Iryna Kashtalian: The Repressive Factors of the USSR's Internal Policy and Everyday Life of the Belarusian Society (1944-1953) (= Historische Belarus-Studien; Bd. 5), Wiesbaden: Harrassowitz 2016, IX + 346 S., ISBN 978-3-447-10564-4, EUR 58,00
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Als "Unbekannte Mitte Europas" wird Belarus auf der westlichen mentalen Karte verortet, als "ein weißer Fleck in Europa" [1] gilt es immer noch in der Geschichtswissenschaft. Auch Iryna Kashtalians Studie über den spätstalinistischen Alltag der belarussischen Nachkriegsgesellschaft aus Sicht der kleinen Leute, die in der Reihe "Historische Belarus-Studien" im Harrassowitz Verlag auf Englisch erschienen ist, zeugt von der stiefmütterlichen Behandlung dieser Region durch die Osteuropahistoriker, denn sie stammt aus der Feder einer weißrussischen Forscherin. Sie unternimmt den lohnenswerten Versuch, den Blick vom Zentrum in die Peripherie und auf den Alltag des "kleinen Mannes" zu richten. Diese erste systematische und detailreiche Auseinandersetzung mit dem Alltag der einfachen Belarussen in den ersten Nachkriegsjahren zeigt, dass die Vorstellung einer einheitlichen, stramm organisierten Sowjetgesellschaft in dieser weitgehend russifizierten Region des sowjetischen Imperiums keineswegs zutrifft.
Damit steht diese Studie in der Tradition der amerikanischen Sozialhistorikerin Sheila Fitzpatrick [2], auch wenn die Autorin das so explizit nicht sagt. Lediglich in der Definition der Alltagsgeschichte knüpft Kashtalian an Fitzpatrick an, indem sie "the day-to-day routine" als "daily interactions, which include to a greater or lesser degree the involvement of the state" definiert (6) und als ihren Untersuchungsgegenstand die alltäglichen Besonderheiten und Strategien der Bevölkerung unter Einfluss der repressiven Faktoren benennt. Dass der Alltag vom repressiven Regime bis ins kleinste hinein durchherrscht war, es zugleich aber ein breites Spektrum abweichenden Verhaltens gab, ohne dass dies in eine strukturierte Opposition mündete, ist die zentrale Aussage des dicht geschriebenen Buches. Es ist in drei Teile gegliedert, denen eine ausführliche Einleitung vorangestellt ist. Eine Einordnung in den aktuellen internationalen Forschungsstand, ausführliche Erörterungen der Untersuchungsmethode und der mündlichen Quellen geben dabei einen sehr überzeugenden Einstieg in das Thema. Einen beeindruckenden Teil der mündlichen Zeugnisse (von 46 Personen) hat die Autorin selbst über längere Zeit in Belarus erhoben. Der eigentliche Kern der Studie ist dann in drei Kapiteln gebündelt, die sich weiter untergliedern, inhaltlich miteinander korrespondieren und jeweils mit einer Zusammenfassung abschließen.
Das erste und zugleich umfangreichste Kapitel, "Repressive Measures and Everyday Life of Different Segments of Belarusian Society", geht vor allem den Spezifika der belarussischen Nachkriegsgesellschaft nach, wobei hier zwischen einer Neuorganisation der "alten" sozialen Klassen in die "Arbeiter", "Genossenschaftsbauer" und "Intelligenz" auf der einen und einer kriegsbedingten Ausdifferenzierung in "Veteranen", "Verräter" und "Westler" auf der anderen Seite unterschieden wird. Eine solche Differenzierung weist auf die grundlegenden strukturellen Probleme Weißrusslands nach dem Krieg hin. Das stark agrarisch geprägte Land hatte im Zweiten Weltkrieg Krieg große Zerstörungen erlitten. Der größte Teil der Bevölkerung lebte immer noch auf dem Land. Zugleich erfuhr es in der Nachkriegszeit eine enorme Industrialisierung mit der Folge, dass der Bedarf an Arbeitskräften in die Höhe schnellte und die Urbanisierung enorm voranschritt, was sich wiederum in Migration vom Land in die Stadt, in der erhöhten Nachfrage nach Lehrkräften, aber damit auch negativ auf die Agrarwirtschaft auswirkte. Mangel an Arbeitskräften herrschte praktisch überall. Das Regime suchte ihn mit repressiven Bestimmungen, teilweise noch aus der Vor- bzw. Kriegszeit, zu beheben. Dabei war die Bindung der Bauern an die Genossenschaften und das Leben auf dem Dorf wegen schlechter bis gar keiner Bezahlung, der Pflicht zur Quotenerfüllung und der hohen Besteuerung im Vergleich zum Stadtleben für viele Belarussen trotz massiver Propaganda wenig erstrebenswert. Entgegen der sowjetischen Geschichtserzählung wurde die Kollektivierung mit vorwiegend repressiven Praktiken und in den westlichen, ehemals polnischen Gebieten zusätzlich mit niedrigeren Steuerabgaben gegenüber den privaten Haushalten durchgesetzt.
Offenen Repressionen waren Vertreter der Intelligenz, die Überlebenden der deutschen Besatzung, die oft ohne Grund als "Verräter" galten, und jene "Westler" ausgesetzt, die den nationalen Widerstand unterstützen. Zum Ende der Stalin-Zeit hat sich die Verfolgung der ins deutsche Reich verschleppten Ostarbeiter und anderer Überlebenden der Nazi-Herrschaft, die nun unter Verdacht der "Kollaboration" standen, sogar noch verschärft, wobei auf dem Höhepunkt des neuen Antisemitismus vor allem jüdische Überlebende davon betroffen waren. Die Zugehörigkeit zu den Partisanen während des Krieges konnte hingegen eine Rettung für die ganze Familie bedeuten und wichtige Vorteile im Alltag, etwa bei der Vergabe des knappen Wohnplatzes bringen. Die repressive Politik war indes oft subtiler Natur: die Betroffenen mussten zum Beispiel jahrelang auf eine Registrierung am Wohnort warten oder ihnen blieb der Weg zur Bildung versperrt. Auswanderung, Schweigen oder Anpassung waren deshalb oft die einzigen Handlungsoptionen.
Im zweiten Kapitel, "BSSR Day-to-Day Routine under Government Control", werden die alltäglichen Mechanismen der Sowjetisierung und der Einschüchterungen selbst im Privaten, etwa bei der Familienplanung, der Wohnplatzvergabe oder bei der unverhältnismäßigen Kriminalisierung von Schwarzbrennerei beschrieben. Familienkonsolidierung war zwar ein wichtiges Anliegen des Regimes, doch wurde es durch das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen bis ins Jahr 1955 hinein, durch die mangelhafte Regelung von Alimentenzahlungen, durch die Junggesellensteuer und die stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit in hohem Maße aufoktroyiert. Die Flucht in die Stadt blieb für viele die Möglichkeit, den Zwängen, den Strafen, den Pflichten oder den unbequemen Lücken in der eigenen Biographie zu entkommen und sich zu verstecken. Dass die belarussische Nachkriegsgesellschaft durch eine starke Migration gekennzeichnet war, die für viele einfach nur eine Überlebensstrategie darstellte, wird mit zahlreichen Einzelschicksalen veranschaulicht. Die größere grenzüberschreitende Migration, vor allem aus den westlichen Gebieten nach Polen, war auch ein Ausdruck des Widerstands und erfasste nicht nur die polnische Bevölkerung; sie war jedoch nur unmittelbar nach dem Krieg möglich.
Bei der Mehrzahl vor allem der im Osten lebenden Belarussen überwog die Passivität bzw. die Anpassung an den neuen sowjetischen Alltag, was eingehend im dritten Kapitel, "Strategies of Ordinary People in the Face of Repressive Policies of the Soviet State in the First Postwar Decade", behandelt wird. Weniger bekannt ist heute der aktive Widerstand der nationalen Gruppen in den westlichen Gebieten der UdSSR bis ins Jahr 1948 hinein, wobei die Anhänger der polnischen "Armia Krajowa" die größte jener organisierten Gruppen war, die den Staat mit bewaffneten Angriffen auf deren Vertreter, mit Einschüchterungsversuchen und der Unterwanderung von Institutionen herausforderten und mit besonderer Härte von NKWD verfolgt wurden. Mit größerer Gewalt agierten Vertreter des ukrainischen Untergrunds (Formationen der OUN und UPA) im Süden des Landes, denen allein in den ersten zwei Nachkriegsjahren (1944-1946) 1.012 Menschen zu Opfer fielen (279). Erst 1952 wurde die letzte Gruppe in der Region von Brest liquidiert. Neben dem polnischen und ukrainischen Widerstand waren in den westlichen Gebieten auch die belarussische und die litauische Nationalbewegung aktiv. Der belarussische Untergrund bestand aus den ehemaligen Vertretern der nationalsozialistischen Zivilverwaltung und der bewaffneten Gruppierungen sowie jungen Studenten, die zahlenmäßig zwar relativ klein und wenig organisiert waren, ihre antisowjetischen Aktivitäten jedoch teilweise in individueller Form und mit Unterstützung von amerikanischen und britischen Geheimdiensten bis Ende der 1950er Jahre fortführten. Bezeichnend für den belarussischen Untergrund war jedoch sein mangelndes nationales Bewusstsein: viele Mitglieder wurden schlicht aus sozialem Protest gegen die sowjetische Regierung aktiv.
Für einen Osteuropahistoriker präsentiert das Buch in der Gesamtheit keine neuen Erkenntnisse über das sowjetische Regime der Nachkriegszeit, es bündelt aber zahlreiche nationale und internationale Forschungsergebnisse, schärft das Bewusstsein für die regionalen Besonderheiten in der Sowjetunion und die Vielschichtigkeit sowie den Grad der Durchsetzung der staatlichen Gewalt mittels repressiver Praktiken. Neu ist indes die methodische Gegenüberstellung von Instrumenten der staatlichen Gewalt den Erfahrungen und Erinnerungen der Befragten Jahrzehnte später. Die dabei gewonnen Erkenntnisse lassen sich nicht in Archiven finden und umfassen vor allem folgende Aspekte:
Erstens konnte die Autorin an diversen Stellen des Buches die Bedeutung des "menschlichen Faktors" herausarbeiten, was ein Beleg dafür ist, dass die alltägliche regionale Umsetzung von den zentralen Vorgaben und den nach oben geschriebenen Rapports auch im Spätstalinismus abweichen konnte. Das abweichende Verhalten kam vor allem in den wenig urbanen Gebieten und damit in den traditionellen Gesellschaftsschichten zur Geltung. So waren es oft die einzelnen Parteikader oder Vorsitzende von Kolchosen, welche die repressiven Bestimmungen aus verschiedenen Gründen - pragmatischen, eigennützigen oder persönlichen - nicht so ernst nahmen und ganz willkürlich umsetzten. Der permanente Mangel an Arbeitskräften hatte zum Beispiel zur Folge, dass viele Fälle der Arbeitsverweigerung nicht an die Gerichte übergeben wurden; die Schwarzbrennerei wurde oft toleriert, sofern man selbst davon profitierte, und bei den verbotenen Schwangerschaftsabbrüchen wurde ein Auge zugedrückt, da davon auch dem Herrschaftsapparat Angehörende jederzeit betroffen sein konnten. Der "menschliche Faktor" schuf zugleich Räume für den Machtmissbrauch und deren exzessive Ausnutzung zum Eigennutz durch die lokalen KPB-Kader.
Zweitens konnte die Autorin die interessante Beobachtung machen, dass ein Teil der Bevölkerung wegen der geringen Bildung und eingeschränkten Informationsquellen von den geltenden repressiven Bestimmungen und Bestrafungen gar keine Kenntnis besaßen und den Staat daher weder damals noch Jahrzehnte später als repressiv empfanden. Verstärkt wurde das durch die Subtilität mancher repressiver Praktiken. In gewissem Widerspruch zu dieser Erklärung steht allerdings die in den Gesprächen mit den Befragten erkennbare Angst, etwas "Falsches" zu sagen. Das betrifft vor allem den Aspekt des nationalen Widerstands, dessen Thematisierung in der Sowjetunion absolut verboten war. Folglich wurden von den Interviewten die Vertreter nationaler Bewegungen als "Banditen" beschrieben. Interessant ist in dem Zusammenhang auch der Faktor "Geschlecht": Kashtalian bezeichnet Frauen als unabhängigere und in ihren Erzählungen von den sowjetischen Stereotypen freiere Respondentinnen. Auf Grund ihrer schwierigen Lage nach dem Krieg hätten sie auch im sowjetischen Alltag mit mehr Nachsehen im Falle einer gesetzeswidrigen bzw. antisowjetischen Handlung rechnen können - eine Beobachtung, die von der Genderforschung auch in den anderen Gesellschaften und historischen Konstellationen beschrieben worden ist. [3]
Neben den genannten Erkenntnissen verrät die Geschichte des Buches selbst einiges über die "unbekannte Mitte Europas". Iryna Kashtalian hat die Arbeit an diesem Forschungsprojekt im Jahr 2002 begonnen und vier Jahre später an der Belarussischen Staatlichen Universität verteidigt. Ihren akademischen Grad konnte sie indes nicht erhalten: Die zentrale staatliche Prüfungskommission hat ihr "Verleumdung" der sowjetischen Vergangenheit vorgeworfen und vorgeschlagen, die Arbeit umzuschreiben. Glücklicherweise entschied sie sich dagegen und setzte das Projekt in Deutschland fort. Das Ergebnis liegt deshalb vorerst nur auf Englisch vor. Es ist ein Gewinn für die westliche Forschung, kann zu der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit im heutigen Belarus jedoch nur bedingt beitragen. Denn dort wirken die im Buch thematisierte repressive Sowjetisierung und auch manche Mechanismen der gesellschaftlichen Kontrolle - zwar in gemäßigter Form, jedoch weiterhin ungebrochen - vor allem im "Alltag der Geschichtswissenschaft" fort.
Anmerkungen:
[1] Thomas M. Bohn / Victor Shadurski (Hgg.): Ein weißer Fleck in Europa... Die Imagination der Belarus als Kontaktzone zwischen Ost und West, Bielefeld 2011.
[2] Sheila Fitzpatrick: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, Oxford 2000.
[3] Die ungarische Wissenschaftlerin Andrea Pető hat zum Beispiel festgestellt, dass die im profaschistischen Horthy-Ungarn politisch aktiven Frauen, die nach dem Krieg vor dem Volkstribunal angeklagt wurden, generell auf Grund ihres Geschlechts, das als Teil der Verteidigungsstrategie bewusst eingesetzt wurde, zu einfachen apolitischen Kriminellen in der Opferrolle stilisiert und milder bestraft wurden. Andrea Pető: Women as Victims and Perpetrators in World War II: The Case of Hungary, in: Women and Men at War. A Gender Perspective on World War II and its Aftermath in Central and Eastern Europe (= Einzelveröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Warschau, Bd. 28), hg. von Maren Röger / Ruth Leiserowitz, Osnabrück 2012, 81-93.
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