Uwe Niedersen (Hg.): Reformation in Kirche und Staat. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin: Duncker & Humblot 2018, 405 S., 76 Farb-, 45 s/w-Abb., ISBN 978-3-428-15529-3, EUR 89,90
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Die Stadt Torgau ist nicht nur durch Schloss Hartenfels und die Schlosskapelle ein Ort der Reformation mit eindrucksvollen Renaissancegebäuden. Ihre Bedeutung als "politisches Zentrum der lutherischen Reformation" wurde 2014-2017 durch vier Tagungen unter dem Titel "Reformation als Bewegung und Veränderung in Kirche und Staat" herausgestellt. Die Vorträge liegen in einem umfänglichen Sammelband vor, dessen zweispaltiger, fast die gesamte Seite einnehmender Satzspiegel mit einer gleichen Zeichengröße von Haupttext und Anmerkungen nicht gerade zum Lesen einlädt. Die Beiträge selbst sind überaus disparat ausgefallen und werden im Übrigen nicht durch ein Register erschlossen. [1]
Die lokalgeschichtliche Perspektive nimmt im ersten Kapitel einen breiten Raum ein, um Torgaus Verdienste für die Musik (Johann Walter), die Gottesdienstgestaltung (Bau der Schlosskapelle), die Bibelübersetzung (durch die sächsische Kanzleisprache) und insbesondere als kursächsische Hauptresidenz hervorzuheben, in der mindestens 41 Aufenthalte Luthers nachgewiesen sind. Dieses Kapitel versammelt die Beiträge der Tagung "Lutherische Reformation und staatliche Macht" von Oktober 2014, die Luthers Theologie im Kontext der historischen Ereignisse des Reformationsjahrhunderts in den Mittelpunkt stellte. Zugleich wird dabei immer wieder Bezug auf die 2014 noch aktuelle Debatte um das theologische Proprium der Vorbereitungen auf das Reformationsjubiläum 2017 genommen, insbesondere auf die EKD-Denkschrift "Rechtfertigung und Freiheit", deren emphatische Konzentration auf die religiöse Definition der Reformation und auf die Evangelische Kirche als Kirche der Freiheit entweder barsch kritisiert (so v. a. Wolfgang Reinhard) oder bestätigt wird (so Reinhold Rieger).
In den vier chronologischen Kapiteln schlagen zwei Serien inhaltlich konsistente Schneisen: Reiner Groß, sächsischer Archivar und Landeshistoriker, führt jedes Kapitel mit einem grundlegenden territorialgeschichtlichen Beitrag ein, beginnend mit dem Ernestinischen Kurfürstentum und dem Albertinischen Herzogtum über Kursachsens Geschichte bis zum Westfälischen Frieden, dem Verhältnis von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert bis hin zu den staatlich-kirchlichen Beziehungen in Monarchie, Nationalsozialismus, DDR und Demokratie, jeweils auf Sachsen bezogen. Diese historische Reihe ergänzt die Gießener Kirchenhistorikerin Athina Lexutt mit vier lesenswerten Darlegungen zur Entwicklung der lutherischen Theologie; sie setzt mit den Grundzügen der Theologie Luthers ein, behandelt ihre Wirkungen in Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung, stellt ihr Vergessen und ihre Verzerrungen im 19. Jahrhundert vor und fragt abschließend, welchen Luther Kirche und Politik im 21. Jahrhundert brauchen. Dabei verbleibt sie allerdings eher im Allgemeinen, wenn sie die Freiheit des Gewissens, daraus resultierend Sorge für Frieden und Freiheit, außerdem das Wort Gottes als Orientierungshilfe, eine Kultur der Wertschätzung, einen sorgfältigen Umgang mit Sprache, Mut, das Anerkennen des Scheiterns, Toleranz und einen klaren Standpunkt für eine gute Streitkultur etc. fordert.
Daneben wird eine Fülle von Einzelaspekten präsentiert, etwa im Kapitel "Kirche und Staat im 17. und 18. Jahrhundert" eine kurze Geschichte der Reformationsjubiläen von 1617 bis 1983 (Wolfgang Flügel) und ein Beitrag zur öffentlich-rechtlichen Stabilisierung der Konfessionen durch den Westfälischen Frieden (Johannes Burkhardt). Darauf folgen im Kapitel "Kirche und Staat im 19. Jahrhundert" ein Vergleich von Schleiermacher und Savigny (Mathias Schmoeckel), eine sehr anregende Studie zu Luther und die Deutschen, in der Wiederholungsstrukturen in den Luther-Rezeptionen 1883 und 2017 aufgezeigt werden (Dieter Langewiesche), eine Einführung in die Zeit der Kulturkämpfe mit Blick über Deutschland hinaus in die Niederlande, die Schweiz, Irland etc. (Olaf Blaschke), eine informative Übersicht über die Auswirkungen der Reformation auf den historistischen Kirchenbau um 1900 bis zur Debatte um einen 'evangelischen' Klosterziegel (Andreas Tacke), das Nachzeichnen der Ereignisse des Wartburgfestes 1817 als Protest im Gedenken an die Reformation (Eike Wolgast) und die Biographie von Turnvater Jahn als eines national und liberal gesonnenen Protestanten (Josef Ulfkotte).
Im letzten Kapitel des Sammelbandes "Kirche und Staat im 20. und übergehenden 21. Jahrhundert" stehen Themen der kirchlichen Zeitgeschichte im Vordergrund: Claus Scharf beschreibt ausführlich die Stellungnahmen der gesamtdeutschen evangelischen Kirche (EKD) vom Ende des 2. Weltkriegs bis zum Mauerbau 1961 z. B. zum Status des SED-Staats als von Gott gesetzter Obrigkeit, zur Jugenderziehung und zur Jugendweihe, gegen die Behinderung kirchlicher Verkündigung und Seelsorge oder zur Militärseelsorge. Wolf Krötke schlägt in souveräner Zeitgenossenschaft den Bogen von Luthers Unterscheidung der Aufgaben der Kirche (Verkündigung des Evangeliums) und des Staates (Sorge für den äußerlichen Frieden) bis zum Selbstverständnis des 1969 gegründeten Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR als "Kirche im Sozialismus" und der Rolle der Evangelischen Kirche in der Friedlichen Revolution als - erstmals in der deutschen Geschichte - Kirche der Unterdrückten. Der intendierte "deutsche Verfassungspatriot islamischen Glaubens" stelle das Verhältnis von Staat und Kirche im heutigen Deutschland, das nicht mehr nur das Miteinander von christlich geprägtem Staat und christlicher Kirche sei, vor neue Herausforderungen, z. B. bei der Ausbildung von Imamen oder beim islamischen Religionsunterricht, so Werner Patzelt. Die beiden letzten Beiträge lassen den Leser ratlos zurück: Frank-Lothar Kroll kommt in seinem Plädoyer für den Konservatismus ganz ohne Rekurs auf das Tagungsthema aus, und der Herausgeber denkt - außerhalb der Tagungsreihe - über die Koordination nichtkompatibler Bereiche wie z. B. 'Glaube' und 'Wissen' nach und hebt das "Zusammenbinden" etwa von 'Kirche' und 'Staat' auf philosophische Höhen.
Für die Genese und Ausgestaltung des besonderen Verhältnisses von Staat und Kirche im seit der Reformation multikonfessionellen Deutschland - weder Staatskirche noch Laizismus, sondern partnerschaftliche Kooperation - bietet der Band zahlreiche historische Beispiele. Die Melange von Torgauer Lokalreformationsgeschichte, kursächsischer Landesgeschichte und Fallstudien zu Einzelaspekten des Verhältnisses von Kirche und Staat macht ihn allerdings (nicht nur typografisch, sondern auch) inhaltlich zu einem mühseligen Leseunterfangen. [2]
Anmerkungen:
[1] Der Aufsatzband ist bereits 2017 textgleich bei der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung erschienen.
[2] Der jüngst erschienene, von Angelika Dörfler-Dierken herausgegebene Sammelband "Reformation und Militär. Wege und Irrwege in fünf Jahrhunderten" (Göttingen 2019) führt das Verhältnis von Staat und Kirche in Deutschland am Beispiel des Militärs konzis und zugleich facettenreich aus: von Luthers Beschreibung des Soldatenberufs bis hin zur Debatte um die Wehrdienstverweigerung in der DDR.
Stefan Rhein