Rezension über:

Kirsten O. Frieling: Sehen und gesehen werden. Kleidung an Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit (ca. 1450-1530) (= Mittelalter-Forschungen; Bd. 41), Ostfildern: Thorbecke 2013, IX + 345 S., ca. 50 Abb., ISBN 978-3-7995-4360-6, EUR 55,00
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Rezension von:
Marc Bauer
München
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Marc Bauer: Rezension von: Kirsten O. Frieling: Sehen und gesehen werden. Kleidung an Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit (ca. 1450-1530), Ostfildern: Thorbecke 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 3 [15.03.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/03/24284.html


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Kirsten O. Frieling: Sehen und gesehen werden

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Der Paradigmenwechsel der historischen Mediävistik, in dessen Folge das Mittelalter nunmehr als eine Zeit der symbolischen Kommunikation gesehen wird, hat zugleich auch die verstärkte Berücksichtigung ehedem marginalisierter Lebensbereiche bedingt. Zu diesen gehört gerade in jüngerer Zeit das Feld der Kleidung(spraktiken): Wäre die Wahl des Gewandes (Jan Keupp) [1] über weite Strecken des 20. Jahrhunderts noch als kulturgeschichtliche quantité négligeable übergangen worden, gilt sie heute als wichtiger Ordnungs- und Repräsentationsmechanismus in einer stratifizierten Gesellschaft, deren Elite in besonderer Weise daran gelegen war, ihren sozialen Status öffentlich sichtbar zu machen.

Die zu besprechende Dissertation von Kirsten O. Frieling [2] positioniert sich an einem Schnittpunkt von Kultur- und Sozialgeschichte. Die Autorin befasst sich in ihrer 2013 im 41. Band der Reihe Mittelalter-Forschungen erschienenen Arbeit mit Kleidung an Fürstenhöfen an der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit. Die Ansiedlung der Untersuchung an einer Epochenschwelle ist mit Bedacht gewählt: Änderungen in der fürstlichen Bekleidungspraxis können gleichsam als Seismograph größerer historischer Wandelprozesse - zum Beispiel dem Ausbau der Landesherrschaft (10, 263f., 292) - aufgefasst werden. Hauptaugenmerk gilt demgemäß der Frage nach der "Bedeutung [von Kleidungspraktiken] für die Kennzeichnung von Rang, familialem Status, national-kulturellen Unterschieden und Hofzugehörigkeit" (2) respektive nach ihrer Signifikanz für die "Konstituierung sozialer Gruppen bei Hofe, für die Visualisierung höfischer Hierarchien und für die Konsolidierung fürstlicher Herrschaft." (8) Die Untersuchung inspiziert dabei vorrangig die Grafschaften von Württemberg und Brandenburg sowie das Herzogtum Sachsen. Weil die Verfasserin indessen auch französisch-, seltener englischsprachige Literatur konsultiert [3], entsteht ein komparatistisches Panorama aristokratischer Kleidungsgewohnheiten in Mitteleuropa. Insofern Gewandung dabei nicht nur in ihrer substantiellen und handwerklichen Beschaffenheit erklärt, sondern - entlang der soziologischen Modelle Pierre Bourdieus und Georg Simmels - auf ihre Funktion in der gesellschaftlichen Interaktion hin befragt wird, versteht Frieling ihre Arbeit im engeren Sinne als "Beitrag zu einer als Geschichte sozialer Kommunikation aufgefassten Kommunikationsgeschichte" (14).

Der Hauptteil der Untersuchung untergliedert sich in zwei Blöcke. Der erste Teil (19-159) ist explizit als ein terminologisch-typologisches "Kompendium" (18) angelegt, das sich gewissermaßen drei 'Phasen' zuwendet: Zunächst fächert Frieling Materialien (Pelz, Leder), Verarbeitungstechniken (Färben), Farb- und Stoffsemantiken sowie Verzierungen (Schleifen, Schnüre) auf. Obwohl dieser Teil durch seine enzyklopädische Konzeption eine eher spröde Lektüre bildet, weiß die Verfasserin die Bereiche Symbolik und Pragmatik gekonnt zu verknüpfen: So konnte beispielsweise durch das Verfahren der Schlitzung eine untere Gewandschicht zum Vorschein gebracht werden, was vordergründig einen optisch ansprechenden Farbkontrast [4] generierte, gleichzeitig aber auch als Distinktionsmerkmal fungieren konnte, da die Gefahr zügigeren Verschleißes nur für einen wohlhabenden Reichsfürsten tragbar war. Im darauffolgenden Abschnitt wird die Produktionsphase, angefangen beim Design über Materialbeschaffung bis hin zur Anprobe, schrittweise nachvollzogen. Das dritte Unterkapitel wirft schließlich einen "Blick in die fürstlichen Gewandtruhen" (137), der eine breite Palette vorwiegend funktionaler Gewänder (Bade-, Reit-, Turniergewand) zu Tage fördert. Hauptergebnisse des begrifflichen Leitfadens sind die Einsichten, dass infolge beliebiger Kombinierbarkeit von Materialien, Ornaten, Schnitten und Farben letztlich eine enorme Vielfalt von Gewandungen denkbar war, Gewand als wertvolle Ressource eingehende Pflege erfuhr und Fürsten sich in beachtlichem Maße selbst mit Kleidungsangelegenheiten befassten.

Die zweite Hälfte der Studie behandelt "Dresscodes und ihre Entschlüsselung" (162-288). In diesem stärker analytisch ausgerichteten Teil werden Kleidungstücke in lebensweltlichen Kontexten auf ihre symbolische Leistung hin befragt. Ein zentraler Begriff ist in diesem Zusammenhang der Terminus der "Distinktion" (162, 169, 170, 183, 225, 291), der zum Beispiel die Möglichkeit einer "Binnenhierarchisierung" (162-184) unter den Fürsten fasst: Theoretisch stand es jedem Reichsfürsten offen, sich etwa durch die besondere materielle Beschaffenheit seines Gewandes hervorzuheben. Frieling führt hier indes überzeugend vor, wie diffizil sich der "Balanceakt zwischen Anpassung auf der einen und Distinktion auf der anderen Seite" (184) bisweilen gestaltete. Im Unterkapitel zu "fürstlichen Amtsroben" (185-196), das vor allem das Kurfürstengremium in den Blick nimmt, wird auf die typologischen Grundlagen der ersten Hälfte rekurriert: In der Tat konnte ein Hermelinpelz im Laufe des 15. Jahrhunderts den Unterschied zwischen einem Kurfürsten und einem Herzog markieren (191f.)! Spannend liest sich die folgende Erörterung der Frage, ob Maximilian I. durch die vestimentäre Angleichung beider Fürstenstände einen Konflikt vermeiden oder gerade schüren wollte. Ein weiterer Paragraph betrachtet unter anderem anhand von Hochzeiten und Herrschertreffen Fürstenkleidung im europäischen Raum. So war etwa der Bekleidungswechsel einer Braut mehr als nur ein Modezeremoniell; es war nicht weniger als die symbolische Abstreifung einer Verbindung zur Heimat und damit eine "Art Integrationsmaßnahme" (232). Ein letzter größerer Komplex beleuchtet sodann die Kleidung bei Hofe: Auch hier wird aus der peniblen begrifflichen Trennung von "Hofgewand" als Hyperonym und "Livree" als Hyponym im ersten Teil der Dissertation Kapital geschlagen. So kann Frieling aufzeigen, dass Könige die Gewandausgabe als "Herrschaftsinstrument" (285) nutzten und Gewand damit sogar zum "politische[n] Gestaltungsmittel" (288) avancieren konnte.

Positiv anzumerken ist die beachtliche Quellendichte der Studie insgesamt und insbesondere ihrer ersten Sektion. Nebst klassischen Quellengattungen wie Chroniken, Briefen oder Berichten greift Frieling auch auf Überreste wie Hofordnungen, Rechnungen, Inventare und sogar den an ihrer Universität in Greifswald beheimateten Croÿ-Teppich (216, Abb. 25) zurück. Ein besonderes Verdienst liegt nach Meinung des Rezensenten in der akribischen Analyse bildlicher Zeugnisse. Das mag für einen haptisch-visuellen Untersuchungsgegenstand wie Kleidung recht selbstverständlich erscheinen; das im Appendix einzusehende Bildverzeichnis, das immerhin 42 qualitativ hochwertige Bilder unterschiedlichen Genres (Fresko, Malerei, stofflicher Überrest u.a.) umfasst, zeigt aber doch die intensive Arbeit der Verfasserin mit diesem Quellentypus. Gesondert hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass die Bildzeugnisse nicht nur unikal abgehandelt, sondern quellenkritisch und je nach Perspektivierung mehrfach in Augenschein genommen werden. So wird beispielsweise das Porträt Heinrichs des Frommen von Lucas Cranach dem Älteren einmal herangezogen, um das Verfahren der Schlitzung zu veranschaulichen (79), an anderer Stelle, um auf Dekorationen wie Kugeln hinzuweisen (99), bei einer dritten Gelegenheit als Beleg dafür, dass Brautpaare sich qua Kleidung nicht zwangsläufig von ihren Standesgenossen abheben mussten (172). Darüber hinaus thematisiert die Verfasserin auch Bildnuancen (z.B. 58, 100) und setzt nicht verwandte Quellen zueinander in Beziehung (153, Anm. 927).

Kritik betrifft bei dieser auch methodisch sehr gründlich eingerahmten Studie nur Detail-, und Geschmacksfragen. Stilistisch zwar auf hohem Niveau und mit dem Mut zur plakativen Formulierung geschrieben - man liest etwa von mittelalterlichem "Recycling" (126) materieller Restposten und stellt sich amüsiert die Pfalzgräfin Margaretha und ihre Württembergische Standesgenossin im "Partnerlook" (168) vor - ermüdet doch die Neigung der Autorin zur Hypotaxe. Von der Syntax einmal abgesehen stellt sich an mancher Stelle zudem die Frage, ob die Quellenzitation im Fließtext in ihrer Dichte nicht hätte reduziert werden können; so werden wir für die Erkenntnis, dass Fürsten ihre Kleider im Laufe von Festivitäten wechseln und aufeinander abstimmen konnten, fast drei Seiten lang über Kleidungsfacetten zahlreicher Teilnehmer der Landshuter Hochzeit 1475 im Detail unterrichtet (164-167). Unerklärlich ist auch der dreifache Verweis auf den Gießener Historiker Peter Moraw und seine These zur Verdichtung der Reichsverfassung [5] ohne den dazugehörenden Beleg (10, 192, 292).

Minimalkritik wie diese vermag den Gesamtwert der Studie in keiner Weise zu schmälern. Frieling ist mit ihrer Arbeit ein wichtiger Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte des ausgehenden Mittelalters gelungen, der dem selbst gesteckten Anspruch, Kleidung sowohl in ihrer materiellen Konsistenz als auch in ihrer Funktionalität als nonverbales soziales Kommunikationsmedium - dem Titel der Studie: Sehen und gesehen werden entsprechend - zu vermessen, voll gerecht wird. Neben der Forschungsleistung verdient auch die Buchqualität eine lobende Erwähnung: Zusätzlich zum Bildverzeichnis erleichtert ein Personen- und Sachregister die Handhabung. Der Rezensent wünscht der Autorin jedenfalls, dass das Motto ihrer Studie auch auf diese selbst zutrifft: Gesehen zu werden.


Anmerkungen:

[1] Zur Habilitationsschrift von Jan Keupp: Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters, Stuttgart: Thorbecke 2010, hat die Autorin des hier besprochenen Buches selbst eine Rezension publiziert: Kirsten O. Frieling: Rezension von: Jan Keupp: Die Wahl des Gewandes. Mode, Macht und Möglichkeitssinn in Gesellschaft und Politik des Mittelalters, Stuttgart: Thorbecke 2010, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 9 [15.09.2011], URL: http://www.sehepunkte.de/2011/09/19081.html

[2] Die Autorin hat 2003 bereits ihre Magisterarbeit veröffentlicht, in der sie - vornehmlich anhand sogenannter "Anstandsbücher" - die Bedeutung des Körpers für die Genese bürgerlicher Identität in der ersten Hälfte des langen 19. Jahrhunderts untersucht. Vgl. dazu die Besprechungen von Maren Lorenz: Rezension von: Kirsten O. Frieling: Ausdruck macht Eindruck. Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800, Bern / Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: http://www.sehepunkte.de/2004/09/5685.html und Stefan Zahlmann: Rezension zu: Frieling, Kirsten O.: Ausdruck macht Eindruck. Bürgerliche Körperpraktiken in sozialer Kommunikation um 1800. Frankfurt am Main 2003, in: H-Soz-u-Kult, 02.03.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-124>.

[3] Das Verzeichnis der Sekundärliteratur und gedruckten Quellen umfasst nicht weniger als 621 Titel. Davon sind etwas mehr als zehn Prozent französische Titel (67). Hinzu treten 27 englische, acht italienische und vier sonstige Literaturtitel.

[4] Stephan Selzers Habilitation zur Bedeutung der Farbe Blau hat Frieling ebenfalls im hiesigen Forum diskutiert. Vgl. Kirsten O. Frieling: Rezension von: Stephan Selzer: Blau. Ökonomie einer Farbe im spätmittelalterlichen Reich, Stuttgart: Hiersemann 2010, in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 2 [15.02.2012], URL: http://www.sehepunkte.de/2012/02/20287.html

[5] Im Literaturverzeichnis finden sich schließlich drei Titel Moraws, ein Fußnotenverweis findet sich dann auf Seite 236, Anm. 408. Es ist freilich davon auszugehen, dass jeder Frühneuzeithistoriker mit seiner Arbeit vertraut ist; dennoch erklärt das nicht das Fehlen eines Beleges gerade in einer Arbeit, die ansonsten durch einen überaus stark frequentierten Fußnotenapparat charakterisiert ist.

Marc Bauer