Rezension über:

Guillaume de Digulleville: Le Pelerinage de Vie humaine - Die Pilgerreise ins Himmlische Jerusalem. Faksimile und Edition des altfranzösischen Textes mit deutscher Übersetzung. Ediert, übersetzt und kommentiert von Stephen Dörr, Frankwalt Möhren, Thomas Städler und Sabine Tittel. Herausgegeben von Veit Probst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012, 2 Bde., 581 S., ISBN 978-3-534-24042-5, EUR 249,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Guillaume de Digulleville: Le Pelerinage de Vie humaine - Die Pilgerreise ins Himmlische Jerusalem. Faksimile und Edition des altfranzösischen Textes mit deutscher Übersetzung. Ediert, übersetzt und kommentiert von Stephen Dörr, Frankwalt Möhren, Thomas Städler und Sabine Tittel. Herausgegeben von Veit Probst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2012, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 6 [15.06.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/06/25870.html


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Guillaume de Digulleville: Le Pelerinage de Vie humaine - Die Pilgerreise ins Himmlische Jerusalem

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Zuletzt war es etwas ruhiger um ihn geworden: Guillaume de Digulleville (1285/95-1358), Zisterzienser aus der Abtei Chaalis und Verfasser einer umfangreichen und weit verbreiteten Traumallegorie in drei Teilen, wurde in den vergangenen Jahrzehnten sowohl von der historischen als auch der romanistischen Forschung eher am Rande wahrgenommen. Seine "Renaissance" begann vor drei Jahren: in nur geringem zeitlichem Abstand erschienen nicht nur die hier zu besprechende Transkription und Übersetzung, sondern auch weitere Arbeiten, die sich mit seinem Leben und Werk auseinandersetzen. [1] Im Mittelpunkt seines literarischen Schaffens steht eine Trilogie allegorischer Traumvisionen, die insgesamt 36.000 Verse umfasst: neben der 1330-1332 entstandenen und 1355 überarbeiteten Pèlerinage de Vie humaine sind dies die Pèlerinage de l'Ame (1355-1358) und die Pèlerinage Jesu Christ (1358). Daneben trat Guillaume als Verfasser lateinischer Dichtungen und des 1338 entstandenen Roman de la fleur de lis - ein Lobpreis des französischen Königtums - hervor.

Bei der Pèlerinage de Vie humaine handelt es sich um einen der erfolgreichsten Texte des französischen Spätmittelalters, von dem allein 65 Handschriften der ersten Redaktion überliefert sind. Angesichts seiner historischen Bedeutung ist es erstaunlich, dass bislang nur eine einzige Handschrift durch eine Edition zugänglich war. [2]

In der Pèlerinage de Vie humaine begibt sich ein mit dem Ich-Erzähler identischer Pilger im Traum auf die Reise zu der in der Offenbarung beschriebenen Himmlischen Gottesstadt Jerusalem und trifft dabei auf ein umfangreiches allegorisches Figurenpersonal: zunächst auf die schöne Dame Grace Dieu, "Gottesgnade", danach auf Raison, "Vernunft", Penitance, "Buße", Charité, "Barmherzigkeit", Sapience, "Weisheit", und Nature, "Natur". Zwar mit Pilgertasche, Stab und Rüstung ausgestattet, ist der Pilger zum großen Missfallen von Gottesgnade aber zu bequem, um die Rüstung selbst anzulegen: die Waffen werden fortan von Fräulein Mémoire, "Erinnerung", getragen. Diese Bequemlichkeit wird mit Hilfe von Raison, "Vernunft", klar als Widerstreit zwischen Geist und Körper interpretiert - und es handelte sich nicht um ein allegorisches Traumgedicht, würde die Chance nicht genutzt, den Kampf des Pilgers gegen die Angriffe der Sieben Todsünden zu beschreiben. Nur der erneuten Intervention von "Gottesgnade" ist es schließlich zu verdanken, dass der Pilger nicht verloren geht: sie ist es, die ihm eine Abkürzung nach Jerusalem vorschlägt und ihn auf das Schiff "Religion" führt, auf dem sich mehrere Klöster befinden, in denen die christlichen Tugenden vorbildlich gepflegt werden. Noch bevor er Jerusalem tatsächlich erreicht, erwacht der Pilger aus seinem Traum.

Die inhaltliche Nähe zu einem der größten "Bestseller" des Mittelalters, dem Rosenroman, ist mit Händen zu greifen - und Guillaume de Digulleville weist selbst auf diese Inspirationsquelle hin. Er kannte neben dem Roman de Renart wohl auch die Fabeln der Marie de France und die Werke von Renclus de Moiliens und Gautier de Coincy - die Leistungsfähigkeit der Klosterbibliothek von Chaalis war unter den Zeitgenossen allgemein bekannt. Seine eigene hohe Bildung spiegelt sich nicht nur im Zitatgebrauch, sondern auch in der Verwendung von Wörtern oder Bedeutungen wider, die Fachsprachen entstammen. Die Pèlerinage ist in einem ganz und gar unüblichen Metrum, in paarweise gereimten Achtsilblern, verfasst und mit rhetorischen Stilfiguren durchsetzt. Die Rezeption des in vier Bücher gegliederten Werks ist nicht ganz einfach - die Sprache, die mit einer Fülle von Erstbelegen im Mittelfranzösischen aufwartet, ist ebenso anspruchsvoll wie die inhaltliche Erschließung des Textes.

Die vorliegende Ausgabe umfasst zwei Bände. Im ersten Band findet sich der sprachlich auf der Grenze vom Alt- zum Mittelfranzösischen liegende, aus der Handschrift Palatinus latinus 1969 der Universitätsbibliothek Heidelberg transkribierte Text. Eine kritische Edition bleibt somit also weiterhin Desiderat der Forschung. Dem Originaltext schließt sich eine deutsche Übersetzung an, in der die vier beteiligten Romanisten, Mitarbeiter des an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften angesiedelten Dictionnaire étymologique de l'ancien français, Erstaunliches leisten. Ihnen gelingt der Spagat zwischen dem "So treu wie möglich" und dem "So frei wie nötig". Insbesondere das Spiel mit Wortbedeutungen, Ableitungen und Doppeldeutigkeiten - ein Charakteristikum des Textes - bleibt in der Übersetzung erhalten. Inhaltlich erschlossen wird die Pèlerinage durch profunde Anmerkungen zu Autor und Werk (306-309), zur Sprache des Textes (309-320) und zur Editions-, Übersetzungs- und Glossartechnik (321-326). Einige ausgesprochen nützliche Hilfsmittel erleichtern darüber hinaus den Zugang. Der moderne Leser wird dankbar auf eine Inhaltsanalyse zurückgreifen, in der sich auch Hinweise zu Bibelzitaten und anderen Autoritäten finden (329-340). Auch ein Verzeichnis der Eigennamen (341-348), insbesondere aber ein mittelfranzösisches Glossar (349-413) leisten extrem wertvolle Dienste. Der verzweifelte Griff zu Greimas / Keane und anderen Spezialwörterbüchern bleibt einem so in den allermeisten Fällen erspart. [3] Dieses Glossar fungiert freilich nicht allein als Lesehilfe, sondern ist durch die Verzeichnung aller zum ersten Mal im Französischen belegten Wörter als fundamentaler Beitrag zur wissenschaftlichen Lexikografie anzusehen.

Der zweite Band enthält die Faksimileausgabe der um 1375 entstandenen Heidelberger Pèlerinage-Handschrift Cod. Pal. lat. 1969. Verweist deren dialektale Färbung in das Nordfrankreich des 14. Jahrhunderts, sind die Miniaturen stilistisch in Toulouse zu verorten, entstehen also weit entfernt von der nordfranzösischen Dialektheimat des Textes. Die Handschrift besteht aus 88 Pergamentblättern, die mit einer sorgfältigen Textualis beschrieben wurden. Selten sind mit fast schwarzer Tinte Korrekturen und Ergänzungen nachgetragen. Das Auge des Betrachters erfreut sich an den im Text verteilten 126 Miniaturen in feiner Deckfarbenmalerei mit Blattgoldauflage. Die gehobene Qualität der Ausstattung springt ebenso wie die originelle und durchdachte Konzeption des Bildzyklus ins Auge. Letzterer darf wohl als individuelle Schöpfung eines Malers verstanden werden, der den Text zuvor ausgesprochen aufmerksam gelesen hatte. Die Miniaturen sind ungleichmäßig über den Codex verteilt, wobei die Konzentration auf bestimmte Abschnitte nicht willkürlich erfolgt: entscheidend ist die Bedeutung für die innere Entwicklung des Pilgers auf seinem Weg zur ewigen Seligkeit. Die Miniaturen betonen inhaltlich wichtige Stellen und gestalten "besonders bildhafte und komplexe Passagen durch die parallele Darbietung im visuellen Medium noch einprägsamer" (290). Bemerkungen zur Geschichte und zum Bildzyklus der Handschrift ebenso wie deren kodikologische Beschreibung finden sich im ersten Band (271-305).

Ein für das Verständnis mittelalterlicher Spiritualität zentraler Text wurde durch die vorliegende Ausgabe wieder zum Sprechen gebracht und mustergültig erschlossen. Dafür kann den Editoren und Übersetzern nicht herzlich genug gedankt werden.


Anmerkungen:

[1] Marco Nievergelt / Stephanie A. Viereck Gibbs Kamath (eds.): The Pèlerinage Allegories of Guillaume de Deguileville. Tradition, Authority and Influence, Woodbridge 2013; Andreas Kablitz / Ursula Peters (Hgg.): Mittelalterliche Literatur als Retextualisierung. Das Pèlerinage-Corpus des Guillaume de Deguileville im europäischen Mittelalter, Heidelberg 2014.

[2] Jakob J. Stürzinger: Le Pelerinage de Vie Humaine, London 1893. Eine bequemer zu benutzende Transkription der ältesten, noch vor 1348 entstandenen Handschrift BnF ms. Fr. 1818 legte jüngst Béatrice Stumpf vor, vgl. Guillaume de Digulleville, Le Pélerinage de Vie Humaine, elektronisch publiziert auf atilf.fr (http://www.atilf.fr/dmf/VieHumaine).

[3] Algirdas Julien Greimas / Teresa Mary Keane: Dictionnaire du moyen français, Paris 1992.

Ralf Lützelschwab