Bodo Mrozek: Jugend - Pop - Kultur. Eine transnationale Geschichte (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2237), Berlin: Suhrkamp 2019, 866 S., ISBN 978-3-518-29837-4, EUR 29,00
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Seit den 1960er Jahren ist Pop zum Mainstream globaler Unterhaltungskultur aufgestiegen. Dieser Aufstieg war weder geräuschlos, noch gewaltfrei. Und dennoch unaufhaltsam. Wie sich popkulturelle Phänomene innerhalb einer Dekade von gesellschaftlichen Randerscheinungen devianter Subkulturen zur dominanten Wahrnehmungsordnung vor allem jugendlicher Selbstinszenierungen und Identitäten entwickeln konnten, zeigt die von Bodo Mrozek vorgelegte Studie "Jugend, Pop, Kultur" auf eindrucksvolle Weise. Mrozek, der bereits mehrere Sammelbände zum Thema herausgegeben hat und zweifellos zu einem der wichtigsten Vertreter zeithistorischer Popgeschichtsforschung in Deutschland zählt, gelingt in diesem Buch eine überzeugende Gesamtschau eines komplexen kulturellen Transformationsprozesses in der Hochmoderne, der sich durch zahlreiche Überlagerungsphänomene, vertrackte Zeitlichkeiten und mediale Eigenlogiken auszeichnet. Gegliedert in drei Phasen - die Konfliktphase (1953-58), die Transformationsphase (1958-61) und die Etablierungsphase (1961-65) - entwirft Mrozek ein popgeschichtliches Gesamtpanorama der 1950er und 1960er Jahre, welches schlaglichtartig auf gesellschaftspolitische Konfliktlagen und generationelle Aushandlungsprozesse einzoomt, ohne dabei die longue durée mentalitätshistorischer Kontinuitäten und Resistenzen aus dem Auge zu verlieren.
Erkenntnisleitendes Interesse der Studie ist dabei die historische Frage, wie sich die Etablierung diverser Popkulturen zwischen 1956 und 1966 aus transnationaler Perspektive beschreiben und analysieren lässt. Musikalische, modische, filmische oder materielle Inszenierungen performativer Identitäten von Jugendlichen werden nicht nur als singuläre und lokale Phänomene zeitlich verortet und räumlich kontextualisiert, sondern es wird nach der internationalen Dimension dieses "Normalisierungsprozesses" (Jürgen Link) gefragt. Diese Kombination von "dichten Beschreibungen" subkultureller Milieus, vor allem in urbanen und großstädtischen Räumen wie New York, Berlin, London und Paris, mit zeithistorischen Reflektionen über die Produktions- und Aneignungsprozesse neuartiger Konsumobjekte wie Schallplatten, Transistorradios oder Fanartikel macht das Buch gleichsam unterhaltsam wie analytisch. Die theoretisch-methodologischen Überlegungen am Anfang des Buches bieten auch dem mit Popgeschichte weniger vertrauten Leser eine solide Einführung in die diversen Forschungsfelder, an die eine zeithistorisch orientierte Popgeschichte anschließen muss: neben dem soziologischen und kulturanthropologischen Repertoire der Cultural Studies sind hier vor allen Dingen die Sound Studies zu nennen, denen sich der Autor eng verpflichtet fühlt. Aber auch emotions- und körpergeschichtliche Studien sowie Erkenntnisse aus der Stadt- und Mediengeschichte fließen in das Methodenrepertoire ein. Dieser der offenen Definition von "Pop" und "Popkultur" geschuldete Methodenpluralismus spiegelt sich vor allem in der großen Bandbreite von Quellen, welche der Autor in empirischer Akribie zusammengetragen hat: neben der Analyse von Jugendzeitschriften und Polizeiakten werden materielle Quellen wie Kleider, Plattencover und Mopeds auf ihre symbolische Dimension für die Herausbildung individueller wie kollektiver Identitäten hinterfragt.
Im Vergleich zu bestehenden Arbeiten zur Popgeschichte überzeugt Mrozeks Studie vor allem durch eine von der Mediengeschichtsschreibung oftmals eingeforderte, aber selten realisierte intermediale Perspektive: es sind die im massenmedialen Ensemble der 1950er und 1960er Jahre zu beobachtenden gegenseitigen Verstärkungen und "Resonanzen" (Hartmut Rosa), welche popkulturelle Erscheinungen - sei es "live" auf der Bühne, über Radio- und Fernsehkanäle ausgestrahlt, in Jugendzeitschriften farbenfroh und bildlich inszeniert, oder im Film dramatisiert - zu einem Gesamtkunstwerk und Epochenmerkmal machen. Auch wenn diese medialen Verstärkereffekte eher exemplarisch beschrieben denn systematisch analysiert werden, unterstreicht diese Herangehensweise den in der Einleitung formulierten Anspruch, Pop als "Wahrnehmungsordnung" zu begreifen, die diskursiv hervorgebracht und medial vermittelt ist. Diese Wahrnehmungsordnung ex post in ihrer sensoriellen und körperlichen Dimension zu historisieren verlangt nach einem hohen methodischen Reflexionsgrad sowie einer "media literacy", die für viele ZeithistorikerInnen eine echte Herausforderung darstellen dürfte.
Einziger Wermutstropfen bildet die starke urbane Fokussierung der Studie, welche die schleichende Ausbreitung und damit gesamtgesellschaftliche Etablierung und Akzeptanz popkultureller Praktiken auch im ländlichen Raum außer Acht lässt. Eine entsprechende Verlagerung der Forschungsperspektive auf den ländlichen Raum würde sehr wahrscheinlich zu einer Anpassung des zeitlichen Verlaufs des Phasenmodells führen - was der Originalität und empirischen Dichte der vorliegenden Arbeit aber keinen Abbruch tut.
Andreas Fickers