Arno Polzin: Mythos Schwedt. DDR-Militärstrafvollzug und NVA-Disziplinareinheit aus dem Blick der Staatssicherheit (= Analysen und Dokumente; Bd. 49), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 407 S., 8 Tbl., 13 Abb., ISBN 978-3-525-35126-0, EUR 30,00
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Der Militärstrafvollzug und die Disziplinareinheit der Nationalen Volksarmee (NVA) in der Stadt Schwedt gehörten zu den gefürchtetsten Orten in der DDR. Seit 1968 verbüßten hier meist Grundwehrdienstleistende der NVA und der Grenztruppen sowie Angehörige der Bereitschaftspolizei und der Transportpolizei bis zu zweijährige Strafen. Bis 1982 war das Ministerium des Innern für die Haftanstalt zuständig, danach das Ministerium für Nationale Verteidigung. Parallel zum Wechsel der Zuständigkeit erweiterte die SED-Führung das Repertoire der Strafen um den "Dienst in der Disziplinareinheit": Kommandeure größerer Einheiten wurden autorisiert, "Freiheitsstrafen" von bis zu drei Monaten auszusprechen - und zwar unter Ausschaltung der einschlägigen Strafprozess- und Gerichtsordnungen. Unter den Soldaten war besonders verhasst, dass die in Schwedt verbüßte "Strafe" nicht als Wehrdienst galt, sondern nachgedient werden musste.
Arno Polzin arbeitet in fünf Kapiteln heraus, warum Schwedt in besonderer Weise den Geist der SED-Diktatur verkörperte - ein System der Beherrschung mit eigener Organisation, eigenen Regeln und eigenem Personal. Er beginnt seine Untersuchung mit einem Überblick über die Geschichte und die Organisation des Militärstrafvollzugs und der Disziplinareinheit der NVA in Schwedt. Bei der Entwicklung des Strafsystems orientierte sich die DDR an sowjetischen Vorbildern. Das strenge Disziplinierungs- und Bestrafungssystem bildete einen integralen Bestandteil der Nationalen Volksarmee. Häufig griffen Vorgesetzte auch auf Ausgangssperren, Dienstverrichtungen außer der Reihe und Degradierungen zurück, um Untergebene zu disziplinieren.
Im zweiten Kapitel wendet sich Polzin den Inhaftierten zu. Aufgrund der unzureichenden Überlieferungslage basiert die Arbeit vor allem auf der archivalischen Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Der Autor konnte als Mitarbeiter der Stasiunterlagenbehörde im hauseigenen Archiv über 900 Akten durchsehen. Daraus ermittelte er für den Zeitraum von 1968 bis 1989 eine Gesamtzahl von fast 10.000 Insassen. Die Ergebnisse der Studie beruhen auf gründlich ausgewerteten Quellen. Polzin kann belegen, dass drei Verurteilungen erfolgten, weil Grenzsoldaten ihre Schusswaffe nicht eingesetzt hatten, um eine Flucht zu verhindern. Darüber hinaus hat er zehn weitere Urteile zutage gefördert, in denen Angehörige der Grenztruppen entweder der Fluchtbeihilfe oder der Nichterstattung einer Anzeige wegen Fluchtversuch beschuldigt wurden.
Schwedt war eng in ein breites Netz von Repressionen eingebunden, das mit Polizei, Justiz und MfS auch andere Unterdrückungsapparate der SED umfasste. Die Repressionsorgane hatten sich beträchtliche Interpretationsspielräume geschaffen, um ihre Strafen rechtlich begründen zu können. So verhängte die Militärgerichtsbarkeit nicht nur bei Delikten der allgemeinen Kriminalität sowie bei Spionage und Fahnenflucht hohe Haftstrafen. Auch zahlreiche politische Delikte wie "Staatsverleumdung" und "öffentliche Herabwürdigung" wurden abgeurteilt, weil sich nicht alle NVA-Angehörigen systemkonform verhielten.
Das strenge Haftregime, bestehend aus militärischer Ausbildung, ideologischer Schulung und Zwangsarbeit, steht im Mittelpunkt des dritten Kapitels. Strafen, Demütigungen und Schikanen prägten den harten Alltag der Inhaftierten. Ärztliche Behandlungen erfolgten oft unzureichend. Der teilweise unmenschliche Haftalltag sollte eine abschreckende Wirkung entfalten. "'Schwedt' und 'Nachdienen' sind in kürzester Zeit zu Begriffen geworden, die im starken Maße disziplinierend auf zur Renitenz und zum Rowdytum neigende grundwehrdienstleistende Personen wirken", hielt das MfS 1985 selbstzufrieden fest (70). Doch auch unter diesen Umständen lehnten sich viele Inhaftierte auf: Politschulungen stießen auf Widerstand, Insassen verweigerten die Arbeit, boykottierten die Ausbildung und stellten Ausreiseanträge. Eine besonders starke Form des individuellen Protests waren Hungerstreiks.
Zu den Stärken der Studie gehört, dass auch die Täterperspektive nicht vernachlässigt wird. So befasst sich das vierte Kapitel mit der Tätigkeit von MfS und Kriminalpolizei in der Schwedter Haftanstalt. Das Leitungspersonal wird in Biogrammen vorgestellt. Polzin beschreibt, dass der Staatssicherheitsdienst zwar gegen die häufigen Verfehlungen des Personals vorging, allerdings ohne die Haftbedingungen generell zu verbessern. Ein Kompaniechef, den das MfS als inoffiziellen Mitarbeiter verpflichtet hatte, kommentierte die nicht seltenen Unstimmigkeiten unter den Repressionsorganen: "Wir haben das als echte Genossen gesehen, die mit uns gemeinsam die Aufgaben erfüllen." (316)
Zur wichtigsten Aufgabe der in Schwedt eingesetzten Stasi-Offiziere gehörte die Werbung inoffizieller Mitarbeiter. Allerdings verweigerten sich trotz des großen Drucks zahlreiche Insassen dieser Zumutung. Ziel des MfS war, die Insassen möglichst umfassend zu überwachen. Dazu wurde die Kommunikation, etwa in den Hafträumen, abgehört. Das MfS setzte auch auf "Zersetzungsmaßnahmen" und manipulierte Beweise, um weitere Verfolgungsmaßnahmen ansetzen zu können. Trotz großer Schwierigkeiten, unter den besonderen Bedingungen des Militärstrafvollzugs die Konspiration des Spitzelnetzes zu wahren, vermochte es das MfS, viele Abläufe in der Hafteinrichtung nach seinen Interessen und Bedürfnissen zu steuern.
Arno Polzin macht das "System Schwedt" sowie seine Bedeutung für die SED-Diktatur anschaulich und den Schrecken, der von dieser Hafteinrichtung ausging, nachvollziehbar. Der Autor erklärt, warum der "Mythos Schwedt" besonders unter jungen Wehrdienstleistenden Angst verbreitete und ordnet ihn in einen breiten politischen Kontext ein. Zwar gab es in Schwedt keinen Todesfall und keinen vollendeten Suizid - aber viele ehemalige Insassen leiden bis heute an den Folgen ihres "Aufenthaltes" im Armeegefängnis. Es ist eine irrige Annahme, man könne kaum noch etwas Neues über die Haftanstalten der DDR lernen. Arno Polzins "Mythos Schwedt" ist ein überzeugendes Plädoyer dafür, dass die Gefängnisse als Kernstück der Repression nicht zu einem Randthema der Aufarbeitung der SED-Diktatur werden dürfen.
Stefan Donth