verstärkte sich den Autoren zufolge nach dem Abschluss des österreichischen Staatsvertrages 1955, der nun die nördlichen NATO-Staaten von den südlichen trennte. Die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 veränderte dann zudem das schweizerische Verteidigungsdenken und bewirkte eine (inoffizielle) Annäherung an die NATO in Form einer intensiven Zusammenarbeit mit einer Arbeitsgruppe des US-Verteidigungsministeriums (231). Die USA hatten größtes Interesse an einer militärisch starken Schweiz.
Erwin Schmidl legt in seinem Beitrag dar, wie die westlichen Besatzungszonen Österreichs nach der NATO-Gründung sukzessive in die militärische Verteidigungsstrategie der westlichen Allianz einbezogen wurden. Eine Bedingung der Amerikaner für ihre Zustimmung zu einem neutralen Status von Österreich war die Schaffung eines Bundesheeres, das im Falle eines Angriffs in der Lage sein sollte, den Warschauer-Pakt-Truppen Widerstand zu leisten. Österreich leistete sich bekanntermaßen nie ein schlagkräftiges Heer. Im Gegensatz zur Schweiz war der Verteidigungsposten im österreichischen Haushalt während des Kalten Krieges geradezu lächerlich. Zeugnisse aus osteuropäischen Archiven haben in den letzten Jahren offengelegt, dass der Warschauer Pakt keine Rücksicht auf den neutralen Status Österreichs genommen, sondern sich in einem atomar geführten Krieg die Einfallsrouten nach Italien und Bayern freigebombt hätte. Die Planungen des Westens waren im Ernstfall auf einen Guerillakrieg in den Alpen angelegt. Erst Mitte der 1990er Jahre wurden geheime Waffendepots der Amerikaner in ganz Österreich bekannt.
Von der Fragestellung thematisch etwas fehl am Platz - aber nicht minder interessant - ist der Beitrag von László Ritter. Seine trotz aller Archivbeschränkungen auf breiter Quellenbasis beruhende Analyse des ungarisch-jugoslawischen geheimen Krieges besticht durch detailreiche Kenntnis und gibt einen schaurigen Einblick in die Tätigkeit der Geheimdienste, auf Entführungen und Ermordungen auf beiden Seiten.
Der Beitrag von Sviatlana Stsiaposhyna soll die Brücke zum Ende des Kalten Krieges schlagen (12). Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass die Sowjetunion unter Gorbatschow "die strategische Bedeutung [der neutralen Staaten] für die Umsetzung eigener Interessen erkannt" hat (345) und diese soweit wie möglich in den Abrüstungsprozess einzubeziehen gedachte. Ihre Ausführungen beruhen auf vier (bereits publizierten) sowjetischen Dokumenten. Den aktuellen Forschungsstand zur sowjetischen Außenpolitik unter Gorbatschow und zum KSZE-Prozess auf der Basis quellenorientierter Studien blendet Stsiaposhyna gänzlich aus. Die Defizite ihres Beitrages gleicht Krüger in seiner Bilanz mit einem Überblick über die sicherheits- und militärstrategischen Aspekte der sowjetischen Außenpolitik aus (395-398).
Insgesamt ist der Sammelband ein Gewinn für die Forschung, versucht er doch vor allem die bisher gewonnenen Erkenntnisse über die Verteidigungsstrategien der NATO im Kalten Krieg für den Alpenraum zu diskutieren. Szenarien des Warschauer Paktes kommen noch immer zu kurz. Doch dies ist wahrlich kein Versäumnis der Herausgeber. Für die Zukunft bleibt zu hoffen, dass auch in diesem Forschungsbereich eines Tages der Zugang zu sowjetischen Archivalien in größerem Umfang möglich werden wird.
Peter Ruggenthaler