Jörg Gertel / Rachid Ouaissa (Hgg.): Jugendbewegungen. Städtischer Widerstand und Umbrüche in der Arabischen Welt, Bielefeld: transcript 2014, 396 S., ISBN 978-3-8376-2130-3, EUR 19,99
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In Ländern des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas machen Jugendliche einen Großteil der dortigen Gesellschaften aus. Nicht erst seit den Umbrüchen in der arabischen Welt, die Ende 2010 begannen, wurde die Bedeutung von Jugendbewegungen und Lebenswelten von Jugendlichen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Umbrüchen von der Forschung erkannt und thematisiert. Dabei kommt Jugendlichen im urbanen Raum, die speziell dort mit Gegensätzen und Problemen konfrontiert werden, eine besondere Bedeutung zu. Städte waren und sind eher von sozialen, politischen sowie ökonomischen Krisen und Umbrüchen betroffen als ländliche Gebiete, und politische Widerstände formieren sich besonders dort.
Der Sammelband "Jugendbewegungen. Städtischer Widerstand und Umbrüche in der Arabischen Welt", der aus Forschungsarbeiten am Orientalischen Institut der Universität Leipzig und am Centrum für Nah- und Mitteloststudien der Universität Marburg entstanden ist, widmet sich den Lebenswelten arabischer Jugendlicher sowie deren Rolle und Bedeutung im städtischen Widerstand.
An eine Einleitung schließen zwei ausführliche Positionspapiere an, die in die Themen Jugend, Widerstand und urbane Entwicklung einführen. Anschließend folgen Fallstudien zu Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens sowie der Türkei, die passend durch beeindruckende Fotografien ergänzt werden. Die Herausgeber betonen im Vorwort die Relevanz der zu Grunde liegenden Forschungsaufenthalte der Autor_innen verschiedener Fachdisziplinen in den betreffenden Ländern, um insbesondere neuen Perspektiven und Stimmen der Jugendlichen vor Ort Beachtung zu schenken (9).
Die Einleitung beschreibt, dass ausgehend von vier Leitfragen, die im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen (13f.), der Jugendbegriff, die entstehenden Formen des Widerstands und die damit verbundene Transformation politischer und gesellschaftlicher Ordnungen analysiert und kritisch hinterfragt werden sollen. "Immer waren Jugendliche Adressaten der Hoffnung und auch Träger der Protestaktionen" (28). Dieser Aussage wird landesspezifisch von Rabat bis nach Kairo, von Istanbul bis nach Aden und Dubai nachgegangen, wobei die Formen des Widerstands ebenso variieren wie dessen Motivationsgründe. Massendemonstrationen, bewaffneter Protest, Streetart oder Parkour-Sport - "[d]ie vielfältigen und dynamischen Schnittstellen zwischen virtuellen Interaktionen, physischer Präsenz und gesellschaftlicher Mobilisierung fordern neue Forschungen über Jugendliche in der arabischen Welt" (29). Die Ergebnisse der Beiträge werden anhand von vier Thesen zusammengefasst (28f.), die bereits zu Beginn des Buches aufschlussreich informieren und das Interesse an der weiteren Lektüre wecken.
Jörg Gertel untersucht in einem der einleitenden Beiträge "Krise und Widerstand" (32-75) die Ursachen und Hintergründe der Protestaktionen im Nahen Osten und Nordafrika. In diesem Aufsatz, der meiner Meinung nach zu den interessantesten und aufschlussreichsten des Buches zählt, analysiert der Autor die internationalen Nahrungsmittelkrisen und Brotpreisaufstände der Jahre 2007 und 2008. Diese haben die Proteste in der arabischen Welt mitverursacht (46ff.). Er stellt systematisch einen Zusammenhang zwischen der internationalen Schuldenkrise der 1970er und 1980er Jahre, den darauffolgenden Strukturanpassungsprogrammen des IWF sowie der weltweiten Finanzkrise her (52ff.) und kommt zu dem Ergebnis, dass nicht nur politische und nationale Probleme die derzeitigen Krisen der arabischen Länder ausgelöst haben, sondern vor allem Armut und globale finanzkapitalistische Gefährdungen ("Technoliberalismus") (59ff.). Deutlich arbeitet er die räumliche Trennung und Verschiebung von Ursache und Austragungsort der Proteste heraus, von weltweiten Kapitalzentren hin in die Metropolen der arabischen Länder (69f.).
Asef Bayat widmet sich in dem darauffolgenden Beitrag (78-95), der auf langjährigen Feldforschungen im Nahen Osten beruht, der Entstehung "neoliberaler Städte" sowie ihrer Aneignung durch entrechtete und benachteiligte Bewohner (78f.). Er geht der Frage nach, wie diese Subalternen mit den Veränderungen umgehen und welche Konsequenzen ihr Handeln nach sich zieht. Die neu entstandenen urbanen Räume seien sowohl durch die Begriffe "inside-outing" als auch durch "enclosure" zu charakterisieren: einerseits zwingt die "nach außen gekehrte Stadt" einen Großteil der Bewohner "[...] in öffentlichen Räumen zu agieren, zu arbeiten und schlicht zu überleben, und zwar auf den Straßen [...]" (81), andererseits kommt es zur "Einhegung" und Abschottung der Eliten und des Reichtums (83f.). Der Autor führt weiter plausibel aus, wie diese Formen des Widerstands, von ihm als "Nicht-Bewegungen" und "stilles Vordringen" des Alltäglichen benannt, das Machtgefüge nicht nur physisch, sondern auch politisch und sozial verändern können (90ff.). Vor dem Hintergrund der landesweiten Proteste im Nahen und Mittleren Osten scheint Bayats Argumentation schlüssig, dass aus den Handlungen einzelner Subjekte landesweite Massenbewegungen entstehen können.
Die folgenden Fallstudien beleuchten Jugendbewegungen im Zusammenhang mit städtischem Widerstand in den einzelnen Ländern und greifen teilweise Bayats Hypothesen auf. Dabei variieren sowohl die Herangehensweisen als auch die Schwerpunktsetzung der Beiträge. Manche Autor_innen erörtern die historischen und politischen Hintergründe der Protestaktionen des "Arabischen Frühlings", wie sie sich beispielsweise in Tunesien, Algerien und Libanon abgespielt haben. Andere Beiträge über Kairo oder Algier stellen Momentaufnahmen bestimmter Protestereignisse dar oder thematisieren neue Widerstands- und Mobilisierungsformen, wie die Streetart-Szene in Kairo oder den Parkour-Sport in Marokko. Der Aufsatz über Rabat fasst die Ergebnisse einer Studien mit mehreren hundert Jugendlichen zusammen und ergänzt sie ausführlich mit Interviews. Bestimmte Gruppen finden ebenfalls Gehör, indem beispielsweise jugendliche Muslimbrüder in den Fokus genommen werden. Der Beitrag von Daniel Falk (308-322) hingegen greift die Problematik junger Migranten in Dubai auf und thematisiert die sonst im Kontext der arabischen Umbrüche eher vernachlässigten stillen Protest- und Lebensformen.
Vor dem Hintergrund der Heterogenität des Jugendbegriffs, der unterschiedlichen Lebensbedingungen und Widerstandsformen bietet dieser Sammelband aus Blickwinkeln verschiedener Fachrichtungen interessante und facettenreiche Einblicke in das nach wie vor aktuelle Thema Jugendbewegungen im urbanen Raum und deren Bedeutung für Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt. Die Lektüre kann Leser_innen jeglicher Fachdisziplinen nicht nur ein breitgefächertes Wissen zum "Arabischen Frühling", sondern auch viel Wissenswertes über die Lebenswelten arabischer Jugendlicher im Kontext der neoliberalen Globalisierung vermitteln. Angesichts der derzeitigen Migrationsbewegungen wären Beiträge zu arabischen Migranten innerhalb und außerhalb arabischer Länder wünschenswert, um die Themen Mobilität und Aneignung des öffentlichen Raums aus einer weiteren Perspektive beleuchten zu können. Zudem wäre es interessant zu erfahren, wie sich die syrische und libysche sowie die palästinensische Jugend mit den bestehenden Umständen auseinandersetzt, um den Einblick in die Thematik abzurunden. Resümierend kann jedoch festgehalten werden, dass dieses Buch erneut bestätigt, dass "Jugendliche [...] die wichtigsten Akteure für die Gestaltung unserer Zukunft" (27) sind.
Yasmin El-Menshawy