Eric Piltz / Gerd Schwerhoff (Hgg.): Gottlosigkeit und Eigensinn. Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter (= Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 51), Berlin: Duncker & Humblot 2015, 530 S., ISBN 978-3-428-14481-5, EUR 69,90
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Neuere und vornehmlich geschichtswissenschaftliche Forschungsansätze zur frühneuzeitlichen Christentumsgeschichte suchen bekanntlich kaum noch die - idealiter freilich kritische - Beschäftigung mit den großen historiografischen und systematischen Erschließungs- und Einordnungsversuchen des theologischen Historismus' und seines Umfelds. Das belegt nun auf eigene Weise auch der hier anzuzeigende Tagungsband, der im Kontext des Dresdner Sonderforschungsbereichs "Transzendenz und Gemeinsinn" anzusiedeln ist. Der im Folgenden lediglich kursorisch vorgestellte Band versammelt 18 Studien, die sich in weiter thematisch-inhaltlicher Streuung mit dem Phänomen religiöser Devianz im 16. und 17. Jahrhundert befassen. Beigegeben sind den einzelnen Beiträgen zwar Bibliografien; auf ein Register oder ein Autorenverzeichnis muss der interessierte Leser jedoch leider verzichten.
Den Anfang machen "Einleitende Überlegungen", die durch zwei Studien konstituiert werden. Die erste stammt von den beiden Herausgebern des Bandes und widmet sich der Vermessung und Profilierung des Forschungsfeldes "Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter" (9-50). In bemerkenswert unverstellter Oberflächlichkeit wird der Versuch unternommen, das Defizitäre der historisch-theologischen oder auch religionswissenschaftlichen Forschung - eine Differenzierung sucht man vergeblich - herauszustreichen (12f.). Schließlich gehe es ja darum, "die gesamte frühneuzeitliche Lebenswelt [...] miteinzubeziehen und damit den so lange gehüteten und gepflegten Schrebergarten der Religion zu verlassen" (18). Denn in der Ernstnahme des Alltagsgeschehens, "ohne die Kraft des Normativen auszublenden", scheine doch ein vielversprechender Ansatz zu liegen, "den Weg von der engeren Kirchengeschichte zu einer Religionsgeschichte (auch des Konfessionellen) fortzusetzen" (ebd.). Konkret streben die Herausgeber an, "eine integrale Betrachtung der Religion in ihrer soziokulturellen Umwelt zu erreichen und so die immer noch latent oder offen vorhandene Isolation des Religiösen zu durchbrechen" (40). Entsprechend neugierig tritt man nun der Untersuchung religiöser Devianzphänomene entgegen, obgleich im Rahmen der weiteren Profilierung des Unterfangens auch die mangelnde Berücksichtigung der mittelalterlichen (Kirchen-)Rechtsgeschichte sowie die Vernachlässigung religiöser Begründungsstrategien beim Postulat säkularer Normengefüge und -instanzen aufmerken lassen (25f., 32-38).
Der zweite einleitende Beitrag kompensiert die erste der soeben genannten Schwächen mustergültig: Harald Maihold untersucht "Legitimation und Grenzen der Gottesstrafe in der theokratischen Strafrechtslehre des 16. und 17. Jahrhunderts" (51-81). In gleichermaßen großen wie überzeugenden Linien verfolgt er die Entwicklung der mittelalterlichen Synergie von Theologie und Kanonistik im Zuge der Herausbildung des Kirchenrechts, streift dabei wirkmächtige Denksysteme und lässt immer wieder auch begriffs- und institutionsgeschichtliche Überlegungen einfließen, die ihn gekonnt den Bogen bis ins 16. Jahrhundert schlagen lassen (52-67). Dort angekommen, nimmt er straftheoretische Ansätze bei den Reformatoren in den Blick und weist anschließend die Strafrechtslehre Benedikt Carpzovs d.J. als den Punkt aus, an dem sich mittelalterliche theologische und kanonistische Traditionen - vermittelt durch die Spanische Spätscholastik - sowie reformatorisches Gedankengut zu einer dezidiert protestantischen Strafrechtslehre verbinden (67-74). So kann er abschließend festhalten: "Maßgebliche Impulse erfuhr das Strafrecht im kirchlichen Bereich durch Reaktionen auf religiöse Devianz", wobei er den entsprechenden Nachweis "anhand des Häresiedelikts" führt (75).
Andreas Holzem befasst sich ebenfalls mit der Konstruktion von Devianz, indem er die "Devianzproduktion in der katholischen Predigt über Martin Luther" exemplarisch nachvollzieht (83-119). Indem im Zuge antireformatorischer Predigten Luther, seine theologischen Aufbrüche und deren Anhänger mittels einschlägiger geschichtlicher und bis heute für die papstkirchliche Selbstwahrnehmung virulenter Narrative aus der romtreuen Heilsgemeinschaft exkludiert werden, gelingt nicht nur die öffentlichkeitswirksame Deskreditierung des falschgläubigen Gegenübers; auch wird "die katholische Zusammengehörigkeit gegensolidarisch zu den reformatorischen Bewegungen" markiert (89). Dabei erwiesen sich die herangezogenen Prediger als aufmerksame und taktisch durchaus geschickte Beobachter und Bekämpfer der ausgemachten Häresie (vgl. 98-100). Der erhoffte breitenwirksame Effekt blieb dieser Art von Devianzproduktion freilich nicht versagt, denn die so konstruierte "Unterscheidbarkeit des Katholischen vom Evangelischen war nicht nur eine Angelegenheit theologischer Intellektualität. Sie führte darüber hinaus eine emotionale Wucht mit sich, die durch solche Kanonaden der Beleidigung und Herabwürdigung nicht nur ihren Ausdruck fand, sondern auch permanent neu angefacht wurde" (102).
Überzeugend sind auch die ideen- und rechtsgeschichtlichen Ausführungen Johannes Dillingers und Alexander Kästners. Erstgenannte sind mit "Attentate und Aufstände. Zur religiösen Bedeutung politischer Kriminalität in der Frühen Neuzeit" überschrieben (237-258). Gegenstand sind konkret "religiöse Bedingungen und Aspekte politischer Kriminalität sowie ihre theologische Deutung" (237). Nach klugen Überlegungen zur Ambivalenz theologischer bzw. theologisch fundierter Herrschaftskonzepte, die zwar zur Sakralisierung der weltlichen Obrigkeit, aber eben auch ihrer Gegner führen konnten (238-241), stellt Dillinger das Vorhandensein und die eventuelle Dominanz religiöser Motive aufseiten der Attentäter heraus (241-249), bevor er auf die religiöse Grundierung auch des Aufstands "als offensichtlichste[r] Form politischer Kriminalität" neben dem Mordanschlag eingeht (249-252; Zitat 249). So steht am Ende die Einsicht, dass religiöse Devianz bei bestimmten Begründungsstrategien kriminellen Verhaltens schlicht im Auge des Betrachters liegt, weil und sofern je nach Standpunkt Täter- und Opferzuschreibung wechseln.
Auf diesen Befund hin lässt sich auch die anregende Studie von Kästner lesen, die die "Konstruktion des Verbrechens 'Selbstmord' in juristischen und theologischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts" untersucht (279-309). Durch Bündelung begriffs-, rechts- und theologiegeschichtlicher Beobachtungen wird gezeigt, dass die Annahme religiöser Devianz des Selbstmörders zu Lebzeiten nur so lange zur Flankierung der Kriminalisierung desselben dienen konnte, wie dieser nicht zum tragischen Opfer bestimmter Umstände oder gar Mächte erklärt wurde; es stellte sich im Rahmen der rechtlichen sowie der theologischen Beurteilung folglich die Frage nach Tatvorsatz und Schuldfähigkeit, die allerdings überhaupt erst einmal nachweisbar gemacht und entsprechend nachgewiesen werden mussten (292-302). Jene beurteilungsrelevante Differenzierung stellte dann zwar einerseits die grundsätzliche Sündhaftigkeit der Selbsttötungshandlung infrage. Andererseits untermauerte sie jedoch die Annahme, "ein vorsätzlicher 'Selbstmord' sei der finale Schlussakt eines sozial wie religiös devianten Lebens" (303).
Daniel Eißner beleuchtet dann "Fromme Devianz. Pietistische Handwerker als religiöse Übererfüller" (333-351). Ausgehend von der historischen Tatsache, dass deviantes Verhalten nicht nur in der Unter-, sondern eben auch in der Überbietung eines wie auch immer überhaupt zu bestimmenden (333f.!) Normalmaßes religiöser Betätigung bzw. Frömmigkeit besteht, zeichnet er - sehr stark vereinfachend - die Entwicklung und die Eigenart des sogenannten Pietismus nach (336-341), um anschließend das ordnungspolitische Problem mit jenen Übererfüllern zu skizzieren. Sich selbst und die eigene Frömmigkeitspraxis zum gottgewollten Normalmaß erklärend, kritisieren sie alle davon Abweichenden und greifen mit missionarischem Eifer in die vorherrschenden Gemeinde- und damit Sozialstrukturen ein; umgekehrt betrachten die so Kritisierten ihren religiösen Lebensvollzug als hinreichend und normal und bezichtigen wiederum die als übergriffig empfundenen Pietisten als Abweichler und damit als Störenfriede gottgesetzter Ordnung (341-348). So stellt auch diese Diskurskonstellation eindrücklich vor Augen, dass und wie der Devianzvorwurf letztlich eine Frage der jeweiligen Perspektive ist und bleibt, dass und wie er also von jeder Konfliktpartei gegen die je andere erhoben werden kann und wird.
Bereits die vorgestellten und je für sich hochgradig erhellenden Beiträge belegen somit klar die Vorzüge interdisziplinär angelegter Forschungsansätze wie der Untersuchung religiöser Devianzphänomene. Erst durch das In- und Miteinander beispielsweise theologie-, kirchen-, rechts- und begriffsgeschichtlicher Ansätze lässt sich die frühneuzeitliche Religionsgeschichte historiografisch und systematisch adäquat erfassen. Wie wenig originell diese Einsicht allerdings ist, belegt ein Blick nicht nur, aber auch in die großen Erschließungsversuche etwa Albrecht und Otto Ritschls, Heinrich Heppes, Ernst Troeltschs, Karl Holls, Hans Leubes oder Emanuel Hirschs. Deren Werke zum 16. und 17. Jahrhundert verdeutlichen u.a., wie eng der Vorwurf der Abweichung mit dem je in Anschlag gebrachten Wahrheitsbegriff und den dahinter obwaltenden Wahrnehmungsmustern zusammenhängt - eine hier schon im Ansatz viel zu wenig beachtete Tatsache, die doch die Frage aufwirft, ob die Betrachtung von Devianzkonstruktionen tatsächlich ein lohnender Ausgangspunkt ist, weiterführende oder wenigstens neue Perspektiven auf die frühneuzeitliche Christentumsgeschichte zu gewinnen. Diskursanalytisch und ideengeschichtlich aufschlussreich sind derartige Konstruktionen und ihre Produktionsweisen jedenfalls allemal.
Christian Volkmar Witt