Reinhard Matz / Wolfgang Vollmer: Köln von Anfang an. Leben | Kultur | Stadt bis 1880, Köln: Greven-Verlag 2020, 391 S., ISBN 978-3-7743-0923-4, EUR 50,00
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Vor einigen Jahren vollendeten Reinhard Matz und Wolfgang Vollmer ihr ambitioniertes Projekt einer fotografischen Stadtgeschichte in drei Bänden: "Köln vor dem Krieg", "Köln und der Krieg" sowie "Köln nach dem Krieg" [1], erschienen in dem auf solche Publikationen spezialisierten Greven-Verlag. Die Autoren sind Fotografen und Künstler, interessieren sich für die Aufnahmen aber vorrangig als bildhistorische Quellen. Dabei wollen sie ausdrücklich nicht die klassische Ikonografie des "alten Köln" reproduzieren, sondern visuelle Eindrücke vom Werden einer modernen Großstadt mit all ihren "Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen" [2] vermitteln.
Der urbane Wandel spiegelt sich im Fortschritt der Fotografie. Auf den frühen Bildern des 19. Jahrhunderts wirkt die Stadt steinern, monumental und menschenleer. Die Belichtungszeiten waren noch zu lang, die Apparate zu unhandlich, um das rege Treiben in den engen Gassen einzufangen, das ohnehin als kaum abbildungswürdig galt. In den folgenden Jahrzehnten erweiterte sich jedoch das technische Repertoire und mit der Erfindung der Kleinbildkamera Mitte der 1920er Jahre wurden auch spontane Aufnahmen geläufiger. Solche Überlieferungen gewähren einen ungewohnten Blick auf die Luftkriegseinwirkungen ab 1940: Während die bekannten Bildikonen in "merkwürdig aufgeräumten" [3] Trümmerlandschaften schwelgen, dokumentieren Matz und Vollmer das alltägliche Leben im Krieg ebenso wie die Beseitigung der Schäden und die Bergung von Toten und Verletzten. Konzeptionell ist der (chronologisch) mittlere Band der Reihe vielleicht der gelungenste.
Die Trilogie erscheint als in sich geschlossenes, allenfalls nach "hinten" hin offenes Werk. Ein prequel, das zweitausend Jahre Stadtgeschichte in einem Aufschlag nachliefert, fällt aus dem Rahmen und steckt voller Herausforderungen. Gemeistert werden muss nämlich ein radikaler "Medienwechsel" hin zur Abbildung "kulturhistorisch überlieferter Dinge" - vorrangig von Bildern (Gemälden, Skizzen, Porträts, Drucken), aber ebenso von Skulpturen, Gebrauchsgegenständen und baulichen Überresten. Diese neuen visuellen Quellen bedürfen einer anderen methodischen Reflexion: Zwar kann auch eine historische Fotografie nur "prekäre Glaubwürdigkeit" (302) für sich beanspruchen und mag beispielsweise inszeniert oder gar gestellt sein. Unterm Strich besitzt sie aber doch eine "größere Wirklichkeitssättigung" [4] als die Kunst des vorfotografischen Zeitalters, der die manipulative Absicht sozusagen darstellungsinhärent ist. Aus dieser Not machen die Autoren eine Tugend, indem sie die künstlerischen Stilmittel selbst - Allegorien, Metaphern, Symbole usw. - zu einem Kriterium der Auswahl erheben. Gekonnt verknüpfen sie so ihre visual history mit kulturgeschichtlichen Fragestellungen nach dem Prozess stadtkölnischer Identitätsbildung: Wann, wie und in welchem Medium wurden Ereignisse oder Personen der Stadtgeschichte abgebildet? Welches Bewusstsein der Stadt von sich selbst lässt sich daraus ablesen und welchen Veränderungen war es unterworfen (11)?
Spezifische Köln-Topoi, die hierauf Antworten geben, bildeten sich erst im Mittelalter heraus. Während des 15. Jahrhunderts etablierte sich das Erscheinungsbild der Stadt als Hintergrundmotiv in der religiösen Malerei, vornehmlich im Zusammenhang mit dem Martyrium der Heiligen Ursula, das gezielt an den Rhein verlegt wurde, um den Ruf Kölns als "heilige Stadt" zu bekräftigen. Bereits in einer frühen Darstellung (zwischen 1411 und 1414) scheint das sakrale Massaker jedoch wie an den Rand geschoben, als ob der raumgreifende Blick auf die vielen Häuser und Kirchen nicht verstellt werden soll (160f.). Bisweilen ist die zeitgenössische Architektur auch virtuos auf den Bildgegenstand zurückprojiziert. So spielt sich das Geschehen auf einem weiteren Gemälde (zwischen 1490 und 1500) vor einer fiktiven Kulisse ab, in der die konstantinische Rheinbrücke auf eine Stadtmauer zustrebt, die teils dem römischen, teils dem mittelalterlichen Verlauf folgt und ihrerseits markante Bauwerke wie den Dom (in seiner damaligen Bauphase), den Rathausturm und Groß St. Martin umschließt (8, 10f.). Offensichtlich bezog sich der Kölner Bürgerstolz auf Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen. Es manifestiert sich hier das Selbstverständnis einer Metropole von europäischem Rang, deren Abbild sich in den Meisterwerken der Zeit findet, etwa auf dem Genter Altar der Gebrüder von Eyck (162) oder in der Schedelschen Weltchronik von 1493 (174).
In der Neuzeit treten neben die Stadtmotive der religiösen Kunst auch zentralperspektivische Gesamtansichten, die kartografische Präzision mit detaillierter Alltagsbeobachtung verbinden. Das monumentale Köln-Panorama Anton Woensams, im Jahr 1531 als Geschenk an Kaiser Ferdinand I. überreicht, lenkt den Blick auf ein Meer von dichtgedrängten Bürgerhäusern, unterbrochen durch markante Kirchen, erzählt aber auch von dem Gewerbetreiben am Ufer des Rheins (194-196). Den Betrachter in luftige Höhen erhebend, verzeichnet der sogenannte Mercator-Plan von 1570/71 die Straßen der Stadt als "Mischung aus Grundriss und Isometrie" (207). Gedruckte oder gemalte Luftansichten dieser Art finden sich noch im späten 19. Jahrhundert, als Köln den Sprung in die industrielle Moderne vollzog. In das historische Stadtbild mischten sich nun Fabrikhallen und qualmende Schlote, die auf einem Stahlstich der 1860er Jahre aber auffällig klein gehalten sind und neben den imposanten Kirchen kaum ins Auge fallen (360f.). Eine Zeitungsbeilage zur Domweihe 1880 führt die frisch vollendete Kathedrale mit der noch intakten Stadtbefestigung zusammen (384), kurz bevor die alte Mauer dem urbanen Wachstum zum Opfer fiel. Die Kölner Modernität bedurfte also, zumindest auf den hier gezeigten Abbildungen, mehr denn je der historischen Selbstvergewisserung.
Auch wenn sie die eingangs gestellten Leitfragen vielleicht am ehesten beantworten, erschöpft sich die Auswahl doch keineswegs in Karten und Stadtpanoramen. Der Band ist, ganz im Gegenteil, ein vielgestaltiges Panoptikum, ein Kaleidoskop, eine Wunderkammer der kulturellen Erzeugnisse Kölns. Ausgebreitet werden klassische Stücke wie das spätrömische Dionysos-Mosaik (50-53) und der Dreikönigsschrein (107-113) oder der Fassadenplan F für die Westseite des Doms um 1280 (126). Zu entdecken sind aber auch unzählige weniger bekannte Objekte: die Tonfigur eines umschlungenen Paares um 100 n. Chr. (42) oder der Grabaltar eines jungen Verstorbenen aus dem 3. Jh.n.Chr. (48), die Liebe und Trauer, zeitlose Gefühle also, zum Ausdruck bringen; die Kleinskultupuren der "vier Gekrönten" um 1445, die in ihrer ausdrucksstarken Individualität annähernd Porträtcharakter aufweisen (168ff.); die Schlüssel der Stadt, deren Übergabe an französische Revolutionstruppen am 6. Oktober 1794 den sprichwörtlichen Abschluss einer historischen Epoche symbolisieren (264). Bei all seinen ästhetischen Schauwerten versteht sich das Buch aber weniger als eine Kunstgeschichte der Stadt, eher als eine Stadtgeschichte im Spiegel der Kunst, wobei dahin gestellt bleiben mag, ob und wie zwingend die Bilder- und Formensprache eines Kunstwerks der damaligen sozialen Wirklichkeit tatsächlich entspricht. [5]
Das übergeordnete stadtgeschichtliche Interesse der Autoren schlägt sich ferner in den sehr beachtlichen schriftlichen Abschnitten nieder. Interessante, teils amüsante Quellenauszüge berichten über das soziale und kulturelle Binnenklima Kölns oder dokumentieren die Eindrücke von auswärtigen Besuchern wie Francesco Petrarca, Giacomo Casanova und Victor Hugo. Eine besondere Note erhält das Gesamtwerk schließlich durch die von Reinhard Matz verfassten Kapiteleinleitungen. In der Wortwahl pointiert bis launisch, dabei auf den Punkt genau formuliert, sind sie ein großes Lesevergnügen, jedoch nicht frei von anfechtbaren Zuspitzungen. Recht plakativ etwa wird die Zeit der frühen Franken als Ära eines pauschalen Kulturverlusts abqualifiziert (70), weil sie visuell kaum verwertbar erscheint. [6] Auch die Kölner Geschichte im 18. Jahrhundert, die Matz mit einer "modernisierungstheoretische[n] Fixierung auf den Niedergang" beschreibt, um die nachfolgende Ära französischer Liberalität umso heller strahlen zu lassen, ist in der neueren Forschung schon differenzierter dargestellt worden. [7]
Solch stellenweiser Widerspruch mindert den Wert des Werkes keineswegs, sondern lädt ein zur produktiven Auseinandersetzung. Mit "Köln von Anfang an" liegt ein ungemein reichhaltiger, exzellent gedruckter Augenschmaus vor, der einen hervorragenden Gesamteindruck hinterlässt. Den nun erreichten Abschluss der Reihe möchte man eigentlich bedauern. Würden sich Verlag und Autoren für eine Fortschreibung der fotografischen Stadtgeschichte von 1990 ins Zeitalter der Digitalfotografie entscheiden ("Köln bis heute"?), wäre das eine erfreuliche Nachricht.
Anmerkungen:
[1] In der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung: Reinhard Matz / Wolfgang Vollmer: Köln vor dem Krieg. Leben | Kultur | Stadt 1880-1940, Köln 2012; Köln nach dem Krieg. Leben | Kultur | Stadt 1950-1990, Köln 2014; Köln und der Krieg. Leben | Kultur | Stadt 1940-1950, Köln 2016.
[2] Matz / Vollmer: Köln nach dem Krieg, 15.
[3] Matz / Vollmer: Köln und der Krieg, 14.
[4] Ebd., 12.
[5] Vgl. hierzu das interessante Beispiel von Stichen des Marktgeschehens auf dem Altermarkt aus dem 17. und 18. Jahrhundert (238f., 249). Zur Deutung die Auskunft der Autoren bei der Buchvorstellung am 3.11.2020 siehe 29:10 ff., in: https://youtu.be/jXD7tVZDo4s?t=1750 und 47:03 ff, in: https://youtu.be/jXD7tVZDo4s?t=2819 (20.4.2021).
[6] Hierzu die Stellungnahme auf der Pressekonferenz, siehe 46:50-47:03, verfügbar unter: https://youtu.be/jXD7tVZDo4s?t=2808 (20.4.2021). Eine Einordnung der Merowingerzeit im Kontext der Kölner Stadtgeschichte steht zu erwarten mit der Publikation von Karl Ubl: Köln im Frühmittelalter, voraussichtlich Köln 2022.
[7] Vgl. Gerd Schwerhoff: Köln im Ancien Régime 1686-1794, Köln 2017, 456-463 (das Zitat dieses Satzes: 458).
Holger Löttel