Mouhanad Khorchide: Scharia - der missverstandene Gott. Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik, Freiburg: Herder 2013, 232 S., ISBN 978-3-451-30911-3, EUR 18,99
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Ein Buch mit dem Titel "Scharia - der missverstandene Gott. Der Weg zu einer modernen islamischen Ethik" weckt zunächst hohe Erwartungen. Nun muss ein Buch sich natürlich nur an denjenigen Erwartungen des Lesers messen lassen, die durch den Anspruch des Buches selber begründet sind. Der Autor des hier vorliegenden Bandes formuliert seinen Anspruch folgendermaßen: In seiner vorhergehenden Publikation [1] habe er die Gott-Mensch-Beziehung im Islam reflektiert und die Anforderungen an eine islamische Theologie formuliert: "Eine islamische Theologie, die Gott ernst nimmt, muss den Menschen ernst nehmen. Der Mensch ist Gott wichtig, und deshalb muss dieser Mensch im Zentrum der islamischen Theologie stehen. Diese Theologie muss das Ziel haben, dem Menschen einen Zugang zu Gott zu verschaffen." (dort 215; hier: 18 f.) Daran möchte er nun anknüpfen und "einen Entwurf vorlegen, wie ein Verständnis von Scharia aussehen kann, das sowohl Gott als auch dem Menschen gerecht wird und Scharia nicht auf juristische Gesichtspunkte reduziert" (19).
Seine Kernaussage fasst Khorchide wie folgt zusammen: "Gott selbst lädt die Menschen in seine Gegenwart ein und stellt nur eine Bedingung dafür auf: das gesunde Herz. Religion auf juristische Maßnahmen zu reduzieren, bedeutet weniger Arbeit am Herzen und mehr Befolgung von Gesetzen." (19). Dabei sieht er sein Buch als "Teil eines größeren Projekts mit dem Ziel, einen Beitrag zur Etablierung eines islamischen Diskurses zu leisten, in dem Gott und Mensch als Kooperationspartner Seite an Seite stehen, um gemeinsam an der Verwirklichung von Gottes Intention nach Liebe und Barmherzigkeit zu arbeiten" (21).
An dieser Stelle seien noch zwei Anmerkungen des Rezensenten eingeschoben, um die folgende Darstellung genauer einordnen zu können: Zum einen soll die Frage, ob es sich bei den von Khorchide vertretenen Thesen um einen wie auch immer definierten "richtigen" Islam handelt, hier keine Rolle spielen. Diese Frage sollte dem innerislamischen theologischen Diskurs vorbehalten bleiben - was allerdings weder bedeutet, dass es "den" oder einen "richtigen" Islam geben müsse, noch, dass ein Lehrstuhlinhaber einer deutschen Universität an das Islamverständnis einzelner Verbände gebunden sei. Da das Buch sich jedoch explizit sowohl an Muslime wie auch an Nichtmuslime richtet, fühlt sich der Rezensent durchaus berufen, eine Meinung zu dem Buch abzugeben - auch ohne den Theologen vorschreiben zu wollen, wie sie ihre Theologie zu betreiben hätten, und ohne das komplexe Verhältnis der Islamwissenschaft zur islamischen Theologie als akademische Disziplin zu problematisieren [2]. Zum anderen will das Buch erklärtermaßen auch für Laien verständlich sein und richtet sich an eine breite Öffentlichkeit; insofern wäre es verfehlt, in der Beurteilung rein wissenschaftliche Maßstäbe anzulegen. Wohl aber kann und soll hier untersucht werden, inwieweit der Ansatz des Autors in der Außenperspektive zu überzeugen vermag.
Nach der Einleitung stellt Khorchide im zweiten Kapitel zunächst als konstituierende Elemente die fünf Säulen (Glaubensbekenntnis, Gebet, Fasten, Entrichten der Sozialabgabe und Pilgerfahrt) sowie die sechs Glaubenssätze des Islams (Glaube an Gott, die Engel, Gottes Offenbarungen, die Gesandten, die Wiederauferstehung und die göttliche Vorherbestimmung) dar. Er betont hierbei aber nicht die äußere Form, die rituelle Befolgung von Regeln, sondern den Bezug zur Lebenswirklichkeit der Menschen. Dies wird beispielsweise sehr deutlich an seiner Interpretation des Glaubensbekenntnisses: Das Zeugnis, es gebe keine andere Gottheit außer dem einen Gott, sei "in erster Linie ein Bekenntnis zur Befreiung von jeglicher Bevormundung und somit ein Bekenntnis zur Befreiung von allem, was unseren freien Blick einschränkt und uns abhängig macht" (27). Als Bevormundung sieht Khorchide auch die Orientierung an religiösen Autoritäten, ohne den eigenen Verstand einzusetzen. Sein Verständnis der konstituierenden Elemente fasst er zusammen in der Kapitelüberschrift "Die fünf Säulen und die sechs Glaubenssätze des Islams sind nur dann Teil der Scharia, wenn das Herz eingebunden ist" (69).
Im (kurzen) dritten Kapitel entwirft der Autor sein Konzept der Scharia als "Weg zu Gott": Ausgehend von einer dialogischen Gott-Mensch-Beziehung stelle sich die Frage, was Gott für den Menschen wolle. Gebote und Verbote seien daher kein Selbstzweck, sondern sollen "im weitesten Sinne der Glückseligkeit [...] dienen" (74 f.). Dabei habe die Verkündigung zwei Aspekte: Einen individuellen - die Läuterung des Herzens, und einen kollektiven - die Herstellung einer gerechten Gesellschaftsordnung. Den Weg dorthin versucht Khorchide in den weiteren Kapiteln darzulegen.
Das vierte Kapitel "Wie werden juristische Normen abgeleitet?" stellt die wichtigsten methodischen Grundlagen des islamischen Rechts dar und präsentiert Überlegungen, "wie diese Methoden und Instrumente weiterentwickelt werden können, um den Geist des Korans und der islamischen Botschaft auch für uns heute fruchtbar zu machen, indem die Lebenswirklichkeit der Menschen heute ihre Berücksichtigung findet" (82). In seiner Darstellung der Hauptquellen der Normenlehre orientiert sich der Verfasser zunächst an den kanonischen Quellen der klassischen Lehre: Koran, Sunna/Hadith, Konsens und Analogieschluss. Interessant ist auch hier die Schwerpunktsetzung: Während Koran und Sunna recht ausführlich dargestellt werden (beispielsweise einschließlich der Überlieferungsgeschichte und der Hadithkritik), fällt die Behandlung von Konsens und Analogie äußerst knapp aus. In weiteren Abschnitten geht Khorchide - vor dem Hintergrund der Kernbotschaft des Islams (Läuterung des Herzens, Weisheit, Gerechtigkeit) - dann auf weitere Methoden der Rechtsfindung ein, die sich stärker an der Lebenswirklichkeit der Menschen orientierten (rechtliche Präferenz istiḥsān, Brauchtum ʿurf, Allgemeinwohl maṣlaḥa mursala), an den menschlichen Interessen (maṣāliḥ) oder an den eigentlichen Zielsetzungen der islamischen Lehre (maqāṣid).
Als Gegenbild zu seinem eigenen Islamverständnis referiert der Autor ausführlich das Verständnis der Salafisten am Beispiel Muḥammad ʿAbd al-Wahhābs, das ein sehr restriktives Gottesbild repräsentiere und durch das die Mehrheit der Muslime zu Ungläubigen erklärt würde; daneben schildert er - eher aus soziologischer denn aus theologischer Sicht - die Attraktivität salafistischer Positionen für muslimische Jugendliche in Europa. Warum er dafür allerdings auf die Ursprünge des Salafismus im 18. Jahrhundert referiert anstatt auf zeitgenössische salafistische (Internet-) Prediger, deren Einfluss auf Jugendliche in Europa im 21. Jahrhundert erheblich größer sein dürfte, erschließt sich dem Leser nicht wirklich.
Im folgenden Kapitel "Scharia beginnt mit der Selbsterkenntnis" erläutert der Autor nochmals seine Auffassung von Scharia als Weg des Herzens zu Gott. Insbesondere betont er, dass weder Neid und Hochmut gegenüber Anderen, noch Drohungen, Angst und Gewalt hier einen Platz hätten; Voraussetzung für den Weg zu Gott seien hingegen ständige Selbstreflexion und Selbsterkenntnis. Auch durch blinde Nachahmung könne man den richtigen Weg nicht finden: "Man kann seine Beziehung zu Gott nicht an Dritte delegieren" (219). Ein Abschlusskapitel ("Der missverstandene Gott") fasst die Hauptaussagen des Buches knapp zusammen.
Da der Autor selber sein Buch als Fortsetzung zum vorhergehenden Band "Islam ist Barmherzigkeit" verstanden wissen möchte, kann es nicht voraussetzungslos gelesen werden. Vor allem sein Scharia-Verständnis ("Scharia als juristisches System steht im Widerspruch zum Islam selbst") und seinen Umgang mit dem Koran als Quellentext ("Humanistische Koranhermeneutik") legt Khorchide bereits im vorherigen Buch recht ausführlich dar. [3] An dem hier zu besprechenden Werk lässt sich nun untersuchen, inwieweit der Autor diese methodischen Postulate umsetzt.
Khorchide bezieht sich fast durchgehend unmittelbar auf Koranverse und Prophetenüberlieferungen; nur sehr sporadisch lässt er klassische Theologen (z.B. Ghazālī, 42, 80 f.) oder moderne (z.B. Tariq Ramadan, 129, 135) zu Wort kommen. Da er somit fast 14 Jahrhunderte Interpretationsgeschichte weitgehend ausblendet, wird leider nicht deutlich, inwieweit er sich auf bestehende Diskurse bezieht und wo er tatsächlich neue Gedanken formuliert. Auch das Fehlen eines Literaturverzeichnisses macht es schwer, seinen Bezugsrahmen zu identifizieren.
Im Umgang mit dem Koran verzichtet Khorchide meistens darauf, die verwendeten Verse in einen größeren Zusammenhang einzuordnen, sondern zitiert sie isoliert. Dies sei an Vers 5:45 exemplarisch gezeigt, der anscheinend eine Art "Lieblingsvers" des Autors ist [4]. Bei Khorchide lautet dieser Vers(abschnitt): "Wenn ihr euch abwendet, dann wird Gott Menschen bringen, die er liebt und die ihn lieben." (38) Khorchide deutet diesen Vers als Hinweis auf Gottes Bestreben, seine Liebe mit dem Menschen zu teilen und mit ihnen in einen Dialog zu treten. Dabei verkürzt er die Aussage zweimal zu einem schlichten "Er liebt sie und sie lieben Ihn." (68, 204). Nun ist im koranischen Text zwar tatsächlich von "lieben" die Rede [5], der Versabschnitt lohnt allerdings auch einen Blick auf den Kontext. In der Übersetzung von Paret lautet er: "Ihr Gläubigen! Wenn sich jemand von euch von seiner Religion abbringen läßt (und ungläubig wird, hat das nichts zu sagen). Gott wird (zum Ersatz dafür) Leute (auf eure Seite) bringen, die er liebt, und die ihn lieben, (Leute) die den Gläubigen gegenüber bescheiden sind, jedoch die Ungläubigen ihre Macht fühlen lassen, und die um Gottes willen kämpfen (w. sich abmühen) [...]." [6] Danach ginge es also nicht um eine generelle Aussage über die Liebe Gottes zu den Menschen, sondern um ein konkretes Versprechen an die Gemeinde, die durch Abtrünnige nicht geschwächt werden soll. Auf die Frage, wer mit den Leuten gemeint ist, die Gott liebt und die ihn lieben, wurden von den Kommentatoren verschiedene Antworten gegeben: Abū Mūsā al-ʾAšʿarī (ein jemenitischer Prophetengenosse) und seine Leute [7], Abū Bakr und seine Gefährten, die Leute aus dem Jemen allgemein, oder die Perser [8]. Am ehesten versucht noch Zamaḫšarī, die in diesem Vers erwähnte Liebe zu qualifizieren (die Liebe der Gläubigen zu Gott als Gehorsam und gute Werke; die Liebe Gottes zu seinen Dienern als Wohlgefallen); auch er bezieht den Vers jedoch auf die konkrete Situation [9]. Hieraus also eine allgemeine Aussage über das Verhältnis Gottes zu den Menschen abzuleiten, bedürfte zumindest einer nachvollziehbaren Argumentation, die von Khorchide nicht gegeben wird.
Zudem handelt es sich bei Sure 5 um eine medinensische Sure, bei der nach der von Khorchide selber vertretenen Methodik zunächst zu prüfen wäre, ob es sich um "überhistorische (kontextunabhängige)" oder "historische (kontextabhängige)" Aussagen handelt (92-99; hier 98). Den Nachweis bleibt er bei diesem Vers aber schuldig - und ebenso bei der Mehrzahl der übrigen Verse. Wenn der Autor also in dem bereits erwähnten Vorgängerbuch den Islamkritikern sowie den muslimischen Fundamentalisten und Extremisten vorwirft, koranische Aussagen losgelöst vom textlichen und historischen Zusammenhang zu zitieren [10], muss er sich dem Vorwurf aussetzen, mit dem Text nicht anders umzugehen.
Viele von Khorchides Ideen wirken im Grunde plausibel: Die häufige Erwähnung von Gottes Barmherzigkeit im Koran ist sicherlich nicht mit einem engen Scharia-Verständnis kompatibel, das sich auf strikte Regeln und rigide Strafen reduziert. Sein Bild von Scharia, das der Autor im vorliegenden Band entwickelt, bietet somit ein Kontrastprogramm zum landläufigen Verständnis dieses Begriffs, wie er in den Medien - in muslimischen wie in nichtmuslimischen Publikationen - häufig vertreten wird. Dies ist zwar nicht so neu, wie die flüchtige Lektüre des Buches vielleicht nahelegen mag, aber mit seiner Betonung der "Läuterung der Herzen", die sich wie ein roter Faden durch das ganze Buch zieht und gleichzeitig die Richtschnur bildet, an der alle (formalen) Anforderungen an den muslimischen Gläubigen gemessen werden, treibt Khorchide durchaus Theologie im Sinne des Wortes - verstanden als "Versuch, die Lehren einer Religion von Gott und seiner Beziehung zu den Menschen systematisch darzustellen und sie gegen abweichende Auffassungen abzugrenzen und zu verteidigen" [11].
Dadurch aber, dass die Anknüpfungspunkte an existierende Diskurse nicht transparent gemacht werden, dass die Auswahl und Interpretation der Belegstellen willkürlich wirken und die postulierte Methodik nicht konsequent angewandt wird, wird die Argumentation sehr angreifbar, und so vermag das Werk als Ganzes nicht zu überzeugen. Man kann den Aussagen glauben oder eben nicht - für eine kritische Auseinandersetzung fehlt die argumentative Basis. Dies ist bedauerlich, da so eine Chance vertan wird, von einer prominenten Position aus (Khorchide ist nicht nur Inhaber einer der wenigen Lehrstühle für islamische Theologie in Deutschland, sondern auch in den Medien außerordentlich präsent - derzeit finden sich in den großen Zeitungen fast wöchentlich Porträts, Interviews oder Berichte zum Thema) diesem Scharia-Verständnis zu mehr Popularität zu verhelfen.
Das Zentrum für islamische Theologie in Münster hat inzwischen eine "Studienreihe für islamische Theologie" in 13 Bänden angekündigt [12]; es ist zu hoffen, dass diese den theoretischen Unterbau für Khorchides Thesen nachliefern kann.
Anmerkungen:
[1] Mouhanad Khorchide: Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion. Freiburg 2012.
[2] Dieses Verhältnis wird ausführlich beleuchtet in einem von Mouhanad Khorchide und Marco Schöller herausgegebenen Tagungsband: Das Verhältnis zwischen Islamwissenschaft und Islamischer Theologie. Beiträge der Konferenz Münster, 1.-2. Juli 2011. Münster 2012.
[3] Khorchide, a.a.O., 116-196.
[4] Dieser Vers wird mit insgesamt sechs Erwähnungen am häufigsten zitiert (38, 61, 68, 73, 204, 220). Weitere von Khorchide favorisierte Verse sind 21:107 (fünfmal), 4:59, 5:48, 22:46 und 57:46 (jeweils viermal).
[5] "sawfa yaʾti l-llāhu bi-qawmin yuḥibbuhum wa-yuḥibbūnahu".
[6] Rudi Paret: Der Koran. Übersetzung. Fünfte Auflage. Stuttgart u.a. 1989, 54.
[7] So beispielsweise as-Suyūṭī/al-Maḥallī: Tafsīr al-Ǧallālayn, Beirut 1991, 117; dies ist auch die von Ṭabarī favorisierte Interpretation; Ṭabarī: Ǧāmiʿ al-bayān. Teil 6, Kairo 1954, 285.
[8] Vergleiche zu diesen Varianten zum Beispiel Ṭabarī, a.a.O., 282-286; Bayḍāwī: ʾAnwār at-tanzīl. Teil 2, Beirut o.J. (Nachdruck Kairo 1930), 155; Adel Theodor Khoury: Der Koran Arabisch-Deutsch. Übersetzung und wissenschaftlicher Kommentar. Band 6, Gütersloh 1995, 112.
[9] Zamaḫšarī: Tafsīr al-kaššāf. Teil 2, Kairo 1977, 33.
[10] Mouhanad Khorchide, a.a.O, 165.
[11] Lutz Berger: Islamische Theologie, Wien 2010, 9.
[12] In seinem ZIT Newsletter, Nr. 1, Januar 2014; http://us4.campaign-archive1.com/?u=34af78705b2164f006661e64c&id=676ef9be0a&e=3b837462b8#4; zuletzt abgerufen am 31.03.2014. Ein kürzlich erschienener Tagungsband zum Thema konnte hier leider nicht mehr berücksichtigt werden: Mouhanad Khorchide / Milad Karimi / Klaus von Stosch (Hgg.): Theologie der Barmherzigkeit? Zeitgemäße Fragen und Antworten des Kalam, Münster 2014.
Volker Hubert-Köster