Lale Yildirim: Der Diasporakomplex. Geschichtsbewusstsein und Identität bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation (= Histoire; Bd. 141), Bielefeld: transcript 2018, 332 S., 17 Abb., 19 Tbl., ISBN 978-3-8376-4414-2, EUR 39,99
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Während geschichtsdidaktische Fragestellungen im Kontext historischen Lernens in der Migrationsgesellschaft seit mehreren Jahren diskutiert werden, gibt es bislang keine spezifischen Untersuchungen zu den Akteursgruppen der sogenannten "dritten Generation". Lale Yildirims Pionierarbeit füllt diese Lücke, indem sie sich empirisch mit dem Geschichtsbewusstsein und der Identität bei Jugendlichen mit einem türkeibezogenen Hintergrund beschäftigt. Sie geht damit nicht nur der Frage nach, wie und welche Geschichten in einer multiethnischen Gesellschaft erzählt werden sollen, sondern auch, welche Zusammenhänge zwischen Identitätsangeboten beziehungsweise Identitätszuschreibungen und Geschichtsbewusstsein bestehen.
Im einleitenden Kapitel umreißt die Autorin die Fragestellung der Arbeit, indem sie mithilfe der fiktiven Schülerin Elif die Problematik aufwirft, wie Zuschreibungen und Stereotype im schulischen Alltag wirken könnten. Kern des Szenarios ist, dass eine vermeintlich autochthone Lehrerin der Schülerin mit Migrationshintergrund abspricht, Deutschland als ihre Heimat zu definieren. Dieses Szenario mag zwar einerseits fiktiv sein, dürfte aber - so Yildirim - "Personen, denen ein sogenannter Migrationshintergrund zugewiesen wird, wohl vertraut sein" (13).
Das anschließende Kapitel befasst sich mit den theoretischen Grundlagen zu Geschichtsbewusstsein, Integration und Identität. In diesem entwickelt Yildirim unter anderem den theoretischen Fall "Elif" weiter, indem sie für die Sozialisationsbedingungen eines Kindes der "dritten Generation" ein mögliches "Worst-Case-Szenario", einen drohenden "Super-GAU" (72), nämlich die Gefahr der Entwicklung eines doppelt semi-historischen Bewusstseins analog "zum doppelten Semi-Lingualismus" (ebenda) sieht. Dieses könne eine Person "leicht empfänglich für radikale Gemeinschaften" machen (77). Das geschilderte Szenario ist durch seine Defizitorientierung durchaus problematisch, da das Konzept der doppelten Halbsprachlichkeit mittlerweile aufgrund seiner Stereotypisierungsgefahr kaum noch Konsens findet. Zudem lässt sich die Passage so deuten, dass die vorhandene gesellschaftliche Vielfalt von Identitätskonzepten und somit hybride Identitäten negativ bewertet werden - was genau zu einer Stereotypisierung führen könnte. Gleichwohl gelingt es Yildirim in diesem theoretischen Kapitel, soziologische Integrationsmodelle mit einem Fokus auf der "dritten Generation" mit einer Modellierung von Geschichtsbewusstsein, welches sich an den Idealtypen historischer Sinnbildung nach Rüsen orientiert, zu einem Modell für "Historische Identitätskonstruktion" zu verflechten (86). Das Modell basiert zudem auf der Annahme, dass eine gesellschaftliche Teilhabe durchaus auch an das Vermögen gekoppelt sei, historisch Denken zu können (78-86). Herausfordernd ist dabei der Versuch, die Rüsenschen Sinnbildungstypen spezifisch auf die Ausbildung "balancierter Ich-Identitäten" (80) zu übertragen. Gleichwohl ist dieses Vorgehen sehr spannend, da es die von Rüsen nur theoretisch hergeleiteten Typen für die später in der Arbeit durchgeführte Empirie operationalisiert.
Das dritte Kapitel präsentiert den Forschungsstand. Hier werden die relevanten Studien sozialwissenschaftlicher und geschichtsdidaktischer Provenienz umfassend zusammengetragen. Insbesondere die geschichtsdidaktischen Studien werden kritisch gewürdigt, wobei Yildirim darauf hinweist, dass in diesen die Kategorie "Migrationshintergrund" meist nur wenig differenziert Verwendung finde und nicht berücksichtigt wird, dass die Befragten immer auch Mitglieder der deutschen Gesellschaft und daher auch durch deren geschichtskulturelle Angebote geprägt sind. Ebenso werden die Schwierigkeiten, die Population der sogenannten "dritten Generation" überhaupt als einheitliche Gruppe zu definieren, verständlich erläutert.
Das vierte Kapitel befasst sich mit der empirischen Studie, die den Kern dieser Arbeit bildet. Konkret erforscht die Autorin "den Zusammenhang zwischen Geschichtsbewusstsein und Integration bei Schüler*innen der dritten Generation mit türkeibezogenem Migrationshintergrund" (107). Dazu soll der Einfluss von Migrationserfahrungen auf das Geschichtsbewusstsein eruiert und das Modell des doppelt semi-historischen Bewusstseins als "eine gruppentypische Spannungsform" (111) überprüft werden. Hier wird erneut die Problematik einer unsachgemäßen Homogenisierung der untersuchten Gruppe erwähnt, wegen derer Yildirim auch andere Diversitätsmerkmale wie Geschlecht oder Schulformen berücksichtigt.
Die Autorin bedient sich zur Beantwortung ihrer Forschungsfragen eines Mixed-Methods-Ansatzes mittels einer quantitativen Fragebogenerhebung und anschließenden Gruppen- und Einzelinterviews sowie schriftlicher Einzelbefragungen (112). Das Sample bestand aus Lernenden der "dritten Generation" mit türkeibezogenem und nicht vorhandenem Migrationshintergrund an Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien (n=216). Die Befragten waren 15 und 16 Jahre alt und besuchten die zehnte Klasse.
Äußerst positiv ist die Transparenz, welche die Autorin hinsichtlich ihres Forschungsprozesses herstellt, unter anderem erkennbar an der Schilderung der Anpassungen, die im Anschluss an die Pilotierung am Forschungsdesign vorgenommen wurden. Das Vorgehen wird detailliert und methodisch fundiert erläutert, inklusive einer Methodendiskussion im sechsten Kapitel. Schade ist indes, dass die Items des Fragebogens zwar theoretisch hergeleitet und kontextualisiert werden, aber im Anhang nicht konkret nachlesbar sind. So wird den Lesenden erschwert, sich ein umfassendes Bild etwa der Fragen zu verschaffen, die das historische Wissen adressieren. Vage bleibt daher auch, wie das mit 60,5 Prozent recht hohe Interesse der Befragten am Geschichtsunterricht einzuordnen ist, da die konkret gestellte Frage nicht bekannt ist (145). Gleichwohl: die durch die quantitative Untersuchung gewonnenen Daten werden ausführlich analysiert und statistisch berechnet. Nicht immer jedoch werden die Bezüge zum geschichtsdidaktischen Diskurs ganz stringent hergeleitet, etwa wenn auf Studien verwiesen wird, um das hohe Interesse der untersuchten Gruppe an Geschichte und Geschichtsunterricht zu erklären, diese Studien die Gruppe aber gar nicht untersuchten (149-150).
Die qualitativ gewonnenen Daten wurden einer kategorialen Inhaltsanalyse unterzogen. Positiv ist die vielfältige Präsentation von Sequenzen aus den Interviews, so dass nicht nur der Forschungsprozess, sondern auch die aus der Auswertung gewonnenen Rückschlüsse leicht nachvollzogen werden können. Gleichwohl hätte auch hier expliziter dargestellt werden können, wie die Zuordnungen der Aussagen zu den vier Sinnbildungsmustern nach Rüsen genau erfolgt ist. Dies wird aus den kurzen Abschnitten nicht immer deutlich. Äußerst aufschlussreich ist die Auswertung zu den Identitätskonzepten der Befragten (195-219). Hier wird letztlich plausibel hergeleitet, wie Selbst- und Fremdzuschreibungen auf individuelle Identitäten wirken und wie sie sich sprachlich manifestieren. So ist erkennbar, dass sich bei vielen Jugendlichen der "dritten Generation" Diaspora-Narrative finden lassen. Im Gesamten zeigt sich hier auch, dass die Geschichten, die in unserer pluralen Gesellschaft erzählt und die von den Befragten als relevant eingestuft werden, nach wie vor durch 'deutsche' Geschichte definiert werden und die eigene Identität beziehungsweise die eigene Geschichte als Abweichung betrachtet wird. Dabei hat Geschichte für die untersuchte Gruppe eine außerordentlich "hohe lebensweltliche Relevanz" - jedoch nicht der schulische Geschichtsunterricht (223).
Im fünften Kapitel werden auf Basis der empirischen Erhebung vier Typen historischer Identitätskonstruktion gebildet, die wiederum Merkmale der Rüsenschen Sinnbildungstypen beinhalten (233-243). Diese Typenbildung ist stringent und wird den geschichtsdidaktischen Diskurs sicher auch im Rahmen weiterer Studien bereichern. Für die jeweiligen Typen werden anschließend Fallbeispiele vorgestellt. Die Ausführungen münden in der normativen Forderung, dass eine Integration von jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund nur dann gelingen könne, wenn die Gesellschaft ihre Transkulturalität akzeptiere, reflektiere und wertschätze (280). Das Buch endet mit mehreren Thesen zu einem Geschichtsunterricht in der Migrationsgesellschaft, die teils schon in anderen Studien aufgestellt wurden, in deren Bündelung aber die Notwendigkeit der Weiterentwicklung des geschichtsdidaktischen Diskurses im Rahmen derartiger Fragestellungen nochmal immens deutlich wird.
Lale Yildirims Dissertation befasst sich nicht nur mit einem für die akademische Geschichtsdidaktik außerordentlich wichtigen Thema, sondern auch mit Fragen, die ganz praktische Auswirkungen auf den Geschichtsunterricht haben. Hervorzuheben ist, dass mit der Studie erstmals eine Gruppe explizit beforscht wurde, die vorher nur unzureichend als Menschen mit Migrationsgeschichte bezeichnet wurde. Diese kann aber hinsichtlich ihrer Individualitäten einerseits, ihrer kollektiven Verflechtungen von Identitäten und Generationen andererseits, durchaus nicht als eine homogene Gruppe betrachtet werden. Dabei gelingt es Yildirim, theoretische Grundannahmen der Geschichtsdidaktik methodisch und empirisch zu modellieren, wenn auch manche empirischen Schritte ausführlicher hätten dargestellt werden können. Insgesamt aber wird diese Arbeit den geschichtsdidaktischen Diskurs in einem wesentlichen Maße bereichern und letztlich ebenso interdisziplinär Aufmerksamkeit finden.
Sebastian Barsch