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Georg Schild: 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, 234 S., ISBN 978-3-5067-7658-7, EUR 26,90
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Rezension von:
Stephan Kieninger
Koblenz
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Stephan Kieninger: Rezension von: Georg Schild: 1983. Das gefährlichste Jahr des Kalten Krieges, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 3 [15.03.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/03/22938.html


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Georg Schild: 1983

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In den Beziehungen zwischen Ost und West wurde das Jahr 1983 zur Metapher für die Gleichzeitigkeit von Krisen, Bedrohungsszenarien, Chancen und Neuanfängen. Durch den Fokus auf das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten konzentriert sich Georg Schild in erster Linie auf die Krisenmomente, die das Jahr aus seiner Sicht so gefährlich machen. In seinem Befund legt sich der Tübinger Historiker darauf fest, dass die sowjetische Angst vor einem potenziellen amerikanischen Überraschungsangriff nie größer gewesen sei als im Herbst 1983 (8).

Doch war 1983 tatsächlich das "gefährlichste Jahr des Kalten Krieges"? Renommierte Forscher wie Vojtech Mastny und Mark Kramer haben diese These auf breiter Quellenbasis widerlegt. [1] In der Tat gibt es keinen Hinweis darauf, dass die sowjetische Führung damals einen unmittelbaren Überraschungsangriff befürchtete.

Die NATO-Stabsrahmenübung "Able Archer" im November 1983 wurde in Moskau keinesfalls als Vorbereitung zum Nuklearkrieg gesehen. Kramer kommt auf der Grundlage osteuropäischer und sowjetischer Quellen zur Erkenntnis, dass "den Mitgliedern des Politbüros der KPdSU nicht einmal bewusst gewesen zu sein scheint, dass die NATO ihre jährliche Übung 'Able Archer' im November 1983 überhaupt abhielt". [2] Auch der Aufbau sowjetischer Alarmsysteme und die Suche nach Anzeichen für potenzielle westliche Kriegsvorbereitungen war im Ost-West-Konflikt kein ungewöhnlicher Vorgang. Die Initiierung des sowjetischen Alarmsystems unter dem Codenamen "Rijan" ("nuklearer Überraschungsschlag") Anfang der Achtziger Jahre darf insofern nicht überbewertet werden.

Wie gelangt Schild trotzdem zu seiner Einschätzung des Jahres 1983? Ein Großteil der Erklärung liegt darin, dass er sich - wie zahlreiche Autoren zuvor - ausschließlich auf amerikanische Quellen stützt. Somit übernimmt der Autor unkritisch zeitgenössische amerikanische Fehlwahrnehmungen. Der amerikanische Präsident Reagan schenkte den Geheimdienstberichten des KGB-Offiziers Oleg Gordievski Glauben, der auch für den britischen Nachrichtendienst arbeitete. Ohne direkte Kenntnisse über die Vorgänge in den Schaltzentralen in Moskau mutmaßte Gordievski, dass die sowjetische Führung Able Archer als Vorbereitung für einen amerikanischen Präemptivschlag sah. [3] Ironischerweise führten Gordievskis alarmierende Meldungen und sein düsteres Bild über die Lage in Moskau dazu, dass Margret Thatcher und Ronald Reagan Anfang 1984 ihre Rhetorik gegenüber der Sowjetunion zum ersten Mal öffentlichkeitswirksam und für ein breiteres Publikum wahrnehmbar zu ändern begannen.

Trotz der unkritischen Übernahme amerikanischer Fehldeutungen über das Ausmaß der Bedrohungswahrnehmung in der Moskauer Führung illustriert Schild den endgültig sichtbaren Wandel in der amerikanischen Sowjetunionpolitik auf spannende Weise anhand von Dokumenten aus der Reagan Presidential Library (191ff). Allerdings nähert sich der Autor dem titelgebenden Jahr mit so großem Anlauf, dass der archivgestützten Darstellung der Vorgänge im ominösen Jahr 1983 lediglich knapp die Hälfte des Bandes gewidmet ist. Hier zeichnet Schild Ronald Reagans öffentlichkeitswirksamen "Kreuzzug für die Freiheit" nach (126ff). Untersucht wird dabei das Spannungsverhältnis zwischen Reagans öffentlicher Rhetorik und der Suche nach einer neuen langfristigen politischen Strategie gegenüber der Sowjetunion, die einem neuen amerikanischen Sendungs- und Selbstbewusstsein nach Vietnam und Watergate Rechnung tragen sollte. Reagan stellte die UdSSR als politisches System grundsätzlich in Frage. Doch wie sollte der Westen seine Überlegenheit nutzen, um Einfluss auf die inneren Strukturen in der Sowjetunion und in den Staaten Osteuropas zu nehmen und Prozesse des Wandels anzustoßen? Der Autor verdeutlicht den "unklaren Ansatz" in der US-Außenpolitik, der sich aus dem Nebeneinander von Gesprächsangeboten und "der Ablehnung der Legitimität des Sowjetregimes" ergab (138). wie viel Kooperation mit dem Kreml war nötig und wie viel Missionsanspruch war möglich, um Wandel herbeizuführen? Schild betont, dass die inneramerikanischen Überlegungen in dieser Frage ohne klares Ergebnis geblieben seien (139).

In diesem Zusammenhang bleibt unerwähnt, dass Ronald Reagan und seine Berater nach starker anfänglicher Skepsis erkannten, dass vor allem der KSZE-Prozess einen nachhaltigen Rahmen für Reformprozesse in den Staaten des Warschauer Paktes bot. [4] Schild beschreibt nur am Rande, wie Reagan unter dem Druck seiner europäischen Verbündeten bereits im Lauf des Jahres 1982 von seiner entspannungskritischen Haltung abkam (130). In langwieriger diplomatischer Überzeugungsarbeit gelang es Außenminister George Shultz, die NATO 1983 auf einen neuen Konsens festzulegen, um die politischen Rahmenbedingungen für die Stationierung neuer Mittelstreckenwaffen zu schaffen. Das Ende des amerikanischen Handelskrieges gegen die Sowjetunion war ein Baustein bei der Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses. Reagans Aufhebung der amerikanischen Sanktionen gegen die Urengoi-Pipeline von Sibirien nach Westeuropa im November 1982 entsprach dem europäischen Interesse am Ausbau des Handels gerade in Krisenzeiten.

Im Gegenzug forderte die Reagan-Administration im Rahmen der Verhandlungen beim KSZE-Folgetreffen in Madrid von den Westeuropäern eine härtere Gangart in Menschenrechtsfragen gegenüber der Sowjetunion ein. Der erfolgreiche Abschluss des KSZE Follow-Ups in Madrid im September 1983 brachte entscheidende Impulse für eine neue militärische Détente unter dem Dach des KSZE-Prozesses: Die Sowjetunion stimmte einem Mandat zur Ausweitung des Geltungsbereichs für vertrauensbildende Maßnahmen bis zum Ural zu.

Insgesamt hätte das Buch an Differenzierung und Kontextualisierung gewonnen, wenn der Autor die Deutsche Frage, den KSZE-Prozess und die europäische Dimension der Détente stärker in seine Darstellung einbezogen hätte. Denn vor dem Hintergrund der Entspannungskrise zwischen den Supermächten verständigten sich Helmut Kohl und Erich Honecker 1983 auf eine innerdeutsche "Verantwortungsgemeinschaft". Ihre "Koalition der Vernunft" prägte die Deutschlandpolitik. Im Gegenzug für die durch Bundesbürgschaften abgesicherten Milliardenkredite 1983 und 1984 legte die Regierung Kohl die DDR auf den Kurs einer weiteren Öffnung gen Westen fest. [5]

Wie verorten wir also das Jahr 1983? Gab es einen "zweiten Kalten Krieg"? Wie wirkte sich der Einfluss der Friedensbewegung in Ost und West aus? [6] Weshalb überstand die Logik antagonistischer Kooperation die Dislozierung neuer amerikanischer Mittelstreckenwaffen auf beiden Seiten? Wie erklären wir die zähe Langlebigkeit der Entspannungspolitik in Europa in Abgrenzung zur Verschärfung des Ost-West-Konflikts in der Peripherie der Weltpolitik? Georg Schilds Band wirft all diese zentralen Fragen auf - ihre Beantwortung bleibt allerdings zu sehr in der Schwebe. 1983 war nicht das gefährlichste Jahr des Ost-West-Konflikts. Seinen wechselvollen Verlauf und seine Bedeutung für die Geschichte gilt es jedoch weiterhin zu erforschen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Vojtech Mastny: How able was Able Archer? Nuclear Trigger and Intelligence, in: Journal of Cold War Studies 11 (2009), H. 1, 108-123; Ders.: Able Archer - An der Schwelle zum Atomkrieg? In: Bernd Greiner / Christian Th. Müller / Dierk Walter (Hgg.): Krisen im Kalten Krieg, Bonn 2009, 505-522. Mark Kramer: Die Nicht-Krise um "Able Archer 1983": Fürchtete die sowjetische Führung tatsächlich einen atomaren Großangriff im Herbst 1983?, in: Oliver Bange / Bernd Lemke (Hgg.): Wege zur Wiedervereinigung. Die beiden deutschen Staaten in ihren Bündnissen 1970 bis 1990, München 2013, 129-150. vgl. hierzu die Rezension von Hermann Wentker, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2, URL: http://www.sehepunkte.de/2014/02/24064.html

[2] Kramer: Nicht-Krise, 129.

[3] Vgl. Christopher Andrew / Oleg Gordievsky: Instructions from the Centre - Top Secret Files on KGB Foreign Operations, 1975-1985, London 1991.

[4] Vgl. Sarah B. Snyder: The CSCE and the Atlantic Alliance: Forging a new Consensus in Madrid, in: Journal of Transatlantic Studies 8 (2010), H. 1, 56-68; Douglas Selvage: The Superpowers and the Conference on Security and Cooperation in Europe, 1977-1983. Human Rights, Nuclear Weapons, and Western Europe, in: Matthias Peter / Hermann Wentker (Hgg.): Die KSZE im Ost-West-Konflikt. Internationale Politik und gesellschaftliche Transformation 1975-1990, München 2012, 15-58. Vgl. hierzu die Rezension von Wilfried von Bredow, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 12, URL: http://www.sehepunkte.de/2012/12/22305.html

[5] Vgl. Karl-Rudolf Korte: Deutschlandpolitik in Helmut Kohls Kanzlerschaft. Regierungsstil und Entscheidungen, 1982-1989, München 1998.

[6] Vgl. Philipp Gassert / Tim Geiger / Hermann Wentker (Hgg.): Zweiter Kalter Krieg und Friedensbewegung - Der NATO-Doppelbeschluss in deutsch-deutscher und internationaler Perspektive, München 2011. Vgl. hierzu die Rezension von Holger Nehring, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9, URL: http://www.sehepunkte.de/2011/09/19672.html

Stephan Kieninger