Günther Rüther: Die Unmächtigen. Schriftsteller und Intellektuelle seit 1945, Göttingen: Wallstein 2016, 350 S., ISBN 978-3-8353-1838-0, EUR 24,90
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Folgt man Günther Rüther, Politikwissenschaftler an der Universität Bonn, ist das symptomatisch. Denn sowohl in der alten Bundesrepublik als auch in der DDR war das Verhältnis von Literatur und Politik kontroverser und kämpferischer als im wiedervereinigten Deutschland. Einst forderten die Schriftsteller die Politiker regelmäßig heraus und stritten um Deutungshoheiten. Zwar verfügten sie über keine institutionalisierte Macht. Insofern waren sie unmächtig. Aber ohnmächtig waren sie keineswegs, im Gegenteil. Sie prägten die politische Kultur in beiden Teilen Deutschlands. Warum sind die Literaten mit der Zeit leise und politisch zahnlos geworden?
Mit dem Fokus auf Schriftsteller als "Unmächtige" erzählt der Bonner Honorarprofessor nun die "Geschichte von Geist und Macht in beiden Teilen Deutschland vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Gegenwart" (10). Die Studie stützt sich auf publizierte Quellen und Forschungsliteratur und umfasst sechs chronologisch aufgebaute Kapitel. Diese beginnen mit der Besatzungszeit und arbeiten sich dann in Dekadenschritten von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre vor, bevor die Phase von der Wende bis in die Gegenwart behandelt wird. Stets ausgehend von allgemeinen politischen Entwicklungen beleuchtet Rüther die in Ost und West sehr unterschiedliche Situation der Schriftsteller, die Formen und Folgen ihrer politischen Interventionen, welche sich mal in literarischen Texten äußerten, mal in den auf Schriftstellerkongressen geführten Debatten und mal in Pamphleten oder Protestnoten. Flüssig skizziert er etwa die Beteiligung von Literaten an der außerparlamentarischen Kampagne "Kampf-dem-Atomtod" oder die satirische Darstellung Helmut Kohls als Birne, den Rückzug Bertolt Brechts nach Buckow und die aus politischer Überzeugung regimetreue Literatur von Hermann Kant, aber auch die Etablierung einer dissidentischen Kultur in Berlin Prenzlauer Berg.
An der Schnittstelle von Literaturgeschichte, Geschichts- und Politikwissenschaft stößt die Monografie damit in eine beklagenswerte Leerstelle vor. Denn Rüther behandelt deutsch-deutsche Geschichte integral, wie es oft gefordert, aber noch nicht oft genug umgesetzt wird [1], und er verbindet die aktuell im Zentrum der zeithistorischen Aufmerksamkeit stehenden Jahre "nach dem Boom" [2] mit der unmittelbaren Nachkriegszeit. Zumindest für diesen Zeitraum insgesamt ist die Geschichte von Schriftstellern bislang nicht systematisch auf die Geschichte der Öffentlichkeit, der Intellektuellen und der politischen Kultur bezogen worden. [3] Trotz der insofern überzeugenden Anlage ist die Monografie aber letztlich enttäuschend. Warum?
Zunächst stört die Unterreflexion zentraler Kategorien. Der Titel spricht von Schriftstellern und Intellektuellen, im Text selbst geht es dann vor allem um Schriftsteller als Intellektuelle, wobei dieser Begriff nicht präzisiert wird und wahlweise auch nichtliterarisch Tätige aufgenommen werden. [4] Das gilt selbst für jene Atomwissenschaftler, die sich an der Kampf-dem-Atomtod-Kampagne beteiligten, also wissenschaftliche Experten, die sich einmalig öffentlich-politisch einschalteten. Die titelgebende Personengruppe erfährt also keine analytische Einordnung, dafür aber eine eigentümliche Stilisierung: "Der Macht die Dämme der Gerechtigkeit entgegenzusetzen, Gewalt und Unterdrückung zu bekämpfen, das war und bleibt die große Herausforderung der Unmächtigen." (9)
In solchen Formulierungen deutet sich an, wie sehr der Autor selber politisch Einfluss nehmen, zum politischen Engagement motivieren möchte. Das ist prinzipiell legitim, verengt hier aber unglücklich den Blick. Rüther, 1948 geboren und mehrere Jahrzehnte für die Konrad-Adenauer-Stiftung aktiv, beschreibt beispielsweise ungewöhnlich ausführlich den Lebensweg Helmut Kohls als Leidensweg "voller bitterer menschlicher Enttäuschungen und politischer Niederlagen" (214), diskreditiert schließlich durch die "Spottkarikatur der Birne" (224), kreiert vom Satiremagazin Titanic. Hier ist die Intervention der Geistvollen vom Autor einmal nicht erwünscht, für die er sich auch kaum interessiert. Das Wirken der hinter der Titanic stehenden Neuen Frankfurter Schule wird nicht vertieft, ein Autor wie Robert Gernhard kommt gar nicht vor.
Auch sonst fallen die eigentümlichen Leerstellen auf, die diese Geschichte der "Unmächtigen" lässt. Die Jahre von der Wende bis zur Gegenwart werden letztlich nur knapp abgehandelt. Das "beredte Schweigen" (276) der Literaten dieser Zeit führt Rüther auf das Scheitern des Kommunismus ebenso wie die Postmoderne zurück. Ad hoc fallen einem sofort Gegenbeispiele ein, Autoren wie Rainald Goetz, Christian Kracht oder Christoph Schlingensief, postmodern inspiriert, politisch und durchaus in der Lage, die öffentliche Aufmerksamkeit zu kanalisieren. Aber auch über sie geht der Autor hinweg. Nun gut, Schlingensief war kein Schriftsteller im engeren Sinne, aber Rüther bezieht die Welt des Theaters an anderen Stellen ein. Darf dann das Personal der Berliner Volksbühne fehlen? Mit zunehmender Lektüre drängt sich so der Eindruck auf, dass der Autor stark aus der Perspektive eines politisch und literarisch überaus versierten Zeitzeugen schreibt, der teilweise persönliche Prioritäten setzt.
Am geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand schreibt er jedenfalls weitgehend vorbei, aus der Literatur, die nach Hans-Peter Schwarz' Grundlagenwerken erschienen ist, wird auffällig wenig zitiert. Dabei hätte die jüngere Forschung durchaus helfen können, das Verhältnis von Literatur und Politik präziser auszuleuchten. Für die alte Bundesrepublik ist etwa gezeigt worden, wie sehr in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren das "Kritische" als regelrechte Modeerscheinung das literarische und journalistische Feld, aber auch die Alltagskultur insgesamt prägte; Tendenzen, die dann aber zu Übertreibungen, Sättigungsphänomenen und Gegenläufigkeiten führten. [5] Zumindest die von Rüther behandelten westdeutschen Schriftsteller ließen sich hier einordnen, aber dem Autor entgeht die schon gelegte Spur. Auch Literatur zur Geschichte der Computerisierung wird nicht aufgegriffen, obwohl gerade sie den Autor interessiert. [6] Letztlich, so seine Quintessenz, seien die Intellektuellen nur vielstimmiger geworden und hätten es aufgrund der Schnelllebigkeit des digitalen Zeitalters schwerer, einen Resonanzraum zu finden. Das könnte stimmen, aber müsste die Studie mit solchen Beobachtungen nicht eher einsetzen als schließen?
Insgesamt liegt eine zwar gut lesbare und informative Studie vor, die souverän mehr als ein halbes Jahrhundert deutsch-deutsche Literatur- und Politikgeschichte umfasst. Aber sie ist eher deskriptiv statt analytisch angelegt und überschreitet den Horizont eines (westdeutschen, konservativen, in den 1940er-Jahren geborenen) Zeitzeugen kaum. Manchem Zeitgenossen wird zudem ein Denkmal gesetzt, anderen wird überraschend Absolution erteilt. Letzteres etwa gilt für Günter Grass. Er sei in seiner Zeit als Soldat bei der Waffen-SS "mehr Opfer als Täter" gewesen (238) - findet Günther Rüther.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zuletzt Frank Bösch (Hg.): Geteilte Geschichte. Ost- und Westdeutschland 1970-2000, Göttingen 2015.
[2] Luth Raphael / Anselm Doering-Manteuffel: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, Göttingen 32012.
[3] Für die DDR siehe etwa Ines Geipel / Joachim Walther: Gesperrte Ablage. Unterdrückte Literaturgeschichte in Ostdeutschland 1945-1989, Düsseldorf 2015.
[4] Zur Kategorie und Geschichte der "Intellektuellen" siehe Daniel Morat: Intellektuelle und Intellektuellengeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 20.11.2011, http://docupedia.de/zg/Intellektuelle_und_Intellektuellengeschichte [5. September 2016].
[5] Vgl. Christina von Hodenberg: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945-1973, Göttingen 2006; Nina Verheyen: Diskussionslust. Eine Kulturgeschichte des "besseren Arguments" in Westdeutschland, Göttingen 2010; Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie 1960-1990, München 2015.
[6] Vgl. Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 9 (2012), H. 2: Computerisierung und Informationsgesellschaft.
Nina Verheyen