Bernd Haunfelder (Hg.): Aus Adenauers Nähe. Die politische Korrespondenz der schweizerischen Botschaft in der Bundesrepublik Deutschland 1956-1963 (= Quaderni di dodis; Bd. 2), Bern: DDS 2012, 635 S., 27 Abb., ISBN 978-3-906051-05-5, EUR 14,96
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"Es geht ihnen zu gut; in Not und Elend zeigen die Deutschen eine gewisse Grösse, wenn sie aber zu Macht kommen, werden sie unerträglich" (150). Dieses Zitat Konrad Adenauers vom Juni 1956, mit dem der Kanzler gegenüber dem schweizerischen Gesandten Albert Huber die zunehmende inländische Kritik an seinem Regierungskurs beklagte, ist Teil einer neuen Edition, bearbeitet vom Münsteraner Historiker und Journalisten Bernd Haunfelder, der bereits mit einschlägigen Publikationen zum Verhältnis der Schweiz zu Deutschland hervorgetreten ist. [1] Die Edition mit 268 Dokumenten aus den Beständen des Schweizerischen Bundesarchivs hat die politischen Berichte der schweizerischen Botschaft (bis 1957 Gesandtschaft) in der Bundesrepublik Deutschland an das Eidgenössische Politische Departement (EPD; Außenministerium) während der Jahre 1956 bis 1963 zum Inhalt. Die bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik Deutschland spielen in den Berichten gleichwohl nur eine marginale Rolle; hier wird der Forschung der vergangenen Jahre kein wesentlich neuer Aspekt hinzugefügt. [2] Zu Recht wird in der Einleitung hervorgehoben, bei dieser Edition handele es sich in erster Linie um einen Beitrag "zur Geschichte der Ära Adenauer" (21).
In den Dokumenten finden die bekannten weltpolitischen Ereignisse jener Jahre Erwähnung, vom Ungarn-Aufstand und der Suez-Krise über die Berlin-Krise und den Mauerbau bis hin zur Krise des atlantischen Bündnisses und zum Abschluss des Elysée-Vertrags. Erhellender sind hingegen die Berichte, Wertungen und Persönlichkeitsskizzen zu den koalitions- und parteipolitischen Konflikten und Rivalitäten jener Jahre aus neutraler Perspektive, wobei besonders Albert Huber (1949-1958), aber auch sein Nachfolger als Botschafter, Alfred Escher (1958-1964), dem Kanzler generell wohlwollend gegenüberstanden. So kam Huber im Januar 1956 vor dem Hintergrund von Adenauers 80. Geburtstag zu folgender Zwischenbilanz: "Adenauers historische Leistung ist der Wiederaufbau seines Landes und die Rehabilitierung der Deutschen, die durch Hitler so tief in der Achtung der Welt gesunken waren. [...] Diese ausserordentliche staatsmännische Leistung", so Huber weiter, beruhe wesentlich "auf dem zähen Verfolgen einiger weniger Grundideen und auf der Zuverlässigkeit seines starken und einfachen Charakters, verbunden mit einer ausgesprochenen taktischen Begabung" (85).
Breiten Raum nimmt in den Berichten das jüngst näher untersuchte angespannte Verhältnis zwischen Adenauer und der FDP ein. [3] Für das konstruktive Misstrauensvotum gegen den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold (CDU) und die Bildung der sozial-liberalen Koalition in Düsseldorf 1956 wurden nicht regionale Gründe angeführt, vielmehr wurden diese Schritte als Mittel zur Schwächung des Bundeskanzlers gewertet: "Das Misstrauensvotum visierte einzig und allein Adenauer" (105). Gesandter Huber thematisierte in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit zur Bildung einer Großen Koalition, doch sei die Zeit hierfür noch nicht reif: "Die grosse Koalition ist ein mögliches Fernziel, kaum ein Nahziel" (109). Das Interesse der schweizerischen Beobachter an der SPD-Opposition nahm entsprechend zu. Die SPD sei auf dem Weg, so hieß es schon in einem Bericht vom Juli 1956, sich von ihren klassenkämpferischen Idealen zu lösen und sich "zu einer Volkspartei der Mitte zu entwickeln" (154). Kritisch gesehen wurde jedoch die Person Herbert Wehners, dessen kommunistische Vergangenheit hervorgehoben wurde. Wehner sei darüber hinaus "[i]m Umgang ohne jede Verbindlichkeit, als Charakter voll Leidenschaft und Bitterkeit" (217). In ähnlichem Tenor wurde im November 1959 - kurz nach Verabschiedung des Godesberger Programms der SPD - über ein Gespräch mit Franz Josef Strauß berichtet. Darin äußerte der Bundesverteidigungsminister die Ansicht, Wehner sei "nach wie vor ein verkappter Kommunist [...], der, einmal an die Macht gelangt, nicht zögern werde, Deutschland dem roten Imperium zuzuführen" (427). Sieben Jahre später sollten Strauß und Wehner als Minister in der Großen Koalition gemeinsam diesem "Kabinett der starken Persönlichkeiten" (Klaus Hildebrand) angehören.
Während der "Spiegel-Affäre" bezeichnete Botschafter Escher gegenüber der Berner Zentrale im November 1962 die Informationspolitik der Bundesregierung und ihrer Führungspersonen als "katastrophal" (528). Weiterhin wurde - noch vor dem Rücktritt von Strauß, der zunächst für ausgeschlossen gehalten wurde - berichtet, die Stellung des Verteidigungsministers sei nicht nur wegen der politischen Affären geschwächt; private Gründe träten hinzu. Strauß habe sich "in letzter Zeit stärker dem Trunk ergeben" und in diesem Zustand bei mehreren Anlässen "unverantwortliche Äusserungen gemacht", so dass selbst die Militärs Strauß mittlerweile als "nicht mehr tragbar" (529) erachteten.
Dass unter den Aspiranten für die Kanzlernachfolge sich Ludwig Erhard letztlich doch behaupten konnte, wurde von den Diplomaten der Eidgenossenschaft begrüßt. Zu Erhards Designation durch die Unionsfraktion übermittelte Botschafter Escher am 25. April 1963 folgende Einschätzung nach Bern: "Seine Freundschaft für die Schweiz, seine EWG-Politik, sein Verständnis für die Neutralen sowie seine liberalen Wirtschaftskonzeptionen werden, soweit er sie zur Geltung bringen kann, für uns von Vorteil sein" (555). Zweifel hinsichtlich der Durchsetzungskraft des Adenauer-Nachfolgers klingen hier bereits an.
Auffällig ist, wie skeptisch die schweizerischen Diplomaten die Deutschen an sich beurteilten. Auch in der neutralen Eidgenossenschaft war die Erinnerung an Krieg und Diktatur noch sehr präsent. In dieser Situation sahen sie in Adenauer, der persönliches Machtbewusstsein und demokratische Überzeugung miteinander verband, den Garanten der westdeutschen Demokratie. Die Popularität des Kanzlers in der Bevölkerung wurde gerade mit dessen Fähigkeit zu straffer Führung erklärt, "was ja die Deutschen lieben" (86). An anderer Stelle hieß es, die Kritik an seinem angeblichen "Altersstarrsinn" gehe fehl, denn seine Standfestigkeit bedeute "bei dem eher unruhigen und unsicheren Volkscharakter der Deutschen ein Element der Stabilität" (263 f.). Damit lagen die schweizerischen Diplomaten nicht weit von der eingangs zitierten Äußerung Adenauers selbst entfernt und mögen von diesem vielleicht sogar - nicht ganz uneigennützig - in ihrer Haltung bestärkt worden sein.
Die Lektüre wird dem interessierten Studenten oder Forscher nicht nur durch die umfangreichen editorischen Anmerkungen sowie Personen- und Sachverzeichnisse erleichtert, sondern auch durch die leichte Verfügbarkeit. Die von der Forschungsgruppe der Edition "Diplomatische Dokumente der Schweiz" herausgegebene neue Schriftenreihe "Quaderni di Dodis", in der dieser Band erschienen ist, steht auch digital im "open access" zur Verfügung (vgl. www.dodis.ch). Die Geschichte der "Ära Adenauer" wird aufgrund der vorliegenden Edition nicht neu geschrieben werden müssen, doch fügt sie dem Gesamtbild einige hellsichtige und pointierte Beschreibungen und Wertungen aus auswärtiger, neutraler Perspektive hinzu.
Anmerkungen:
[1] Bernd Haunfelder (Hg.): Schweizer Hilfe für Deutschland. Aufrufe, Berichte, Briefe, Erinnerungen, Reden 1917-1933 und 1944-1957, Münster 2010; ders.: Not und Hoffnung. Deutsche Kinder und die Schweiz 1946-1956, Münster 2008; ders. / Markus Schmitz: Humanität und Diplomatie. Die Schweiz in Köln 1940-1949, Münster 2001.
[2] Vgl. Antoine Fleury / Horst Möller / Hans-Peter Schwarz (Hgg.): Die Schweiz und Deutschland 1945-1961, München 2004, sowie Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bände 20, 21 und 22, Zürich 2004, 2007 und 2009.
[3] Holger Löttel (Bearb.): Adenauer und die FDP, Paderborn u. a. 2013.
Philip Rosin