Rezension über:

Matthew Goodman: In 72 Tagen um die Welt. Wie sich zwei rasende Reporterinnen im 19. Jahrhundert ein einmaliges Wettrennen lieferten, München: btb Verlag 2013, 720 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-442-75399-4, EUR 22,99
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Dieter Langewiesche
Historisches Seminar, Eberhard Karls Universität, Tübingen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dieter Langewiesche: Rezension von: Matthew Goodman: In 72 Tagen um die Welt. Wie sich zwei rasende Reporterinnen im 19. Jahrhundert ein einmaliges Wettrennen lieferten, München: btb Verlag 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 5 [15.05.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/05/24681.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Matthew Goodman: In 72 Tagen um die Welt

Textgröße: A A A

Der Autor dankt seinen Kindern für "so manche fröhliche Stunde beim Spiel mit Rund um die Welt mit Nellie Bly" (666) - also kein wissenschaftliches Buch, denn dort wird eher für Überlebenshilfen gedankt, wenn die Arbeit stockte oder die Archivalien zu staubig waren. Matthew Goodman ist Journalist und erfolgreicher Sachbuchautor. Er nennt sein Werk ein "erzählendes Sachbuch" (669): nichts, was er darstellt, sei fiktiv, Zitate und auch andere Angaben werden in einem Anhang nachgewiesen; die verwendete Literatur ebenfalls.

1889 wurde die Journalistin Nellie Bly von ihrer Zeitung New York World auf eine Reise um die Welt geschickt. 75 Tage, die schnellste Erdumrundung aller Zeiten, waren das Ziel. Die Monatszeitschrift The Cosmopolitan zog sofort nach und schickte Elizabeth Bisland los. Dieses Wettrennen sollte in den USA ein Ereignis werden, das enorme öffentliche Aufmerksamkeit erzielte und von vielen vermarktet wurde. Den einen Hauptstrang der Erzählung bildet der Reiseverlauf, den anderen das Umfeld, das diese Reisen ermöglichte und die Wirkungen, die von ihrer medialen Inszenierung ausgingen. Die Reiserrouten umzogen gegenläufig den Erdball; nach ihren Etappen - immer wenn ein Verkehrsmittel gewechselt werden musste - ist das Buch gegliedert.

Das erste Glied in der Kette von Sensationen, die das Wettrennen um die Welt begleiteten, waren die Akteurinnen selbst: zwei Frauen. Sie hatten sich den Zugang zum Männergewerbe Journalismus erkämpft, und nun sollten sie ohne männliche Begleitung eine Weltreise wagen, die so noch niemand, auch kein Mann, unternommen hatte. Darf eine Frau das? Kann sie das? Der Vorstoß in die Männerwelt half, mediale Aufmerksamkeit zu erregen. Joseph Pulitzers' New York World heizte sie durch einen Wettbewerb an. Es galt, die genaue Reisedauer zu schätzen. Über 600.000 Einsendungen trafen ein, jede auf einem Vordruck, der nur durch Kauf einer Zeitung zu erhalten war. Die Auflage, die zuvor rückläufig war, stieg kräftig an. Die Kalkulation des Herausgebers ging auf. Wie das Zeitungsgewerbe in Nordamerika damals funktionierte, zeigt Goodman an den beiden Journalistinnen und den Zeitungen, für die sie schrieben.

Goodmans Buch lässt sich als eine Weltgeschichte des Reisens lesen, die eine Vielzahl von Perspektiven öffnet. Im Zentrum steht die Erfahrung: die Welt ist britisch. Überall trafen die beiden Journalistinnen auf Repräsentanten des Empire, überall spricht man in dem Umfeld, in dem sie sich bewegen, englisch. Die beiden nordamerikanischen Journalistinnen reisen im Schutz der globalen britischen Dominanz, doch es wird auch sichtbar, dass sich das Machtverhältnis bald zugunsten der USA ändern wird. Dort wurde das Wettrennen um die Welt als Ausdruck amerikanischer Fortschrittskraft gefeiert. "Sie haben dem großen Leitstern der amerikanischen Freiheit, der den Menschen anderer Nationen auf ihrem Weg zu Zivilisation und Fortschritt voraneilt, einen weiteren Funken hinzugefügt" (553); mit diesen Worten begrüßte der Bürgermeister von Jersey City Bly, als sie als Siegerin dem Sonderzug entstieg, den die Southern Pacific für sie von San Francisco aus organisiert hatte, um trotz des Schneesturms, der den Zugverkehr im Westen zum Erliegen gebracht hatte, die Reise in Rekordzeit abschließen zu können. Die letzte Strecke glich einem Triumphzug, überall standen Menschenmassen auf dem Bahnhof, in Chicago unterbrach die Börse ihre Tätigkeit, um Bly zu feiern.

Die Reisen schildert Goodman als einen Triumph der Technik: die schnellsten Dampfschiffe der damaligen Zeit, die schnellsten Eisenbahnrouten, der Telegraph, der es den Zeitungsredaktionen erlaubte, steuernd zu intervenieren, wenn es galt, Verkehrsunternehmen oder auch Staaten zu bitten einzugreifen, um Anschlüsse zu ermöglichen oder die Fahrt zu beschleunigen. Beide Journalistinnen reisten I. Klasse, doch Goodman blickt auch ins Zwischendeck und in den Maschinenraum. In Bisland und Bly zeichneten sich zwei künftige Typen von Reisenden ab, wenngleich beider Reise von Cook, dem weltweit führenden Reiseunternehmen, organisiert worden war: die eine reiste herrschaftlich mit großem Gepäck, die Siegerin mit einer einzigen Reisetasche. Doch beide erlebten die fremde Welt, die sie durcheilten, mit den Augen von Touristen, die das Fortschrittsgefälle maßen, das sie wahrnahmen, und zugleich den Reiz des Fremden genossen, vor allem wenn es zu z.T. mehrtägigen unfreiwilligen Aufenthalten an Umsteigeorten kam. Nationalstereotype wurden bestätigt, verstärkt oder neu geformt; das Bild des kurzen Augenblicks wurde verallgemeinert. Die Reise um die Welt öffnete beide nicht für neue Wahrnehmungen, sondern bestätigte ihnen, dass der Fortschrittsraum, dem man selber angehörte, die Zukunft bestimmen wird. An Bly ist am klarsten zu erkennen. Sie hatte sich ihren Berufsweg als Enthüllungsjournalistin erkämpft, die undercover Missstände aufdeckte und weil sie darüber schrieb Änderungen auslöste. Als Reisende blieb sie in der Erste-Klasse-Welt. Erst später, als der Ruhm erlosch, fand sie zurück zur journalistischen Neugier.

Nordamerika bestimmt, was Fortschritt ist: das wird in vielen Beobachtungen sichtbar. Etwa an den Eisenbahnwaggons, mit deren Komfort die europäischen bei weitem nicht mithalten konnten, oder am Selbstbewusstsein von Menschen, die begegnen. "Wirbelwind-Bill", ein irischer Lokomotivführer, der seinen Zug gefährlich schnell durch die Berge trieb, um eine neue Rekordzeit aufzustellen, hätte man sich in Europa nicht vorstellen können. Hier ließ der italienische Zöllner den großen Schrankkoffer Bislands, der schon für die Fahrt durch Frankreich verplombt worden war, nochmals öffnen und den Inhalt ausbreiten, so dass sie fast den Anschluss verpasst hätte, zumal sie den vom Schiffsstewart sorgfältig gepackten Koffer nun selber einräumen musste und kaum mehr schließen konnte.

Was die beiden Frauen taten, hat anderen Frauen Mut gemacht. Das bezeugen Briefe und Zeitungsartikel. Der Raum für Frauen schien sich zu erweitern, und die enorme öffentliche Aufmerksamkeit, die sich auf die beiden Reisenden richtete, führte es allen, die Zeitung lasen, vor Augen. Vermarkten ließ sich allerdings nur der Sieg und die Siegerin. Die Zweite war zwar ebenfalls schneller um die Welt gereist als je zuvor ein Mensch, doch nur der Sieg zählte. Es begann eine Bly-Manie: Nellie-Bly-Kappen, Handschuhe, Kleider, Federhalter, Briefpapier, Fotoalben, Lampen, Bonbonschachteln und sogar Pferdefutter. Und das eingangs erwähnte Brettspiel, mit dem sich auch noch der Autor und seine Kinder vergnügten. Bly nahm sich einen Agenten, der ihr gut bezahlte Vortragsreisen organisierte; auch dies ganz ungewöhnlich für eine Frau und entsprechend umstritten in der Berichterstattung. Dass beide Weltreisende später einen Millionär heirateten, entsprach eher den zeittypischen Vorstellungen von Geschlechterrollen. Ihr Leben nach dem Ruhm - beide arbeiteten mit unterschiedlichem Erfolg als Schriftstellerinnen - stellt Goodman ebenfalls dar.

Kein wissenschaftliches Buch, aber ein Buch, das gründlich recherchiert einen ungewöhnlichen Zugang zur Globalgeschichte bietet - entlang der Reiserouten und der Personen, Firmen, Organisationen und Institutionen, die in irgendeiner Form an den Reisen beteiligt waren. Dass es sich wie ein Roman liest, gehört auch zu den Vorzügen dieses Werkes.

Dieter Langewiesche