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Andreas Wirsching / Jürgen Zarusky / Alexander Tschubarjan u.a. (Hgg.): Erinnerung an Diktatur und Krieg. Brennpunkte des kulturellen Gedächtnisses zwischen Russland und Deutschland seit 1945, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Stefan Scheil: 707. Infanteriedivision. Strafverfolgung, Forschung und Polemik um einen Wehrmachtsverband in Weißrußland, Aachen: Helios Verlag 2016
Elena Temper: Belarus verbildlichen. Staatssymbolik und Nationsbildung seit 1990, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012
Olga Velikanova: Mass Political Culture Under Stalinism. Popular Discussion of the Soviet Constitution of 1936, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2018
Gerhard Wettig: Die Stalin-Note. Historische Kontroversen im Spiegel der Quellen, Berlin: BeBra Verlag 2015
Wolfgang Geierhos: Der Große Umbau. Russlands schwieriger Weg zur Demokratie in der Ära Gorbatschow, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Melanie Arndt: Tschernobylkinder. Die transnationale Geschichte einer nuklearen Katastrophe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020
Maren Röger / Ruth Leiserowitz (eds.): Women and Men at War. A Gender Perspective on World War II and its Aftermath in Central and Eastern Europe, Osnabrück: fibre Verlag 2012
In der gegenwärtigen russischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg dominiert zweifelsohne der identitätsstiftende Stolz, gestützt auf ein medial omnipräsentes, glorifizierendes und zum "Patriotismus erziehendes" [1] Narrativ. Doch so sehr auch der heldenhafte Kampf und die kollektive Siegeserfahrung beschworen werden - von einer einseitig "heroischen" Geschichtsschreibung kann keinesfalls die Rede sein. Vor allem jüngere Historiker haben sich in den letzten Jahren dem bis dahin wenig erforschten und ruhmlosen Überleben der einfachen Zivilbevölkerung unter deutscher Besatzung sowie hinter der Front als Forschungsgegenstand zugewandt, nach Hintergründen und Motiven von Kollaboration gefragt oder den Holocaust in den besetzten Gebieten der Sowjetunion problematisiert. Die hier besprochenen, konzeptionell sehr unterschiedlichen vier Bücher - zwei Monografien und zwei Sammelbände - behandeln diese Problemfelder und stehen für eine differenzierte Geschichtsschreibung abseits des Heldengedenkens.
Die Kooperation zwischen der Zivilbevölkerung und der deutschen Besatzungsmacht in den westlichen Gebieten Russlands ist das zentrale Thema der Monografie des Novgoroder Historikers Boris Kovalev. Zwar trägt das Buch den Titel "Alltagsleben der Bevölkerung", doch von alltäglichen Erfahrungen handelt es eigentlich wenig. Vielmehr werden hier in 17 Kapiteln verschiedenste Formen der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen, administrativen, Alltags- und Kriegskollaboration in den unter Militärverwaltung stehenden Westgebieten der russischen Föderation dokumentiert, deren Kriegsgeschichte bisher nur spärlich erforscht ist. Das in 24 russischen Archiven gesammelte Material zu Themen wie einheimische Stadtverwaltung, Polizei- und Gerichtswesen, Bildung, Agrar- und Wirtschaftspolitik, Presse oder Religion ist beeindruckend. Entgegen der überkommenen Muster sowjetischer Geschichtsschreibung illustriert Kovalev, wie abwartend die Haltung der Zivilbevölkerung gegenüber den Besatzern selbst in den besetzten russischen Gebieten war und wie die Herrschaft weniger Deutscher über Zehntausende Einheimische in den einzelnen territorialen Verwaltungsstrukturen funktionierte. Dass die Besatzer von Anfang an auf die einheimische Kommunalverwaltung angewiesen waren, die sich vor allem aus antibolschewistisch eingestellten Bevölkerungsgruppen rekrutierte, sowie auf ein weites Netz von Unterstützungsinstitutionen (Hilfspolizei, Hilfs-Ordnungsdienstmänner, Hilfswachmänner), ist inzwischen bekannt und gerade aus Täter-Perspektive gut erforscht. Doch wie eine solche in verschiedensten Lebensbereichen stattgefundene Zusammenarbeit im Einzelnen funktionierte, war bisher in der Breite - vor allem in der russischen Historiografie - wenig dokumentiert. Kovalev beschreibt die Vielschichtigkeit und spezifische "Normalität" der alltäglichen und umfassenden Kollaboration. In manchen von der Wehrmacht schwach kontrollierten Gebieten bestand sogar der Schein einer autonomen "russischen Administration". Doch obwohl die antibolschewistische Kollaboration, die gegen Bolschewismus und für die "Wiedergeburt Russlands" auf Hitlers Seite kämpfte, keineswegs klein war, konnte sie stets nur unter Kontrolle der deutschen Besatzer agieren: All die Posten bzw. politische Gruppierungen wurden durch die deutschen Kommandanturen (teilweise unter Zwang) besetzt oder aufgelöst, was auch mit der physischen Vernichtung ihrer Vertreter verbunden sein konnte. Gerade mit dem wachsenden Widerstand der Roten Armee und der Partisanen ab 1943 nahm die Kollaboration immer mehr Zwangscharakter an und es war keine Seltenheit, so Kovalev, dass Einheiten etwa der "Russischen Befreiungsarmee" zu den Partisanen überliefen.
Obgleich die eigentlich innovative Stärke dieser Studie darin besteht, die Komplexitäten der Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht und das unterschiedliche Ausmaß an Freiwilligkeit zu zeigen, greift der Autor an vielen Stellen des Buches auf das verkürzte Interpretationsmuster von den "Vaterlandsverrätern" zurück. Leider mindern solche pauschalen und manchmal geradezu irritierenden Verallgemeinerungen den wissenschaftlichen Wert des Buches. Neben solcher Polemik stört eine mangelnde Organisation des Stoffs. Die fehlende Systematik ist ärgerlich - es gibt weder eine klare Fragestellung noch ein bilanzierendes Schlusskapitel. Der Autor setzt sich nicht mit den bisherigen Erkenntnissen der Forschung auseinander, er ignoriert diese sogar auf weiten Strecken, auch dort, wo Ergebnisse mit dieser weitgehend übereinstimmen. Er selbst scheint sich übrigens zuweilen in der Masse des Geschriebenen zu verlieren; er wiederholt sich mehrfach. Größere Stringenz und saubere Methodik hätten dieser Monografie nicht nur analytische Schärfe gegeben, sondern auch das Lesen deutlich erleichtert. Kovalev hat zwar eine empirisch auf zahlreichen Archivquellen beruhende Darstellung vorgelegt, die die vielschichtigen Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Besatzern und Besetzten, ja sogar eine spezifische "Normalität" der Besatzungsgesellschaft schildert und die starren Täter-Opfer-Kategorien hinterfragt. Weniger und präziser wäre aber in diesem Fall mit Sicherheit mehr gewesen.
Diesem Anspruch wird der Historiker Oleg Roman'ko aus Simferopol' auf der Krim mit seiner Untersuchung der Kollaboration auf dem Gebiet des heutigen Weißrussland sehr viel stärker gerecht; in Teilen ist sie allerdings bereits früher veröffentlicht worden. [2] Anders als Kovalev grenzt er seinen Forschungsgegenstand nicht nur geografisch, sondern auch konzeptionell ein: Er beschränkt sich auf eine Analyse der militärischen Kollaboration, die Zusammenarbeit von Einheimischen mit den Machtstrukturen der Besatzer - in Wehrmacht, SS und Polizei - im Generalkommissariat Weißruthenien. Das in fünf Kapitel und einen umfangreichen Anhang untergliederte Buch stützt sich auf Recherchen in diversen deutschen, russischen, weißrussischen und polnischen Archiven und bietet eine solide Synthese der internationalen Forschung zur nationalsozialistischen Besatzungspolitik Weißrusslands. [3] Den staatlich gepflegten Topos von Weißrussland als "Partisanenrepublik" relativiert diese Studie erheblich.
Das erste Kapitel gibt einen Überblick über die bis zum Schluss nicht konkretisierte politische Konzeption des nationalsozialistischen Deutschland für das Generalkommissariat Weißruthenien. Zwar bestand in NS-Führungskreisen generell ein Konsens darüber, dass die Zusammenarbeit mit der einheimischen nationalistisch und antibolschewistisch eingestellten Bevölkerung notwendig sei. Über das konkrete Herrschaftsmodell gingen jedoch die Meinungen auseinander. Während in Alfred Rosenbergs Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete die Vorstellung herrschte, dass der Nationalismus der osteuropäischen Völker durch Zugeständnisse gefördert werden solle, um diese dann in Stellung gegen die Sowjetmacht bringen zu können, differenzierten etwa der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, und das Militär nicht zwischen den ethnischen Gruppen Osteuropas, einzelne Offiziere der Wehrmacht setzten hingegen sogar auf den russischen Nationalismus. Als stark fragmentiert stellt Roman'ko die weißrussische nationale Intelligenz dar. Diese war sehr schwach entwickelt, durch interne Machtkämpfe gespalten und uneinig, wie die staatliche Unabhängigkeit Weißrusslands zu erreichen sei. Dass sich die Zusammenarbeit zwischen weißrussischen Akteuren und NS-Besatzungsinstanzen im Spannungsfeld dieser Differenzen gestaltete und daher nicht gleichförmig war, wird in den weiteren Kapiteln des Buches besonders greifbar. Zunächst unterscheidet Roman'ko zwischen drei Phasen deutscher Besatzungspolitik. Auf die erste Phase relativ planloser und brutaler Besatzung folgte ein zaghaftes Umdenken. Als richtungsweisend für die neue Linie betrachtet der Autor die Arbeitstagung von Vertretern der militärischen und ministeriellen Führungsebene in Rosenbergs Ministerium am 18. Dezember 1942, auf der die Kontraproduktivität des "harten Kurses" kritisiert wurde und Rosenbergs Modell der zielgerichtet bevorzugten Behandlung bestimmter ethnischer Gruppen Zuspruch fand. Der Kurswechsel schlug sich in einer weißruthenischen Volkstums- und einer antisowjetischen Gräuelpropaganda nieder, die von der Gründung diverser pseudounabhängiger einheimischer Selbstverwaltungsorganisationen, von kleineren Zugeständnissen im sozialen und kulturellen Bereich und von Rekrutierungskampagnen von "Freiwilligen" und "Hiwis" begleitet wurde. Die Mobilisierungskampagne des "neuen Europa" im "Befreiungskampf gegen den Bolschewismus" verfolgte eine kontrollierte Förderung des "Weißruthenentums", um durch Versprechungen begrenzter Unabhängigkeit und Selbstverwaltung, Gewährung von Privilegien und ökonomischen Vorteilen möglichst viele Kollaborateure zur Zusammenarbeit zu gewinnen. Mit der Befreiung der besetzten sowjetischen Gebiete durch die Rote Armee im Sommer 1944 begann schließlich die dritte Phase einer verstärkten politischen Zusammenarbeit mit den Führern nationaler Bewegungen, aber auch der Konflikte mit Vertretern der "pro-russischen" Linie innerhalb des NS-Apparats, die eine Unterstellung der nationalen Einheiten unter die russische Befreiungsarmee von General Vlassov favorisierten.
Der Analyse des Geschehens im Krieg hat Roman'ko ein Kapitel vorangestellt, das die weißrussische nationale Identität und Nationalbewegung zwischen den zwei Weltkriegen behandelt und die Verwaltungsstrukturen deutscher Besatzung im Allgemeinen darstellt. Beides ist notwendig und souverän gemacht. Doch geht Roman'ko mit der Entzauberung des Mythus des "Belarussischen Nationalismus" etwas zu weit, wenn er zwar zu Recht die weißrussische Unabhängigkeitsbewegung im politischen Spannungsfeld zwischen Polen und Russland als äußerst schwach und heterogen beschreibt, seine Ausführungen aber zu der überzogenen These zuspitzt, ohne die NS-Besatzung wäre die national-weißrussische Identität ganz verschwunden. Seine eigene Darstellung der gescheiterten Schürung des gelenkten Nationalismus im Generalkommissariat Weißruthenien widerspricht dieser These.
Die Gründung und Förderung der einheimischen "Selbstverwaltungs"-Organisationen und ihr Streben nach politischer Autonomie sind Gegenstand des dritten Teils des Buches. Dass der eingeleitete Prozess der "Belorussifizierung" in seiner Wirkung sehr begrenzt blieb und die politischen Mitläufer der Deutschen zu keiner Zeit gleichberechtigte Partner waren, wird hier mit Beispielen veranschaulicht. Eine propagandistische Aushängeschild-Funktion war dem im Herbst 1941 gegründeten "Weißruthenischen Volks-Selbsthilfewerk" unter Ivan Ermačenko zugedacht, das vor allem für die Wohlfahrtsfragen zuständig sein sollte. Als seine Mitglieder Einfluss auf die Besatzungspolitik zu nehmen versuchten und im Sommer 1942 Forderungen nach Anerkennung des Selbsthilfewerks als ein Hauptorgan der Verwaltung und im Frühjahr 1943 nach Autonomie Weißrusslands sowie Organisation einer eigenen belarussischen Armee stellten, wurde das Volks-Selbsthilfewerk kurzerhand in das "Weißruthenische Selbsthilfewerk" mit stark beschnittenen Kompetenzen umgeformt. Auch der im Dezember 1943 eingerichtete "Weißruthenische Zentralrat" unter Radoslav Ostrovskij, eine Art Marionettenregierung, blieb stets unter scharfer Kontrolle der Deutschen und seine politische Wirkung in der Bevölkerung weitgehend marginal, obgleich er über Kompetenzen in den Bereichen Schulwesen, Kultur und Soziales verfügte. Ohne Erfolg agierte auch die sogenannte "dritte Kraft" - nationalistische Partisanengruppen und parteiähnliche Zusammenschlüsse, wie die "Weißrussische Unabhängige Partei" von Godlevskij - die ihre Aktivitäten sowohl gegen die Sowjetregierung als auch gegen die deutschen Besatzer richtete und eine Belorussifizierung des Verwaltungsapparates anstrebte. Die Gründe für das Scheitern all dieser Gruppen sieht Roman'ko nicht nur im schwach ausgeprägten Nationalismus und den starken prosowjetischen Traditionen im Lande, sondern auch und vor allem in der Zersplitterung und politischen Uneinigkeit innerhalb der Nationalbewegung selbst, sowie in der deutschen Besatzungspolitik, die sich den weißruthenischen Nationalismus durchgängig dienstbar machte.
Die Rekrutierung Einheimischer als Hilfswillige in Polizei- und Militärformationen steht im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen. Neue Erkenntnisse werden insbesondere zur Aufstellung der insgesamt 12 weißrussischen Schuma-Batallione und geschlossenen Kampfverbände präsentiert. Diese erfolgte in der Regel unter deutscher Anleitung. Die schlechte Behandlung und Versorgung sowie der notorische Mangel an einheimischen, ausgebildeten Offizieren waren charakteristisch, was zu ständigen Auflösungen und Umformierungen von Verbänden führte. Einen Sonderfall stellte die 1943 gebildete Novogrudeker Reiter-Schwadron von Ragulja (Schuma-Reiter-Abteilung) dar, die als einzige ohne deutsches Personal, mit eigener Uniform und Bewaffnung bis zu ihrer Auflösung im Sommer 1944 weitgehend unabhängig war. Generell, so Roman'ko, seien die auf freiwilliger Basis ausgebildeten Kampfeinheiten mit einheimischer Führung nicht nur disziplinierter und erfolgreicher im Einsatz gegen die Partisanen gewesen, sondern sie hätten auch attraktiv auf die Jugend vor Ort gewirkt. Darin bestand dem Autor zufolge auch der begrenzte politische Erfolg der weißrussischen Nationalisten: die Rekrutierung und Aufstellung der ersten explizit weißruthenischen Volksarmee erfolgte im Namen nationaler Vertreter (Weißruthenischer Zentralrat) und implizierte eine gewisse Belorussifizierung, selbst innerhalb der Polizeieinheiten.
Das letzte Kapitel behandelt die Schlussphase der Kollaboration, in welche die intensivierte Erfassung und Kontrolle der Jugendlichen durch die Bildung des "Weißruthenischen Jugendwerks" und die erst im Sommer 1944 gestartete und zum Teil schon außerhalb des Generalkommissariats organisierte Mobilisierung von Freiwilligen für SS-Einheiten fällt. Die Schlussbetrachtung und ein fast 100 Seiten umfassender Anhang mit kalendarischer Übersicht, schematischen Darstellungen des deutschen Herrschaftsapparats und weißruthenischer kollaborationistischer Einheiten, ergänzt um Tabellen zu Mannschaftsstärken und Zusammensetzung, biografische Angaben zu den Hauptakteuren sowie ausgewähltes Quellenmaterial runden die Untersuchung ab.
Mit diesem Buch liegt nun eine fundierte und ausgewogene Überblicksdarstellung zur politischen Kollaboration in den Westgebieten des heutigen Weißrussland vor. Dem Autor ist es vor allem sehr gut gelungen, die Widersprüche der Zusammenarbeit, den stets präsenten Konflikt zwischen nationalsozialistischen Dogmen und der vorgefundenen Realität sowie das nationale, mit der NS-Ideologie konfligierende Selbstverständnis der einheimischen Akteure darzustellen. Dass die weißrussischen Kollaborateure keineswegs nur eine kleine Minderheit gefügiger Marionetten waren, sondern durchaus eigensinnig, wenn auch erfolglos, ihre eigene politische Agenda (nationale Eigenstaatlichkeit) verfolgten und berechtigtes Misstrauen bei den Deutschen erregten, ist der interessanteste Befund dieser Studie, die gewissermaßen eine Antithese zu Kovalevs Untersuchung darstellt. Was allerdings in diesem Buch unbeantwortet bleibt, ist die Frage nach dem Grad der Beteiligung der weißrussischen Kollaborateure am Holocaust und am Terror gegen die Zivilbevölkerung. Diese schätzt Roman'ko im Vergleich zu der der Nationalisten in der Ukraine oder Baltikum zwar als gering ein (348), bleibt aber eine überzeugende Untermauerung seiner Aussage schuldig. Das hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck: Das Buch dokumentiert die beträchtliche Zahl der zur politischen Zusammenarbeit mit den Besatzern bereiten Einheimischen, lässt sie aber zugleich als Unbeteiligte an den größten Massenmorden der Bevölkerung auf dem weißrussischen Schauplatz stehen. Das ist aber ein Widerspruch, der einer eingehenden Auseinandersetzung bedarf.
Anders als die besprochenen Monografien deckt der von Oleg Budnickij und Ljudmila Novikova herausgegebene Band, eine auf den ersten Blick heterogen wirkende Sammlung von Beiträgen einer internationalen Konferenz aus dem Jahr 2012, ein ziemlich breites Spektrum von Problemen des "Großen Vaterländischen Krieges" ab. Der Holocaust in den besetzten Gebieten der Sowjetunion, die Gesellschaftsgeschichte in der Zeit des Kriegsstalinismus und die Verarbeitung der Geschichte des Krieges in der sowjetischen Erinnerungskultur bilden die thematischen Fixpunkte des Buches.
Im ersten Teil korrespondiert der Aufsatz von Steven Maddox über die Mittäterschaft der Einheimischen bei den Vergeltungsexpeditionen im Leningrader Gebiet mit der Thematik der Monografien von Kovalev und Roman'ko. Die Strafeinheiten setzten sich zwar vielfach aus Vertreter der baltischen Staaten zusammen, doch waren Maddox zufolge in ihnen vor allem sehr viele ehemalige sowjetische Kriegsgefangene vertreten, was von der sowjetischen Historiografie lange verschwiegen worden, unter den Einheimischen aber bekannt war. Ähnlich wie im Fall von Weißrussland waren die einheimischen Täter Werkzeuge deutscher Besatzungspolitik: rekrutiert zur Partisanenbekämpfung und Terrorisierung der Zivilbevölkerung standen sie stets unter Kontrolle deutscher Offiziere. Viele waren dabei zwar überzeugte Antibolschewisten bzw. Antisemiten, doch war diese Form der Kollaboration für die meisten von ihnen eine Überlebensstrategie, die sich oft, vor allem in der zweiten Hälfte des Krieges, im Überlaufen zu den Partisanen fortsetzte. Für Zvi Gitel'man, der einen Aufsatz über die jüdischen Partisanen in Weißrussland vorgelegt hat, war der hohe Anteil der desertierten Kollaborateure unter den Partisanen (zum Ende des Krieges jeder fünfte!), vor allem in den westlichen Gebieten Weißrusslands, eine der Hauptursachen des bei den Freischärlern weit verbreiteten Antisemitismus. Hauptsächlich aus diesem Grund, aber auch wegen mangelnder Bewaffnung und geringer Unterstützung seitens der einheimischen Bevölkerung wurden Juden nur ungern in den bewaffneten Widerstand aufgenommen. Dessen ungeachtet konnten zwei Drittel der Juden in Partisaneneinheiten und die Hälfte der jüdischen Partisanenfamilien den Krieg überleben. In der Roten Armee hingegen sei der Antisemitismus kaum verbreitet gewesen - zu diesem Schluss kommt Arkadij Zel'zer in seinem Aufsatz über die Wahrnehmung des Holocaust durch die Rotarmisten. Die ethnische Zugehörigkeit sei für die Frontsoldaten nicht von zentraler Bedeutung gewesen, habe aber die Vorstellung über die Rolle der eigenen ethnischen Gruppe im Krieg bestimmt. Während des Krieges sei man über die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung gut informiert gewesen, doch nicht darüber, dass sie eine Konsequenz der nationalsozialistischen Rassenpolitik war. Die zum Ende des Krieges verstärkte sowjetische Propaganda verfestigte noch die abstrahierende Einstufung der getöteten Juden als "friedliche sowjetische Bürger". Tatjana Pastušenko stellt in ihrem Aufsatz Fragen nach der Behandlung der gefangen genommenen Juden nach der Schlacht um Kiev im Herbst 1941. Durch die Gegenüberstellung solcher Quellen wie deutscher Meldungen, Materialien der Gefangenenvernehmung durch das NKWD und Erinnerungen überlebender Gefangener kommt sie zu dem Ergebnis, dass Juden zusammen mit den Kommissaren buchstäblich in den ersten Stunden nach ihrer Gefangennahme und in vielen Fällen im Frontbereich ausschließlich und unmittelbar durch Angehörige der Wehrmacht und nicht durch die Einsatzgruppe C erschossen wurden. Der Holocaust auf dem Territorium der Ukraine ist auch das Thema des Beitrags von Stanislav Aristov. Durch die vergleichende Analyse von Strukturen und Funktionsmechanismen ukrainischer Konzentrationslager mit denen in Polen und NS-Deutschland wird ihre Sonderstellung herausgearbeitet. Der Autor dokumentiert, dass chaotische Organisation, Willkür und primitivste Formen des Terrors mit sehr hoher Todesrate für die Lager auf dem Gebiet der Ukraine charakteristisch waren und diese daher strukturell dem Lagersystem des NS-Deutschlands von 1933/34 ähnelten. Von der Funktion her handelte es sich hier aber, genauso wie in Polen oder im Reich, um Orte der massenhaften Arbeitsausbeutung und Vernichtung. Ein weiterer gravierender Unterschied zeigt sich in der sozialen Struktur der Lagergesellschaft: obwohl die Mehrheit der Gefangenen ein und demselben Kulturkreis entstammte und sprachlich verbunden war, konnten hier keine informellen Strukturen, Solidarität oder gegenseitige Hilfe entstehen. Dieser Umstand war einerseits auf das hier fehlende System der Selbstverwaltung der Häftlinge, andererseits auf ihre schnelle Vernichtung durch Massenerschießungen zurückzuführen. Den ersten thematischen Abschnitt des Bandes schließen Olena Petrenko mit einem genderspezifischen Aufsatz zur multifunktionalen Rolle der Frauen in der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) bzw. in der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) und Matthias Kaltenbrunner mit einem Beitrag über die konfliktreiche innersowjetische Interpretation des Massenausbruchs von etwa 500 sowjetischen Offizieren aus dem KZ Mauthausen ab.
Grundlegende Überlegungen über das Wesen des Stalinismus und Schwierigkeiten seiner Definition bzw. Periodisierung von Michael David-Fox leiten den zweiten Teil des Bandes ein. Der Autor plädiert dafür, die Erforschung des Großen Vaterländischen Krieges nicht vom Phänomen des Stalinismus abzukoppeln. Darüber hinaus weist er auf die Notwendigkeit hin, bei der Analyse der Zusammenhänge zwischen Krieg und Stalinismus verschiedene Typen und Ziele politischer Gewalt zu problematisieren. Diesen Aufforderungen entsprechen mehr oder weniger folgende Beiträge. Besondere Aufmerksamkeit verdienen dabei die zwei äußerst interessanten und thematisch ähnlichen Aufsätze von Donald Filtzer und Wendy Goldman, die sich mit der Ernährungspolitik im Hinterland befassen und die katastrophale Lage der Zivilbevölkerung dokumentieren. Die höchsten Sterblichkeitsraten konstatiert Filtzer für die Zeit zwischen Ende 1941 und Ende 1942, als vorwiegend Neugeborene, Kinder und alte Menschen an Hunger, Unterernährung, Masern und Typhus starben, sowie im Jahr 1943 mit hohem Sterblichkeitsanteil der Männer im Alter zwischen 30 und 59 Jahren. Eine gewisse Verbesserung der Lage, vor allem in Zentralrussland, in Moskau und im Wolga-Gebiet trat erst 1944 ein, kaum hingegen in den Gebieten mit klimatisch schweren Bedingungen, instabiler Versorgung und intensivster Arbeit wie etwa dem Ural. Da die zum Überleben ohnehin unzureichende und in der Realität nicht immer funktionierende Rationszuteilung vor allem Arbeiter der Schwerindustrie privilegierte, litten vor allem Kinder, Alte und Bedürftige sowie die ins Hinterland evakuierte Bevölkerung, welche ohne Arbeit gar nicht an Lebensmittelkarten herankam, besonders unter dem Hunger. Stark betroffen waren aber auch Männer im arbeitsfähigen Alter, deren Kalorienverbrauch besonders hoch war. Ähnliche Zustände, Hierarchien in der Lebensmittelversorgung und Dilemmata der Staatsführung beschreibt Wendy Goldman. Zwar habe der Staat gleich zu Beginn des Krieges in allen größeren Städten ein Verteilungssystem etabliert, das die arbeitende Bevölkerung privilegierte. Bereits 1942 stellte sich aber heraus, dass die vorhandenen staatlichen Vorräte unzureichend waren. Abhilfe sollte die eigentlich mit der Ideologie nicht konforme Förderung der Selbstversorgerwirtschaft schaffen. Dezentrale Lieferungen, kollektive Anbauflächen bei den öffentlichen Küchen und private Parzellen sowie Märkte milderten die Unterversorgung und erfüllten die Erwartungen insofern, als Ende 1943 / Anfang 1944 der Lebensmittelverbrauch tatsächlich anstieg. Zwar thematisiert auch Goldman den Kampf um Lebensmittel innerhalb des privilegierten staatlichen Apparates, zugleich betont sie dessen wichtige Versorgerrolle, vor allem die Bedeutung solcher Organisationselemente wie Partei, Sowjets oder Betriebsräte, ohne die die Zivilbevölkerung dem Hungertod preisgegeben worden wäre. Beide Aufsätze unterstreichen somit sowohl die als "heroisch" zu wertende Leistung der von Hunger und Krankheiten gezeichneten Bevölkerung, die ungeachtet permanenter Unterernährung hart für die Front arbeitete, als auch die Leistungsfähigkeit des Parteistaates, der trotz seines repressiven Charakters und verbrecherischer Versäumnisse Ressourcen für die Front und für die Bevölkerung im Hinterland erfolgreich zu mobilisieren vermochte. Vladislav Šabalin argumentiert hingegen, der Staat habe gerade durch das System normierter Versorgung die Hierarchie der sowjetischen Gesellschaft mit der Nomenklatura an der Spitze verfestigt. Gestützt auf Archivmaterialien aus der heutigen Stadt Perm' (damals Molotov), wohin nach dem Ausbruch des Krieges über 100 Betriebe der Schwerindustrie evakuiert worden waren, belegt er eklatanten Machtmissbrauch und verbreitete Korruption unter der Nomenklatura, vor allem in den Randgebieten. Ihre exklusive Stellung bestätigt auch die Untersuchung von Oleg Lejbovič. Er problematisiert außerdem den weit verbreiteten und oft mit dem Antikommunismus einhergehenden Antisemitismus unter der unzufriedenen einheimischen Bevölkerung. Diesen erklärt er mit Evakuierungen, in deren Folge die Zahl verschiedener Ethnien hinter der Front gestiegen und allein der Anteil jüdischer Bevölkerung im Gebiet von Perm' um das Achtfache gewachsen war. Sergej Jarov demonstriert anhand des sogenannten "Blockade-Kochbuchs" eindrucksvoll die unfassbare Hungersnot der Leningrader im Krieg. Bereits im Oktober 1941 herrschte in der seit September belagerten Stadt Hunger: Die Brotration wurde mehrfach herabgesetzt und der Anteil beigemengter Zutaten bis auf 40% erhöht; das "Verkochen" solcher Industrierohstoffe wie Tischlerleim, Sägespäne, Schuhleder oder Kerzenwachs zum Verzehr war die Regel; bereits im November waren Hunde und Katzen fast völlig aus der Stadt verschwunden, man aß Pferdefleisch und Ratten, im Januar 1942 galt Katzenfleisch als Delikatesse. Dass sich die Versorgungslage der sowjetischen Bevölkerung unmittelbar nach dem Krieg kaum besserte und das Verteilungssystem mit der Willkürherrschaft der privilegierten Nomenklatur weiterhin Bestand hatte, dokumentiert Anna Kimerling. Ihr Augenmerk richtet sie vor allem auf die Arbeitsbedingungen in den ersten Nachkriegsjahren. Sie zeigt, dass die Arbeitsbeziehungen bis 1953 weiterhin durch das Kriegsrecht bestimmt waren, wonach Arbeitsniederlegung als Desertion gewertet, vor Kriegstribunalen angeklagt und mit Gefängnisstrafe geahndet wurde. Allein 1947/48 waren davon 32.375 Menschen im Gebiet des heutigen Perm' betroffen. Insgesamt bestimmte also der Krieg das Leben der Menschen noch bis ins Jahr 1953 und darüber hinaus.
Der Verarbeitung vom Krieg und Stalinismus in der sowjetischen Kultur widmen sich Autoren des letzten Blocks. Während Gennadij Ėstrajch und Valeri Pozner vor allem den in der offiziellen Erinnerungskultur propagierten idealen Charakter des friedliebenden Sowjetmenschen analysieren, zeigt Il'ja Kukulin, wie die tabuisierten traumatischen Ereignisse sowjetischer Vergangenheit (Antisemitismus und Pogrome) in der Poesie verarbeitet wurden. Eine besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Block der letzte, ungemein aktuelle, obgleich noch vor dem Euromajdan und dem dann ausgebrochenen Krieg geschriebene Aufsatz von Sergej Plochij. Darin problematisiert er in einer sarkastischen Schilderung der 2010/2011 ausgetragenen Kämpfe um ein mehrfach von ukrainischen Nationalisten zerstörtes und von Kommunisten wiedererrichtetes Stalin-Denkmal in Zaporož'e, in der südlichen Ukraine, den gegenwärtigen innerukrainischen Erinnerungskonflikt. Plochij attestiert der ukrainischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine Spaltung in zwei entgegengesetzte, identitätsstiftende und normativ aufgeladene Mythen: den sowjetischen, personifiziert durch Stalin, und den national-ukrainischen, personifiziert durch Stepan Bandera. In einem "Krieg der historischen Symbole" werden diese seit der Erinnerungspolitik von Viktor Juščenko (Ernennung von Bandera zum "Helden der Ukraine" und Errichtung einer Reihe neuer, ihm gewidmeten Denkmäler) vorwiegend im Süden und Osten der Ukraine hart umkämpft. Anders als in den Nachbarländern habe die historische Erinnerung in der Ukraine keine konsolidierende Funktion. Laut Plochij spaltet sie vielmehr das Land; der Krieg um die ukrainische Erinnerung sei noch nicht beendet. Der gegenwärtige Krieg in der Ostukraine mit der absurden Instrumentalisierung der Geschichte durch die Konfliktparteien liegt ganz auf der Linie dieser Beobachtung.
Die Bezeichnung "aktuell" verdient indes der gesamte Band. Denn sein Fokus liegt auf der Erforschung des in der russischen Historiografie kaum verankerten Holocaust und lenkt den Blick auf den Antisemitismus in der Sowjetunion, auf die eigenen Täter und Mitläufer, auf das Tragische und Unheroische - alles Aspekte, die keinen Platz im aktuellen Helden-Narrativ haben und allesamt höchstens als Randphänomene des Krieges in der öffentlichen Wahrnehmung auftauchen. Für einen Konferenzband liefert dieses Sammelwerk außerdem ein in sich erstaunlich geschlossenes Spektrum an Themen und komplementären Ansichten international bekannter Historiker. Lediglich der dritte Block mit dem starken kulturell-literarischen Ansatz fällt etwas aus dem Rahmen.
Das von Aleksandr Rožkov herausgegebene Buch über die kinderspezifische Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg ist das Resultat eines von einem Forscherkollektiv im Krasnodar-Gebiet durchgeführten Projekts (2008-2009), das die systematische Erfassung und Analyse von Erinnerungen der sowjetischen Kriegskinder zum Ziel hatte. Auf den ersten Blick liegt der Sammelband im Trend der gerade in Deutschland boomenden Erinnerungsliteratur der "letzten Zeugen" - jener, die in der ersten Hälfte der 1940er-Jahre meist Kinder- und Jugendliche waren -, er geht aber eine Stufe weiter, indem er den Prozess der Erinnerung der Kinder zum Analysegegenstand erhebt und ein ganzes Spektrum neuer Perspektiven auf den Krieg und das Erinnern daran entfaltet. Theoretisch stützt sich das Projekt auf das Maurice Halbwachs' Konzept des "kollektiven Gedächtnisses", das den Vorgang des individuellen Erinnerns in den sozialen und öffentlichen Bezugsrahmen einordnet und deshalb das Erinnern an sich als ein soziales Produkt betrachtet. Dementsprechend verfolgte das Forscherteam vor allem das Ziel, die Mechanismen der Transformation von Kindererinnerungen an die Kriegsjahre von 1940 an bis ins Jahr 2000 mittels neuer Fragestellungen und Methoden zu erforschen, wobei das Kindsein jene gesellschaftliche Rahmenbedingung dieser Generation bildete, die das Gedächtnis der Zeitzeugen determinierte. Die Frage, inwiefern das spezifischen Wandlungsprozessen unterliegende Gedächtnis der "Kriegskinder" als authentisch einzustufen und ohne weiteres als Quelle heranzuziehen ist, zieht sich wie ein roter Faden durch fast alle 14 Aufsätze der vornehmlich russischen Autoren (zwei Beiträge stammen von deutschen Forschern) dieses Sammelbandes. Die meisten der hier versammelten Arbeiten sind theoretisch fundiert und zeichnen sich durch innovative Forschungsansätze aus, ergeben aber auf den ersten Blick ein ziemlich heterogenes Bild, worauf sogar der Herausgeber in der Einleitung hinweist. Doch so unterschiedlich die hier versammelten Fragestellungen und Forschungsmethoden auch sind, von ihrem Ertrag und ihrer Aussage her lassen sich alle Beiträge auf zwei Nenner bringen: solche, bei denen es methodisch um die Evolution und den Gebrauch der Kindererinnerungen als Quelle geht und solche, die aus diesen primär alltagsgeschichtliche Erkenntnisse über den Vernichtungskrieg des Nazideutschlands gegen die Sowjetunion gewinnen.
Die meisten Beiträge sind der Transformationsproblematik gewidmet, sie stellen das individuelle dem kollektiven Gedächtnis Russlands kritisch gegenüber und plädieren dafür, trotz der festzustellenden Subjektivitäten bzw. Collageartigkeit der Erinnerungen, diese in Verknüpfung mit archivalischen Materialien als Quelle heranzuziehen. Dafür spreche auch das Phänomen der altersspezifischen Gedächtnisverarbeitung, wonach sich besonders die Phase des jungen Erwachsenenalters durch eine hohe Erinnerungsdichte und Emotionalität auszeichnet. Dass "Kriegskinder" sich anders erinnern, demonstrieren etwa die Untersuchung zum Kinderalltag im Altai-Gebiet von Julia Voevodina und der Aufsatz von Elena Strekalova. Beide arbeiten "besondere", kinderspezifische tragische "Erinnerungsorte" heraus: Verlust der Eltern bzw. von Verwandten, Hunger, harte Arbeit und täglicher Kampf ums Überleben. Wenngleich ihre Interviews bestätigen, dass die Erinnerung eine Verschmelzung von individuellen Erfahrungen mit dem Gedächtnis einer ganzen Gesellschaft darstellt, bleibt das Erinnern eines "Kriegskindes", vor allem wenn es um die Okkupation geht, die nie ein Teil der sowjetischen kommunikativen Erinnerung an den Krieg war, relativ authentisch und vom offiziellen Narrativ unbeeinflusst. Letzteres hingegen relativiert Irina Rebrova, die in ihrem Aufsatz von einem an der Kubaner Universität durchgeführten (allerdings wenig repräsentativen) Experiment berichtet: Anlässlich des 65. Jahrestages der Befreiung des Nordkaukasus von Nazi-Deutschland bat sie vier Personen, welche die Zeit der Okkupation in Krasnodar als Kinder erlebt hatten, vor Studenten von ihren Erlebnissen zu berichten. Die Studierenden hatten die Aufgabe, das Gehörte anschließend in journalistischen Essays zu verarbeiten. Das Vorhaben ging indes ziemlich schief, weil die Veteranen ganz zeremoniell und unpersönlich die offiziellen heroischen Erzählungen wiedergaben, welche die Studenten entsprechend schablonenhaft und im Geiste des offiziellen Diskurses reproduzierten. Nach Rebrovas Meinung demonstrierte dieser Versuch, dass das heroische, über viele Jahre kanonisierte kollektive Gedächtnis die persönlichen Erinnerungen verdrängt hat, obgleich gerade die wenigen erwähnten individuellen Momente bleibenden Eindruck auf ihre Studenten hinterlassen hätten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt in Folge einer inhaltlichen Analyse der Schulbücher für die Erstklässler seit den 1960er-Jahren Vitalij Bezrogov. Er stellt eine durchgehende Militarisierung bei den Abbildungen fest und wirft die Frage auf, inwiefern solche offiziell-kollektiven Elemente in den Lehrinhalten die Persönlichkeit eines Kindes und seine Wahrnehmung von der Geschichte prägen. Einen anderen kritischen Aspekt der Erinnerung von "Kriegskindern", und zwar die Gefahr ihrer Instrumentalisierung für eine bestimmte Geschichtsinterpretation, demonstriert Aleksej Golubev. Er problematisiert das vom "Karelischen Verein der ehemaligen minderjährigen Gefangenen faschistischer Konzentrationslager" beanspruchte Wahrheitsmonopol bezüglich der finnischen Besatzung Kareliens und wirft den Protagonisten Resistenz gegenüber Forschungserkenntnissen sowie einen Exklusivitätsanspruch für die eigenen Erinnerungen vor, um so ein ziemlich undifferenziertes Narrativ einer bestialischen, faschistischen Besatzung Kareliens zu festigen.
Eine andere, wenn auch kleinere Gruppe der hier versammelten Aufsätze hat weniger die Methode der Oral History als vielmehr das konkrete Wissen über das alltägliche und unheroische Überleben der Kinder während des Vernichtungskrieges im Fokus - ein Thema, zu dem flächendeckende Forschungen noch ausstehen. Hervorzuheben sind hier vor allem die Beiträge von Nina Petrova und Marina Potemkina. Einen ganzen Komplex bis dato kaum systematisch erforschter Fragen spricht - allerdings allzu pathetisch - die Historikerin Petrova an. Solange die Autorin die rein innersowjetischen Aspekte des Krieges behandelt, ergibt sich ein schlüssiges Bild, etwa wenn sie, gestützt auf Archivdokumente, über die Evakuierung und den schwierigen Alltag der Kinderheime nach dem Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion schreibt. In der Zeit zwischen Juni 1941 und dem Jahr 1942 wurden insgesamt 976 Kinderheime mit 107.223 Kindern aus den westlichen Gebieten der UdSSR (Ukraine und Belarus) ins Hinterland, hauptsächlich in die zentralasiatischen Republiken evakuiert (212). Unter welch erbärmlichen Umständen diese und andere Waisen leben, Gewalt, Ignoranz und Missbrauch seitens der Erwachsenen erleiden mussten, deuten die hier dokumentierten Materialien nur an. Allein im Jahr 1942 waren 19.000 Fluchten aus den Kinderheimen zu verzeichnen; parallel dazu stieg die Zahl der von Minderjährigen verübten kriminellen Taten enorm an. Viele der evakuierten und verwaisten Kinder wurden adoptiert oder von fremden Familien betreut. Doch nicht immer sind die zitierten Zahlen plausibel und manch verallgemeinernde, undifferenzierte Aussage gerade zu den am wenigsten erforschten deutsch-sowjetischen Fragekomplexen bleibt einfach so im Raum stehen. Ein Beispiel ist die Behauptung der Autorin, deutsche Soldaten hätten Angaben des deutschen Militärs zufolge in der besetzten Sowjetunion zirka drei Millionen Kinder gezeugt (224). Abgesehen davon, dass diese hohe Zahl hier ohne jegliche Quelle genannt wird, lässt sich die Frage, wie viele "Besatzungskinder" in der Sowjetunion geboren sind, seriös überhaupt nicht mehr beantworten. Dass die ursprünglich in der deutschen Militärverwaltung tatsächlich geäußerten Schätzungen von 1,5 Millionen Kindern pro Jahr nichts als übersteigerte Fantasien waren, ist vor allem dank der Untersuchungen von Christian Gerlach und zuletzt Regina Mühlhäuser [4] inzwischen bekannt. Der ebenso unbelegten Bezifferung von Kindern deutscher Soldaten im westlichen Europa mit weniger als 200.000 wird im Übrigen im gleichen Band in dem Aufsatz von Silke Satjukow widersprochen: Sie schätzt diese Zahl auf eine bis zwei Millionen (337). [5] Quellenbasiert argumentierend und erkenntnisreich ist der Aufsatz von Potemkina über die Erinnerung von Kindern an die Massenevakuierung, welche im individuellen Gedächtnis der Zeugen einen bedeutenden Platz einnimmt. Die auch von Potemkina festgemachte Selektivität der Erinnerung der Kriegskindergeneration wird hier beispielhaft mit archivalischer Dokumentation kompensiert. So entsteht ein plastisches Bild vom tragischen Schicksal der vielen zum Teil ohne ihre Eltern evakuierten bzw. reevakuierten Kinder in der UdSSR. Der Beschluss über die Massenevakuierung von Teilen der Bevölkerung aus den westlichen Gebieten der Sowjetunion war gleich in den ersten Tagen des Krieges gefasst worden, hatte aber vor allem die Evakuierung von Betrieben sowie Angehörigen der Nomenklatura zum Ziel. Die Rettung von Kinderleben war darin nicht vorgesehen. In der Realität machten jedoch Kinder bis 14 Jahren mehr als 35% der Evakuierten aus - so jedenfalls Potemkinas Berechnung auf der Grundlage der Archivdaten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass dieser Sammelband sowohl hinsichtlich der methodischen Diversität der Autoren, des Umfangs der von ihnen ausgewerteten Zeitzeugen-Materialien als auch im Hinblick auf die eröffneten Perspektiven beeindruckend ist. Die hier versammelten Aufsätze ergeben einen eindeutigen Gesamtbefund: Trotz vieler Widersprüchlichkeiten der privaten Erinnerung der Kriegskindergeneration ist ihr Gedächtnis als Quelle, sofern man diese den archivalischen Überlieferungen kritisch gegenüberstellt, gehaltvoll und wichtig. Das autobiografische Gedächtnis der Kinder hat mehr Kapazitäten als das eines Erwachsenen und kann gerade zu den wenig erforschten alltäglichen Aspekten des Krieges abgerufen werden, die im kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion noch keinen Platz hatten und folglich weniger tradiert worden sind.
Im Hinblick auf die hier besprochenen Bücher ist abschließend festzuhalten, dass die historische Forschungslandschaft in Russland weit differenzierter ist, als es das durch die Medien vermittelte Bild des einen simplifiziert glatten Sieger-Narrativs suggeriert. Vor allem junge Historiker abseits der Metropole Moskau zeigen Interesse für die Erschließung des wenig erforschten Alltags der "Kriegsgesellschaft" mit originellen Fragestellungen und Methoden. Ein fruchtbarer Zugang zur Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges ergibt sich schließlich dort, wo dem Anspruch der Transnationalität genügt wird und die keineswegs selbstverständliche Synthesen internationaler Forschung gelingt. Zu hoffen bleibt, dass die gegenwärtige geradezu absurde Züge annehmende Instrumentalisierung des Kriegsgedenkens durch die staatliche Geschichtspolitik diesen Trend nicht aufhalten oder gar umkehren wird.
Anmerkungen:
[1] So das inzwischen offizielle Postulat für den Umgang mit der Weltkriegsgeschichte, dessen bekanntester Verfechter der Minister für Kultur, Vladimir Medinskij, ist. Siehe z.B. das Interview, in dem er sein Verständnis der Geschichte als ein Propagandainstrument verteidigt: http://www.echo.msk.ru/programs/razbor_poleta/964030-echo/#element-text.
[2] Fast identisch bzw. mit teilweise identischen Abschnitten: Oleg Roman'ko: Legion pod znakom pogoni: Belorusskie kollaboracionistskie formirovanija v silovych strukturach nacistskoj Germanii (1941-1945), Simferopol' 2008; Ders.: Koričnevye teni v Poles'e. Belorussija 1941-1945, Moskva 2008.
[3] Zuletzt erschienen: Leonid Rein: The Kings and the Pawns. Collaboration in Byelorussia during World War II, New York / Oxford 2011; Babette Quinkert: Terror und Propaganda in Weißrussland. Die deutsche "geistige" Kriegsführung gegen Zivilbevölkerung und Partisanen, Paderborn 2009.
[4] Christian Gerlach: Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941-1944, Hamburg 1999; Regina Mühlhäuser: Eroberungen. Sexuelle Gewalttaten und intime Beziehungen deutscher Soldaten in der Sowjetunion, 1941-1945, Hamburg 2010.
[5] Vgl. den zuletzt erschienenen kurzen Überblick zu "Besatzungskindern" von Elke Kleinau / Ingvill C. Mochmann: Wehrmachts- und Besatzungskinder: Zwischen Stigmatisierung und Integration, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 65 (2015), H. 16-17, 34-40.
Yuliya von Saal