Dietmar Neutatz: Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert (= Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert), München: C.H.Beck 2013, 688 S., 5 Kt., ISBN 978-3-406-64714-7, EUR 29,95
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Die Tradition deutschsprachiger Monografien zur russischen Geschichte ist lang und umfasst zahlreiche Grundlagenwerke, so etwa das mehrfach aufgelegte Standardwerk von Günther Stökl, oder das jüngst fertiggestellte, fast 2800 Seiten umfassende, zweibändige Kompendium des Göttinger Historikers Michael Hildermeier, sowie das von dem Bochumer Osteuropawissenschaftler Stefan Plaggenborg und anderen herausgegebene, mehrbändige Handbuch der Geschichte Russlands.
Der Freiburger Ordinarius für Neuere und Osteuropäische Geschichte Dietmar Neutatz wählt einen anderen Weg. Er will mit seiner rund 700-seitigen Forschungsarbeit nicht nur eine Synthese der russischen und sowjetischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, basierend auf dem aktuellen Forschungsstand, zu Papier bringen. Auch legt er nicht allein einen Schwerpunkt auf politische und politökonomische Strukturen und Entwicklungen. Neutatz lenkt den Fokus seiner Darstellung vor allem auf kulturgeschichtliche Aspekte wie Alltag, Verhaltensmuster und verschiedene Lebenswelten, wie den Antagonismus zwischen Stadt und Land.
Die Forschungsarbeit gliedert sich in fünf Hauptteile, wobei der Autor nicht das Jahr 1900 oder das Jahr der Machtergreifung der Bolschewiki 1917 als Ausgangspunkt für seine Darstellung wählt, sondern das Jahr 1890. Dies hat auch mit der Tatsache zu tun, dass alle Werke der Verlagsreihe zur Europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert ihren Ausgangspunkt in diesem Jahr haben.
Begonnen wird das erste Kapitel mit einer Beschreibung der Präsentation Russlands auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900. Die kleinen Miniaturen, die ihre Fortsetzungen bei späteren Weltausstellungen in den nachfolgenden Abschnitten finden, werden so anschaulich und präzise beschrieben, dass man sich quasi in das damalige Geschehen hineinversetzt fühlt. Die Skizzierung des russischen "Pavillons der russischen Randgebiete" geht über in eine umfassende Analyse sozioökonomischer Daten und Fakten des realen Entwicklungsstandes Russlands um die Jahrhundertwende. Dieser ist, ebenso wie die etwas knapper beschriebenen politischen Ereignisse, ein Erklärungsfaktor für die drei nachfolgenden Revolutionen von 1905 und 1917.
Die Ereignisse der Februar- und Oktoberrevolution stehen ebenso im Vordergrund des zweiten Teils des Buches, wie die Perioden des Bürgerkrieges, des Kriegskommunismus und der "Neuen Ökonomischen Politik" (NEP). Aus der von Neutatz sorgfältig zusammengetragenen Faktenlage ergibt sich, dass die Merkmale der Gewaltherrschaft von Lenin und Stalin keineswegs so unterschiedlich waren, wie sie von älteren Historikern, wie etwa Edward Hallet Carr [1] dargestellt wurden, sondern durchaus fließende Übergänge aufwiesen. Bemerkenswert sind auch seine Ausführungen über die zahlreichen verwahrlosten und gewaltbereiten Kinder und Jugendlichen in diesen Zeitabschnitten, die, wie der Autor einleuchtend argumentiert, mit die gesellschaftliche Grundlage für die Terrorherrschaft Stalins in den 1930er-Jahren bildeten.
Diese steht ganz im Vordergrund des dritten Teils. Neben der Schilderung der wichtigsten gesellschaftlichen und politischen Fakten und der Auswertung umfangreichen Datenmaterials der Opferzahlen während der Kollektivierung der Landwirtschaft und der Zeit der "Großen Säuberung", werden auch häufig weniger beachtete Themen, wie die Architektur Moskaus in der Stalinzeit abgehandelt. Anschließend werden die Vorgeschichte des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion sowie seine Auswirkungen und die folgenden Verbrechen einer näheren Betrachtung unterzogen. Diese Verbrechen waren nicht zuletzt verantwortlich für die starke Beteiligung der sowjetischen Bevölkerung an der Befreiung des Landes und die spätere Glorifizierung des Sieges über Deutschland. Die Kehrseite des Triumphes für das Regime war jedoch, wie Neutatz zutreffend ausführt, der Kontakt sowjetischer Soldaten mit dem europäischen Ausland. Die persönlichen Eindrücke im Ausland begünstigten aber auch die Entstehung kultureller Abweichungen im Inland, wie sie etwa die ab 1947 den westlichen Lebensstil und die Musik kopierenden Jugendlichen verkörperten, die sogenannten Stiljagi.
Der Chruschtschow- und anschließenden Breschnew-Periode ist der vierte Teil des Buches gewidmet. Ihr gemeinsames Merkmal war, dass der Terror der Stalin-Zeit überwunden werden konnte. Während Chruschtschow jedoch noch anstrebte, den Kommunismus innerhalb von 20 Jahren zu verwirklichen, rückte diese ideologische Vision unter Breschnew in weite Ferne. Neben einer gewissen gesellschaftlichen Beruhigung und bescheidenem Wohlstand in den 1960er- und 1970er-Jahren, traten die Schwächen des Wirtschafts- und Sozialsystems in den Vordergrund, wie der Autor an vielen Beispielen überzeugend nachweist. Zugleich habe sich in dieser Zeit jedoch auch eine Art "Sowjetunionidentität" herausgebildet. Diese habe vor allem auf dem Sieg im Zweiten Weltkrieg, den Erfolgen in Raumfahrt und Sport, dem Supermachtstatus, technischen Erfolgen und einer gemeinsamen Erfahrungswelt aufgebaut. Neutatz setzt sich damit deutlich von anderen Osteuropawissenschaftlern und Osteuropawissenschaftlerinnen ab, welche in dieser Zeit den Nationalismus der Nichtrussen als Gefahrenpotential für die Existenz der Sowjetunion einstuften. [2]
Diese sowjetische Identität brach jedoch letztendlich in der Gorbatschow-Periode zusammen, die im letzten Teil des Buches behandelt wird. Diese führte - neben einer verfehlten Wirtschaftspolitik und anderen Faktoren - zum endgültigen Zusammenbruch des gesamten Systems. Neutatz warnt jedoch davor Gorbatschows Reformpolitik allein die Verantwortung für den Zerfall zuzuschreiben, da sich viele Schwächen des Systems bereits Jahrzehnte davor offenbart hätten. Dass auch die Jelzin-Ära für die einfache Bevölkerung keine wirkliche Verbesserung bedeutete, verdeutlicht Neutatz in seinen Ausführungen am Ende des Kapitels. Zwar war das Warenangebot viel besser als zu Zeiten der Sowjetunion. Allerdings wurde dieses in der Regel mit horrenden Preisen und wachsendem sozialen Ungleichgewicht erkauft. Hinzu kamen Patronage, der wachsende Einfluss von Oligarchen in Wirtschaft und Politik, Hyperinflation und Gewaltkriminalität.
Fazit: Bei einem so breiten inhaltlichen Spektrum, das von der Architekturgeschichte bis zur Wirtschaftsgeschichte reicht, geraten einige wichtige Bereiche zwangsläufig in den Hintergrund. So konnten etwa die Ideologie, die Rechtsgeschichte oder die Außenpolitik nur in groben Zügen dargestellt werden. [3]
Was hingegen überrascht sind einige Fehler des Lektorats. Etwa wurde der Schlaganfall Stalins, auf den 29. Februar 1953 - ein Nichtschaltjahr - datiert (357). Der Atomteststoppvertrag wurde nicht 1962 sondern erst im Juni 1963 abgeschlossen und bedeutete keineswegs das Ende aller Atomtests (406), sondern nur das Ende der überirdischen / unter Wasser und im Weltraum. Eine Zusammenarbeit ziviler Art im Weltraum wurde lediglich am 5. Dezember 1962, vor dem politischen Ausschuss der Vollversammlung der Vereinten Nationen angekündigt, der Weltraumvertrag, dem 102 Staaten beitraten, aber erst fünf Jahre später unterschrieben (406). Ein vereintes Deutschland in der NATO wurde von Moskau bereits im Juli 1990 und nicht erst 1991 akzeptiert (520).
Ungeachtet dieser Kritik ist diese Monografie mit dem knapp 600-seitigen Text, dem umfangreichen Themenspektrum und dem ausführlichen Literaturverzeichnis ein sehr gutes Studienbuch über die Grundlagen der russischen Geschichte im 20. Jahrhundert, das zu weiterer Lektüre motiviert.
Anmerkungen:
[1] Edward Hallet Carr: Die russische Revolution. Lenin und Stalin 1917-1929, Stuttgart 1980.
[2] Hélène Carrère d'Encausse: Risse im roten Imperium. Das Nationalitätenproblem in der Sowjetunion, München 1979.
[3] Zum Beispiel fehlt im Fall der Stalinnote von 1952 der Hinweis auf die von der Adenauerregierung unterdrückte Denkschrift des Richard Meyer von Achenbach, aus dem Jahr 1953. Richard Meyer von Achenbach: Gedanken über eine konstruktive Ostpolitik. Eine unterdrückte Denkschrift aus dem Jahr 1953, hg. v. Julius. H. Schoeps, Bodenheim 1986.
Reinald Lukas