Michael Gehler / Maddalena Guiotto (Hgg.): Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa. Ein Dreiecksverhältnis in seinen wechselseitigen Beziehungen und Wahrnehmungen von 1945/49 bis zur Gegenwart (= Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffentlichungen; 8), Wien: Böhlau 2012, 670 S., ISBN 978-3-205-78545-3, EUR 79,00
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Vorsichtige oder gar grundsätzliche Zweifel an der Entwicklung zu einem vereinten Europa sind in der Wissenschaft nicht sonderlich verbreitet. Offenbar naturgesetzgleich führt eine gerade Linie - allenfalls durch Uneinsichtige oder gar Abstimmungen gestört und verzögert - zum segensreichen Zusammenschluss. Diese These bildet auch die Basis des von Michael Gehler und Maddalena Guiotto herausgegebenen, äußerst umfangreichen Sammelbands über das "Dreiecksverhältnis" von Italien, Österreich und der Bundesrepublik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, erschienen in der vom Institut für Geschichte der Universität Hildesheim verantworteten Reihe "Arbeitskreis Europäische Integration - Historische Forschungen". Das Werk geht auf eine deutsch-österreichisch-italienische Tagung zurück, auf welcher neben Wissenschaftlern auch Diplomaten zu Wort kamen. Nach Erscheinen des Bandes eingetretene, aber vielleicht nicht völlig unvorhersehbare Entwicklungen im EU-Europa, welche das hier im Fokus stehende "Dreiecksverhältnis" mehr als nur tangieren, zeigen, dass man bezüglich teleologischer Fundierungen bei der Behandlung von historischen Entwicklungen vor allem im Bereich der Zeitgeschichte Vorsicht walten lassen sollte.
Einleitend wird betont, dass man das bislang kaum im Blick der Forschung stehende Verhältnis der drei Länder beleuchten wolle. Diesem Vorhaben wird der Gesamtblick auf den Band bzw. die entsprechenden Sektionen gerecht; die einzelnen Beiträge jedoch umfassen in den wenigsten Fällen sowohl die Bundesrepublik als auch Österreich und Italien. Dass nur eine Betrachtung ausgewählter Themen erfolgen kann, versteht sich beim Umfang des Rahmens der Geschichte dreier Länder über knapp 70 Jahre von selbst. So bleiben durchaus interessante Aspekte weiterer Forschung überlassen. Antonio Varsori weist in seinem Schlusskommentar auf das Fehlen der Felder "Tourismus" sowie "Wirtschaft und Handel" hin (589f.), der gesamte kulturelle Bereich bleibt ebenso ausgeklammert.
Fünf Leitfragen haben die Herausgeber vorangestellt (16f.). Neben dem Zwang zur Themenauswahl ist es ein weiteres Problem nahezu jeder Tagung respektive jedes Sammelbandes, dass derartige Vorgaben nicht für jedes (Spezial-)Thema anwendbar sind. So haben auch hier die Autoren diese Leitfragen eher als Orientierung und nicht als abzuarbeitende Agenda aufgenommen. Berücksichtigt werden sollten, nach Möglichkeit, die Fragen nach 1. der Transformation in parlamentarische Demokratien nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, 2. den durch den Kalten Krieg gegebenen Rahmenbedingungen, 3. den innerstaatlichen, gesellschaftlichen und politischen Kräften, 4. der Rolle der USA als der "eines externen Stabilitätsfaktors" sowie 5. der Rolle der europäischen Integration als verbindender Klammer der drei Staaten.
Die Einleitung fasst die Vorträge inhaltlich knapp zusammen, was der Rezeption des Bandes, der neben den deutschsprachigen Beiträgen auch drei englische und einen italienischen enthält, sehr zugute kommen dürfte. Eingebettet zwischen ein Grußwort des Bundesministers des Auswärtigen sowie den Eröffnungsvortag von Luigi Vittorio Graf Ferraris, der Italien von 1980 bis 1987 als Botschafter in Bonn vertrat, und den zusammenfassenden Schlusskommentar finden sich insgesamt 24 Aufsätze, die thematisch in sechs Sektionen gegliedert sind und Unterschiede und Parallelen der Entwicklung der drei Länder beleuchten. Stichworte, welche alle drei "Kriegsverlierer" betreffen und die zum Teil mit sehr unterschiedlichen Wegen verbunden sind, sind beispielsweise der Umgang mit dem Kommunismus bzw. den jeweiligen kommunistischen Parteien oder die Frage der sogenannten Vergangenheitsbewältigung von Nationalsozialismus und Faschismus. Hinzu kommen Aspekte, die nur jeweils zwei Länder betreffen. Über allem steht jedoch der Blick auf ein - offenbar - letztendlich immer enger zusammenwachsendes Europa.
Die erste Sektion behandelt den Forschungsstand. Christian Jansen macht darauf aufmerksam, dass in der deutschsprachigen Italienforschung seit 1945 "Mode- und Aufregerthemen" dominierten, "fundamentale Strukturen [...] wie die Ökonomie oder die Probleme des Südens" (68) hingegen kaum beachtet würden. Zugleich weist er darauf hin, dass es - im Unterschied etwa zur Forschung über die USA oder Großbritannien - vergleichsweise wenig deutsche Institutionalisierung der (zeit-)historischen Italienforschung gebe; das DHI in Rom habe einen Schwerpunkt in den Bereichen Mittelalter und Renaissance. Gustavo Corni widmet sich den Wandlungen in den zeitgeschichtlichen Werken des italienischen Deutschland-Historikers Enzo Collotti, während Hans Heiss der jeweiligen Forschung über den anderen in Italien und Österreich nachgeht und vor allem ein langes Nebeneinander konstatiert; Versuche eines Austauschs oder gar das Abstecken gemeinsamer Forschungsfelder seien nicht über Ansätze hinausgekommen.
Die zweite Sektion ist herausragenden Persönlichkeiten gewidmet. Die Beiträge von Maddalena Guiotto über Konrad Adenauer, Alcide De Gasperi und Leopold Figl sowie von Michael Gehler über "Bruno Kreisky, Italien und die Deutsche Frage" gehören dabei zu den wenigen dieses Bandes, die das gesamte "Dreiecksverhältnis" in den Blick nehmen. Zudem wird die Deutschlandpolitik Antonio Segnis, der als DC-Politiker mit Adenauer ähnlich gut wie De Gasperi harmonierte, analysiert, ebenso die Beziehung der SPD zu Bettino Craxi; ein wichtiges gemeinsames Anliegen war hier die Stärkung der europäischen Sozialdemokratie zur Abwehr kommunistischer Strömungen. Positiv unterstrichen wird das Zusammenwirken der Außenminister Hans-Dietrich Genscher und Emilio Colombo auf dem ins Stocken geratenen europäischen Einigungsweg, während sich in Silvio Berlusconis langer Amtszeit besonders das deutsch-italienische Verhältnis abkühlte. Der ehemalige Botschafter Ferraris berichtet, dass es in seiner Bonner Zeit mitunter Widersprüche zwischen den Ansichten des italienischen Außenministeriums und der Vertretung in Deutschland gab, so etwa bezüglich der Integration der dauerhaft in Deutschland lebenden Italiener.
Die dritte Sektion gilt dem Umgang mit der Vergangenheit, insbesondere mit den während des Zweiten Weltkrieges in Italien verübten Kriegsverbrechen und ihren langen Schatten. Christoph Cornelißen konstatiert in seiner Betrachtung über die Erinnerungskulturen in Deutschland, Österreich und Italien eine Tendenz zur Lösung vom tatsächlich Geschehenen und hin zu einer Universalisierung und Enthistorisierung. In einer vierten Sektion, "Gewalt und Politik" überschrieben, steht der Terrorismus im Vordergrund. Neben Beiträgen über die "Brigate Rosse" und den "Befreiungsausschuss Südtirol" werden in einem dritten Aufsatz die staatlichen Reaktionen auf die tödlich endenden Entführungen von Hanns Martin Schleyer und Aldo Moro 1977 bzw. 1978 verglichen. Johannes Hürter kommt dabei zum Ergebnis, dass sowohl Italien als auch die Bundesrepublik den Terror erfolgreich bekämpften, die Akzeptanz staatlichen Vorgehens jedoch in Italien größer gewesen sei - was einerseits an der Effektivität der Maßnahmen, anderseits an der deutschen Sorge vor einem (wieder) zu stark werdenden Staat gelegen habe.
Die fünfte Sektion ist dem Umbruchjahr 1989 und dessen Folgen gewidmet. Die Sicherheitsthematik steht im Vordergrund, etwa die 2004 konstituierte Europäische Verteidigungsagentur EVA bzw. EDA. Die abschließende sechste Sektion betrachtet - in drei den jeweiligen Ländern einzeln gewidmeten Beiträgen - die EU-Ratspräsidentschaften Österreichs, Italiens und der Bundesrepublik zwischen 1999 und 2007. In der Betrachtung der italienischen Präsidentschaft von Juli bis Dezember 2003 arbeitet Patrizia Kern vor allem die Rolle von Ministerpräsident Berlusconi heraus, dessen Persönlichkeit für die eine oder andere Irritation sorgte. Zudem seien zwischen ihm und Kommissionspräsident Romano Prodi auf EU-Ebene Kämpfe ausgetragen worden, die ihren Platz in der inneritalienischen Arena gehabt hätten.
Insgesamt: Der Band enthält eine Reihe von Betrachtungen, Anregungen und Thesen, zum Teil sehr detailliert, zum Teil größere Bögen schlagend und zum Teil auch innerhalb der Aufsätze bi- bzw. trilateral vergleichend. Alles im Bereich der Zeitgeschichte - nichts anderes war angekündigt. Dennoch: Ein ergänzender Blick in wesentlich weiter zurückliegende Epochen wäre über Andeutungen hinaus (583f.) durchaus gewinnbringend gewesen - immerhin sind Deutschland, Österreich und Italien historisch untereinander stärker verbunden als mit anderen europäischen Ländern und Regionen. Das ist eine Tatsache - der europäische Einheitsstaat der Zukunft hingegen lediglich eine, auf den gegenwärtig beschrittenen Wegen vielleicht nicht von allen präferierte Möglichkeit.
Erik Lommatzsch