Cornelia von Ruthendorf-Przewoski: Der Prager Frühling und die evangelischen Kirchen in der DDR (= Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen; Bd. 60), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 580 S., ISBN 978-3-525-55775-4, EUR 99,99
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Wie reagierte die evangelische Kirche in der DDR auf die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings am 21. August 1968? Diese Frage steht im Zentrum einer sehr akribischen Untersuchung, deren Umfang in einem seltsamen Spannungsverhältnis zu den Ergebnissen steht. Denn weder für die oberste Leitungsebene, der Konferenz der Kirchenleitungen, noch für die kirchenleitenden Gremien der acht evangelischen Landeskirchen war der Einmarsch von Truppen des Warschauer Pakts in das sozialistische Bruderland ein Ereignis, das einen nennenswerten öffentlichen Protest erfordert hätte. Mit Ausnahme einer Kanzelabkündigung der Landeskirche von Berlin-Brandenburg überwog allenthalben das verhaltene Schweigen der Amtskirche. Nichtsdestoweniger gibt die fundierte Leipziger Dissertation einen tiefen Einblick in das reale Verhältnis von Staat und Kirche in der DDR sowie in die innerkirchliche Diskussionskultur und Entscheidungsfindung. Eine konsequente Straffung auf das Wesentliche hätte dieser Arbeit allerdings nicht geschadet.
1968 befand sich die evangelische Kirche in einer schwierigen Situation. Die neue Verfassung der DDR verschlechterte den Rechtsstatus der großen Religionsgemeinschaften ganz erheblich, da sie im Unterschied zur Verfassung von 1949 nicht mehr auf den überlieferten staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Verfassung aufbaute. Selbst die Glaubens- und Gewissensfreiheit war im ursprünglichen Entwurf nicht mehr als grundlegendes Menschenrecht enthalten gewesen. Während in der DDR 1968 überall in "Volksaussprachen" die neue Verfassungen akklamiert werden sollte, suchten die reformsozialistischen Kräfte in Prag ein neues Verhältnis zu den Kirchen und beschnitten die Kompetenzen des staatlichen Kirchenamtes, das bislang einen äußerst rigiden (selbst in der DDR so kaum praktizierten) Repressionskurs verfolgt hatte. Diese Veränderungen weckten bei Kirchenführern die Hoffnung auf weitere Verbesserungen in der DDR. Es ging um das Verhältnis von Staat und Kirche - und weniger, wie die Autorin konstatiert, "um eine funktionierende Zivilgesellschaft im modernen Sinne oder um bürgerliche Freiheiten".
Das andere Problem, das die evangelische Kirche 1968 in ihrer Gesamtheit beschäftigte, war die vom SED-Staat erzwungene organisatorische Trennung von der EKD, die bislang eine gesamtdeutsche Klammerfunktion wahrgenommen hatte. Die Diskussion um den künftigen Zusammenhalt zwischen Ost und West und die konkrete Ordnung des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR (BEK), der sich schließlich im Juni 1969 konstituierte, waren die zentralen Themen der innerkirchlichen Debatte. Der Prager Frühling und die Hoffnung auf einen reformierten Sozialismus mit menschlichem Antlitz beflügelten jedoch auch im ostdeutschen Protestantismus manche Hoffnungen, insbesondere bei engagierten Laien.
Als Truppen des Warschauer Paktes die ČSSR militärisch besetzten, hüllten sich die evangelischen Kirchen in der DDR in betretenes Schweigen. Bereits am ersten Tag, dem 21. August, versicherten jedoch der Ökumenische Rat der Kirchen, der Lutherische Weltbund, der Reformierte Weltbund und die Konferenz evangelischer Kirchen in Europa in einem Sympathietelegramm, dass sie ihren Brüdern "im Gebet verbunden" seien. Eine Woche später sandte der Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf eine Solidaritätsbotschaft an die tschechischen Mitgliedskirchen, in der er nicht nur die Okkupation - wie das bereits in Kundgebungen von Kirchenführungen in der ČSSR geschehen war- "als militärische Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Tschechoslowakei" verurteilte. Darüber hinaus erklärte er: "Wir unterstützten ihren gewaltlosen Widerstand gegen die erzwungene Wiedereinführung geistiger, intellektueller und sozialer Kontrollen, die für eine tapfere und mutige Nation unannehmbar sind."
Auf dieses Schreiben reagierten verschiedene Kirchen aus dem Ostblock mit politisch erzwungenem Unverständnis. Der orthodoxe Patriarch von Moskau rechtfertigte den Einmarsch gar als eine "Bekundung der Solidarität" mit dem tschechischen Volk. "In diesem Kontext fällt", wie die Autorin bilanziert, "das Unisono-Schweigen der Kirchen und religiösen Gemeinschaften aus der DDR besonders auf." Eine öffentliche Stellungnahme des obersten Leitungsgremiums, der sogenannten Bischofskonferenz, wurde von dem thüringischen Landesbischof Moritz Mitzenheim hintertrieben. Er telefonierte sogar unmittelbar vor und nach der Sondersitzung am 24. August mit dem Staatssekretär für Kirchenfragen und legte auch sein Veto gegen die Verabschiedung einer bloßen Fürbitte ein. Das war ein großer Erfolg für die SED-Politik, die sich jede Kritik am militärischen Vorgehen der sozialistischen Bruderländer strikt verbat. Und es war ein Erfolg für die jahrzehntelange kirchenpolitische Strategie der Differenzierung zwischen "negativ-feindlichen" und "positiv-progressiven" Kräften.
Lediglich Bischof Albrecht Schönherr, der den Einmarsch in Prag selbst erlebt hatte und von der SED zu den progressiven Kräften gerechnet wurde, trotzte dem enormen staatlichen Druck auf allen Ebenen. Die Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg verabschiedete am 5. September eine vorsichtig formulierte Solidaritätserklärung, die - was die SED besonders erboste - von den Kanzeln öffentlich verlesen wurde. Sie bedauerte den Einsatz von militärischer Gewalt zur Lösung politischer Probleme und erklärte: "Wir wissen und verstehen, dass es Euch besonders verletzt hat, dass unter den einrückenden Truppen Deutsche und auch Christen gewesen sind." Mit dieser indirekten Anspielung auf das Münchener Abkommen von 1938 und die folgende Zerschlagung der Tschechoslowakei kritisierte die Kirchenleitung eindeutig die SED-Politik, deren Propaganda die aktive Mitwirkung der Nationalen Volksarmee bei der "brüderlichen Hilfe" zur Bekämpfung der Konterrevolution suggeriert hatte. Tatsächlich hatten ostdeutsche Soldaten den tschechischen Boden nicht betreten, wenngleich Walter Ulbricht die Invasion im Vorfeld entschieden befürwortet hatte.
Gegen Bischof Schönherr erwog man deshalb ein Strafverfahren wegen staatsfeindlicher Hetze und weitere Repressalien, die auch vor den Familienangehörigen nicht Halt machen sollten. An diesem Beispiel, wie auch in den ausführlichen Fallstudien zu den Vorgängen in den einzelnen Landeskirchen, zeigt sich die Verlogenheit der offiziellen SED-Kirchenpolitik. Sie beschwor einerseits das gemeinsame humanistische Anliegen von Christen und Sozialisten zum Erhalt des Weltfriedens und dem Aufbau einer gerechteren Gesellschaft. Anderseits arbeitete sie, wann immer es Konflikte gab, mit der Androhung massiver Repressionen, um unliebsame Kirchenvertreter oder Laien einzuschüchtern. Denn auf unterer Ebene gab es durchaus vereinzelt Protest - etwa die Ephorie in Pirna, Pfarrer und Theologiestudenten, die ihre Meinung mutig äußerten und den Einmarsch öffentlich verurteilten.
Die besondere Rolle der zahlreichen Inoffiziellen Mitarbeiter für Staatssicherheit wird in dieser Studie, die sonst jeden Vorgang und jede Regung oppositionellen Verhaltens akribisch beschreibt, völlig ignoriert. So erfährt der Leser zwar, dass von den 36 Delegierten aus der DDR, die Anfang April 1968 an der III. Allchristlichen Friedenskonferenz in Prag teilnahmen, zehn zugleich IM der Staatssicherheit waren. Aber die Namen werden nicht genannt. Selbst dass die Hauptprotagonisten des SED-loyalen, friedensbewegten Linksausläufers des ostdeutschen Protestantismus - die Theologieprofessoren Gerhard Bassarak und Hanfried Müller (Weißenseer Arbeitskreis) - als Einflussagenten und eifrige Zuträger der Staatssicherheit wirkten, wird verschwiegen. In der Forschung ist das seit 20 Jahren bekannt. Lediglich in den Biogrammen, die den hohen Standard dieser Schriftenreihe auszeichnen, wird es knapp vermerkt. Es bleibt ein Rätsel, weshalb man an theologischen Fakultäten glaubt, auch heute noch die Verstrickung und die partielle Unterwanderung durch die Staatssicherheit in Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte völlig ausblenden zu können.
Gerade an der Christlichen Friedenskonferenz (CFK), die 1961 in Prag von westdeutschen und tschechischen Theologen als Projekt zur Überwindung des Kaltes Krieges gegründet worden war, hätte man das abgründige Doppelspiel von humanistisch-sozialistischer Friedensrhetorik und realsozialistischer bzw. geheimdienstlicher Steuerung aufzeigen können. Die CFK, die mit ihrer bestens koordinierten östlichen Dominanz mehrheitlich den Einmarsch in die ČSSR rechtfertigte, zerbrach in Folge der Niederschlagung des Prager Frühlings, was die Autorin ohne Bezugnahme auf den geheimpolizeilichen Subtext ausführt. Ihre tschechischen Gründerväter fühlten sich verraten, ebenso zogen sich die Sektionen im westeuropäischen Linksprotestantismus desillusioniert zurück. Übrig blieb nach etlichen personellen Säuberungen eine leere, nun mehr absolut gleichgeschaltete Propagandahülle sowjetischer Politik.
Protest kam 1968 vor allem von Jugendlichen. Sie malten Losungen, verteilten heimlich Flugblätter oder kritisierten öffentlich den Einmarsch. Sie wurden von der Staatsgewalt mit der ganzen Härte des politischen Strafrechts verfolgt. Eine MfS-Statistik von Oktober 1968 verzeichnet in diesem Kontext 1189 Strafverfahren, wobei ca. 75 Prozent der verurteilten Personen unter 30 Jahre alt waren, zumeist handelte es sich um junge Arbeiter. Für manche setzten sich die Kirchenleitungen im Stillen ein, ohne jedoch öffentlich Protest gegen diese drakonische Verfolgungswelle zu erheben. Die Idee eines reformierbaren "verbesserlichen" Sozialismus bzw. eines "Dritten Weges" zwischen Kapitalismus und realem Sozialismus überlebte jedoch unter dem Dach der Kirche und flammte im Herbst 1989 nochmals kurzzeitig in verschiedenen protestantisch geprägten Oppositionszirkeln auf.
Clemens Vollnhals