Helmut Seng / Lars Martin Hoffmann (Hgg.): Synesios von Kyrene. Politik - Literatur - Philosophie (= Studies in Byzantine History and Civilization; 6), Turnhout: Brepols 2012, X + 503 S., 24 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-54662-9, EUR 90,00
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Im November 2008 fand an der Universität Konstanz eine Tagung zu Synesios von Kyrene statt. Es war überhaupt erst die zweite, die sich diesen politisch engagierten Autor und Philosophen zum Gegenstand gewählt hat. Sicher mit Bedacht wurde im Untertitel zwischen Politik und Philosophie die Literatur in den Mittelpunkt gerückt. Damit wird ein neuer Akzent gesetzt, nachdem sich die Forschungen seit gut zwei Jahrzehnten (neben der Vorlage zuverlässiger Textausgaben zum Teil mit Übersetzungen und neben Analysen der Hymnen) vor allem auf die historische Gestalt des Synesios konzentriert und seine Rolle in der Heimatprovinz Pentapolis, in Alexandria und am Hof thematisiert hatten. Dabei sind vor allem chronologische Fragen, sein Auftreten am Kaiserhof sowie die Voraussetzungen und Umstände der Wahl zum Metropoliten und die Amtsführung als Bischof diskutiert worden. Im Gegensatz zu älteren Arbeiten wurde überdies unter dem Stichwort "Bekehrung" nicht mehr eine entschiedene Hinwendung zum Christentum diskutiert, sondern geprüft, ob es eine Konversion zur Philosophie gegeben habe und wie diese zu verstehen sei.
Die dabei formulierten Standpunkte und Kontroversen sind umfänglich, aber nicht immer glücklich in einem Überblickskapitel referiert, das Lars Martin Hoffman, einer der Herausgeber, verfasst hat. Was genau der im Titel verwendete Begriff der "Lebenswelt" bedeutet, wird ebenfalls nicht recht klar; die eigenartigen Thesen auf der Basis einer sehr grob rezipierten Klimageschichte (35-65) führen nicht weiter. Detlev Kreikenbom präsentiert differenziert und vergleichend die archäologischen Funde und Befunde zur privaten und öffentlichen Bautätigkeit; leider gibt es neben hilfreichen Plänen, Karten und Fotos auch solche, die zu klein oder unscharf und deswegen unbrauchbar sind (1-34). Auf fünfeinhalb Seiten stellt Carlotta Amande die Arbeit an einem Synesios-Lexikon vor (66-72). Karen Piepenbrink analysiert präzise und überzeugend "die wesentlichen Merkmale des Selbstverständnisses resp. der Selbstdarstellung des Synesios als Bischof und wie sie sich im Kontext seiner Biographie sowie im historischen Umfeld verorten lassen" (73-95). Nicht ohne methodische Willkür und im Einzelnen oft problematisch spinnt Henriette Harich-Schwarzbauer eine kürzlich von Martin Hose in die Diskussion gebrachte Vorstellung fort, wie Synesios' Briefcorpus als ein literarisches Werk zu verstehen sei (96-109). Michiel Op de Coul liest den "Dion" durchaus mit Recht als kunstvolle und witzige Verteidigung eines Bildungsideals, in dem sich Synesios mit Dion von Prusa eng verbunden fühle, blendet dabei aber aus, dass und wie die Schrift auf bedrückende Erfahrungen reagiert (110-124). In einem fulminanten Artikel erweist Helmut Seng das bislang kaum beachtete "Lob der Kahlköpfigkeit" als virtuose parodistische Entlarvung sophistischer Scheingelehrsamkeit (125-143); lediglich der schon früher vorgetragene Gedanke, dass Synesios hier ebenso argumentiere wie im "Dion" bei der Verteidigung seiner aus schlecht korrigierten Büchern bestehenden Bibliothek, vermag nicht zu überzeugen. In kritischer Wendung gegen die "Vulgata Terzeghiana" entwickelt Idalgo Baldi auf der Basis von Beobachtungen in den Handschriften und weiterer Überlegungen neue Hypothesen über die ursprüngliche Gestalt der Hymnen und ihrer Abfolge (144-163). Mit dem Beitrag von Ugo Criscuolo, wonach Synesios in seinem Werk christliche Gedanken in neuplatonischen Wendungen ausdrücke und dabei auch unter dem Einfluss Gregors von Nazianz stehe (164-182), beginnt ein der Philosophie gewidmeter Teil. Gegen neuerdings erhobene Zweifel bekräftigt Samuel Vollenweider, dass Synesios' Vorstellungen von der göttlichen Trias an Porphyrios anknüpfen (183-200). Ilinca Tanaseanu-Döbler profiliert Synesios als Philosophen, der keineswegs an ohnehin kaum scharf voneinander abgrenzbare Schultraditionen gebunden gewesen sei (201-230). Lucia Saudelli vergleicht die Verwendung eines bei Synesios belegten Heraklit-Zitates mit der bei anderen mittel- und neuplatonischen Autoren und bemüht sich um ein Verständnis des ursprünglichen Sinnes im Werk des Vorsokratikers (231-246). Aglae Pizzone zieht Äußerungen des Alexandriner Patriarchen Theophilos heran und vermag so zu zeigen, dass Synesios sich im "Traumbuch" auch im so genannten Origenistischen Streit positioniert (247-275). Aus dieser Stellungnahme folgt freilich nicht, wie die Autorin anzunehmen scheint, dass sich der Kyrenäer in der auch in Konstantinopel über diese Frage geführte Debatte einschließlich ihrer politischen Komplikationen habe engagieren wollen. Die genaue Identifikation der Gegner, mit denen sich Synesios auseinandersetzt, scheitert daran, dass sich die verschiedenen geistigen Strömungen nicht differenzieren lassen. Denis Roques entwirft ein Panorama der Leser des Synesios vom sechsten bis ins 21. Jahrhundert; diese Übersicht gibt hoffentlich einen Impuls zu vertiefenden und ergänzenden Forschungen (276-387). Foteini Kolovou hebt hervor, dass die byzantinische Kirche Synesios' Weihe zum Bischof trotz dessen dogmatischer Zweifel als "zweckmäßig" eingeschätzt habe, und versucht dann Nikephoros Gregoras als typischen Leser der spätbyzantinischen Zeit zu erweisen (388-403); weil aber keine Belege angeführt sind, lässt sich für den in dieser Literatur nicht bewanderten Leser nicht einschätzen, wie verbreitet dessen Auffassung wirklich war. Diether Roderich Reinsch stellt interessante Überlegungen zu "Fürstenspiegeln" im byzantinischen 11. und 12. Jahrhundert an (404-419), die aber mit Synesios' "Königsrede" kaum mehr verbunden sind und damit zum Verständnis dieses Autors nichts beitragen. Hingegen lässt der minutiöse Vergleich, den Kurt Smolak zwischen einigen ausgewählten Versen der Hymnen des Synesios und spätantiker lateinischer Hymnendichtung einerseits sowie den in der Neuzeit entstandenen lateinischen Übersetzung von Synesios' Werken andererseits anstellt, auch die Eigenart des Kyrenäers schärfer erfassen (420-438).
Im Literaturverzeichnis sind die modernen Ausgaben und Übersetzungen sowie alle in den Beiträgen zitierten Werke verzeichnet. Es ist gut nachvollziehbar, dass man dabei darauf verzichtet hat, all die Namen aufzuführen, derer Roques gedenkt. Umgekehrt hätte man sich aber gewünscht, dass die Synesios-Bibliographie auf den neuesten Stand gebracht wird. Dies, ein Sach- und Stellenregister sowie die Berücksichtigung moderner Autorinnen und Autoren im Personenregister hätten die Nützlichkeit des Bandes erheblich gesteigert. Die Drucklegung hat sich offensichtlich durch Widrigkeiten verzögert, die außerhalb der Verantwortung der Herausgeber liegen. Leider wurde die Zeit nicht genutzt, um zusammenfassend darzulegen, wo der Band die Forschung weiterführt, welche Kontroversen sich zeigen und welche Perspektiven sich ergeben.
Dankbar nimmt man zur Kenntnis, dass zumindest in Teilen der Altertumswissenschaft noch Respekt vor den traditionellen Wissenschaftssprachen Italienisch, Französisch und Deutsch herrscht. Denis Roques hat die Veröffentlichung nicht mehr erlebt. Sehr mit Recht ist ihm als einem der Protagonisten der modernen Synesios-Forschung der Band gewidmet.
Tassilo Schmitt