Maximilian Fuhrmann: Antiextremismus und wehrhafte Demokratie. Kritik am politischen Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland, Baden-Baden: NOMOS 2019, 353 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-8487-5744-2, EUR 69,00
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Ausgangs- und Zielpunkt von Fuhrmanns Studie ist eine historische Dekonstruktion und diskursanalytisch unterfütterte Kritik der Extremismustheorie und der eng mit staatlichen Institutionen verknüpften Extremismusforschung. Problematisch sei diese, weil sie disparate Phänomene verkürzend unter einem Begriff subsumiere. Außerdem teile sie den politischen Raum in legitime Mitte und unzulässige Randpositionen. Die politische Mitte könne ihr zufolge per se nicht extremistisch sein - was empirisch widerlegt sei, so der Autor. Der Staat solle sich gemäß der Extremismustheorie in alle Richtungen gleichermaßen antiextremistisch und wehrhaft zeigen, um die Demokratie zu schützen. Diese Position stelle allerdings selbst eine Gefahr für die Demokratie dar, weil sie Volkssouveränität und Freiheitsrechte einschränke, wie der Autor argumentiert.
Angelehnt an Michel Foucault, Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und im Rückgriff auf die Überlegungen von Martin Nonhoff versucht Fuhrmann mit einer empirischen Hegemonieanalyse anhand von Schlüsseltexten bundesdeutscher Institutionen und Personen die diskursiven Strategien zu identifizieren, die zwischen 1945 und 2017 das bundesdeutsche antiextremistische Demokratieverständnis als hegemoniale Diskursformation zementierten.
Diese Vorgehensweise erfordert Schwerpunktsetzungen. Fuhrmann legt den Fokus auf Ereignisse, "die die politische Ordnung der BRD infrage gestellt" (54) haben, und macht drei Kernphasen aus: die Herausbildung des antitotalitären Konsens 1950 bis 1952, die Liberalisierung und veränderte antiextremistische Grenzziehung 1972 bis 1975 sowie den Diskurs um Extremismus-Prävention 2010 bis 2017. Diesen Hauptkapiteln, die jeweils historische Kontextualisierung und hegemonietheoretische Analyse verknüpfen, ist der theoretische Rahmen vorangestellt. Zwischengeschaltet sind Vertiefungskapitel zu den Kernphasen sowie Exkurse, etwa zur Genese der Extremismusforschung.
Der antitotalitäre Konsens richtete sich gegen die NS-Vergangenheit und den real existierenden Sozialismus - eine Abgrenzung gegen "früher" und "drüben". Fuhrmann rekonstruiert, dass die bundesdeutsche Politik erst im Rahmen dieser Abgrenzungsdiskurse überhaupt festlegte, was der Kern der Demokratie sei und wer sie schützte. Der Staat avancierte zum "Verfechter der Demokratie" (299). Fortan sicherte ein repressives Instrumentarium dessen Institutionen, nicht aber soziale und politische Individualrechte. Eindrucksvoll demonstriert Fuhrmann, wie sich diese Position nicht schon 1949 durchsetzte, sondern erst als die SPD mit dem Koreakrieg ab 1950 von einer antifaschistisch-sozialen Demokratie in die antitotalitäre Diskurskoalition einschwenkte. In der zweiten Kernphase kulminierte die auf "1968" folgende Liberalisierung in einer erneuten Abgrenzung zu "Demokratiefeinden". Die sozial-liberale Koalition nahm Impulse der Neuen Linken auf, hegte diese selbst aber mit dem Radikalen-Erlass ein. Hegemonietheoretisch "vernähte" der Radikalen-Erlass somit einen Riss im Diskurs. Wie Fuhrmann spannend nachzeichnet, ging dies mit einer begrifflichen und institutionellen Änderung einher: Die Auslegungskompetenz darüber, was antidemokratisch sei, wanderte von der Legislative zur Exekutive, v. a. zum Verfassungsschutz (VS). Zudem galt fortan Extremismus als Sammelkategorie für Demokratiefeindschaft. Der Antitotalitarismus definierte Feinde durch politische Nähe zu totalitären Systemen. Der Extremismus-Begriff hingegen bestimmt Demokratiefeindschaft negativ und betrachtet radikale politische Ansichten erst dann als Problem, wenn der Verfassungsstaat explizit abgelehnt wird.
Für die Jahre 2010 bis 2017, dem Aufstieg des Rechtspopulismus, beschreibt Fuhrmann, wie der VS und die ihn legitimierende Extremismusforschung durch eine partielle Abkehr der staatlich geförderten Extremismusprävention von der anti-extremistischen Äquidistanz Terrain verloren. Der von der sozialwissenschaftlichen Rechtsextremismusforschung konstatierte "Extremismus der Mitte" floss in die Konzepte der staatlich finanzierten Prävention ein. Dies stellte zwar die Hegemonie der antiextremistischen Formation zur Disposition, dekonstruierte aber die Extremismus-Kategorien nicht. Letztendlich spaltete sich der Präventionsbereich nämlich vom Bereich Innere Sicherheit ab, so dass beide auf unterschiedlicher begrifflicher Grundlage nebeneinander operieren. Hegemonietheoretisch komme dem dennoch große Bedeutung zu, da sich hier wiederum "Risse im Diskurs" zeigten (291).
Die Instrumente der Extremismustheorie hätten sich, so Fuhrmann im Fazit (309 f.), bei der Abwehr der völkisch-rassistischen Bewegungen als wirkungslos erwiesen. Die Extremismustheorie könne nämlich erst dann eine Bedrohung erkennen, wenn sie positiv auf den NS bezogen würde. Gleichzeitig zeige die unrühmliche Rolle des VS im NSU-Skandal, wie problematisch es sei, der Exekutive alleinige Deutungsmacht zu geben. Insbesondere bestünde die Gefahr, dass staatlicher Demokratieschutz selbst zum Instrument eines autoritären Umbaus werden könne, sollte z. B. die AfD die Auslegungsgewalt erhalten.
Angesichts vielbeklagter rechtsradikaler Tendenzen im bundesdeutschen Sicherheitsapparat ist Fuhrmanns Gefahrenprognose nachvollziehbar ebenso wie die Forderung, die unzureichenden extremismustheoretischen Bestimmungen zu verwerfen und die sozialwissenschaftliche Einstellungsforschung zu stärken. Es ist ein Verdienst der Studie, mittels der hegemonietheoretischen Diskursanalyse diesen Zusammenhang und seine historischen Wurzeln im Antitotalitarismus der 1950er Jahre zu illustrieren.
So sehr die Diskursanalyse Begriffsgenese und Aussagemuster anhand einer Vielzahl von Quellen nachvollziehbar machen kann, so wenig kann sie einzelne Quellen tiefgehend kritisch überprüfen. Der Autor legt zwar durch Verweis auf die NS-Vergangenheit des für das 1. Strafrechtsänderungsgesetzes von 1951 mitverantwortlichen Juristen Josef Schafheutle die Fragwürdigkeit der Abgrenzung nach "früher" nahe. Mit seiner Methode nimmt Fuhrmann aber den vom früheren Beamten des NS-Regimes Schafheutle formulierten Demokratieschutz diskursiv für bare Münze [1]. Fuhrmann liest also die Quellen vom theoretisch definierten Endpunkt her - dem antiextremistischen Diskurs der heutigen Bundesrepublik. So kann der Autor aber nicht analysieren, inwiefern es konkrete Politik ehemaliger NS-Kader war, die nazistische Rechtsideologie in das neue System hinüberzuretten. Hier wäre es spannend gewesen, den antikommunistischen Diskurs der Personen, die am Zustandekommen der antitotalitären Doktrin der 1950er Jahre beteiligt waren, in die NS-Zeit zurückzuverfolgen und ihre konkreten persönlichen Auffassungen, Netzwerke und Tätigkeiten vor und nach 1945 zu berücksichtigen. Die NS-Ideologie verstand den Marxismus als von "den Juden" erfunden und gesteuert. Daher war der nach innen gegen die Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung und nach außen gegen die Sowjetunion gerichtete NS-Antikommunismus untrennbar mit antisemitischer Ideologie verbunden und die Zerschlagung des "jüdischen Bolschewismus" von zentraler Bedeutung für die NS-Diktatur [2]. Eine erweiterte Fragestellung hätte demnach eruieren können, inwieweit dieses Kernelement nationalsozialistischer Ideologie und Politik möglicherweise unter dem Deckmantel der bundesdeutschen Totalitarismusbekämpfung von unmittelbar antisemitischen Verweisen zensiert fortgeführt wurde.
So ist Fuhrmanns Analyse, dass das antiextremistische Demokratieverständnis der heutigen Bundesrepublik dem von NS-Personal geprägtem Antitotalitarismus der 1950er Jahre entsprang, zwar aufschlussreich und methodisch exakt, begrenzt sich allerdings auf sprachliche Prozesse. Sie kann also die beteiligten Personen und Intentionen nicht dekodieren und lässt insofern die Schärfe der Konkretion vermissen, in welchem Ausmaß NS-Ideologie die bundesrepublikanische Feindbestimmung diskursiv prägte.
Stilistisch ist dem Text die wissenschaftliche Qualifizierungsarbeit anzumerken. Allerdings gelingt es dem Autor, ein komplexes Thema auf angenehm knappen 310 Seiten präzise und für Fachfremde nachvollziehbar aufzubereiten, ohne hinsichtlich Quellen- und Sekundärliteratursättigung an wissenschaftlicher Sorgfalt zu sparen.
Inhaltlich hält das Buch, was es verspricht und dekliniert die empirische Hegemonieanalyse konsequent durch. Dies ist die Stärke und zugleich eine kleine Schwäche. Der Text zeichnet die begriffliche Entwicklung zur antiextremistischen Doktrin der Bundesrepublik überzeugend nach, aber die Quelleninterpretation verschenkt vom Standpunkt des Historikers ihr Potential, weil das Erkenntnisinteresse theoretisch gesetzt ist. Beeindruckend verdeutlicht Fuhrmann jedoch die historische Entwicklung und Prozesshaftigkeit sonst überzeitlich wirkender Strukturen. Mit der empirisch gesättigten Schlussfolgerung, dass der rechtspopulistische Terraingewinn auch dem analytischen Versagen der Extremismustheorie zuzuschreiben ist, legt Fuhrmann eine hochaktuelle und lesenswerte politische Streitschrift vor.
Anmerkungen:
[1] Josef Schafheutle war mit politischem Strafrecht befasster Beamter im Reichs- und dann Bundesjustizministerium, wie Fuhrmann richtig angibt. Allerdings war er darüber hinaus überzeugter Nationalsozialist. Vgl. Manfred Görtemaker / Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit, München 2016.
[2] Zur antisemitischen Grundierung des NS-Antikommunismus vergleiche u. a.: Jeffrey Herf: The Jewish Enemy. Nazi Propaganda during World War II and the Holocaust, Cambridge/Mass. 2006.
Philipp Dinkelaker