Malte Thießen: Auf Abstand. Eine Gesellschaftsgeschichte der Coronapandemie, Frankfurt/M.: Campus 2021, 222 S., ISBN 978-3-593-51423-9, EUR 24,95
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Impfungen seien unnötig, vergifteten den Körper und verhinderten Selbstheilung. Mehr noch, sie seien das Instrument einer Verschwörung internationaler Eliten gegen das deutsche Volk. Diese Ressentiments stammen nicht etwa von aktuellen Protesten gegen die staatlichen Pandemiemaßnahmen. Der diffuse Groll, wissenschaftsfeindlich und mitunter antisemitisch, hat seine Wurzeln vielmehr bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert: Die eingangs zitierten Stimmen gehörten in der Kaiserzeit zum Kanon der heterogenen Impfgegnerinnen und -gegner. Thießen erinnert daran: "Schon damals gab es die Aluhüte und rechte Positionen" (133).
Corona sei die sozialste aller Krankheiten, so lautet die klare und konsequent verfolgte These seines Sachbuches. Der Autor betont, dass es unsere Formen des Zusammenlebens sind, welche das Virus SARS-CoV-2 erst zu einer Seuche machen. Thießen geht es aber um mehr: Um eine Zwischenbilanz der Coronapandemie (Stand Juni 2021) zu ziehen, dient die Formulierung "Auf Abstand" als Leitmotiv und somit trefflich gewählter Buchtitel: Er untersucht gesellschaftliche Verwerfungen, will aber auch "Distanz zur Gegenwart" (11) gewinnen, die Pandemie historisch in ihren "sozialen Kontexten, Konflikten und Krisen" (10) einordnen. Dabei versucht er, "Geschichte in Echtzeit" (10) über ein aktuelles Ereignis zu schreiben. Eine ehrgeizige Agenda, denn der Anspruch geht über eine reine (und erste) Gesellschaftsgeschichte der Pandemie hinaus.
Dass dem Historiker mit ausgewiesener Expertise in der Medizingeschichte das Vorhaben in erhellender und überaus lesbarer Weise gelingt, verdankt er auch einer klaren Gliederung. Sämtliche Kapitel, deren Anfangsbuchstaben in auffallender "A"-Alliteration angelegt sind, durchzieht dabei die Idee, dass in der Pandemie nicht nur medizinische, sondern vor allem "fundamentale Fragen unseres alltäglichen Zusammenlebens" (188) verhandelt werden. Den Überlegungen sind regelmäßig Leitfragen und Ausgangsüberlegungen vorangestellt.
Mehrfach widmet sich der Autor dem populären Narrativ einer neuen Normalität. Sein Ansatz ist klar: Er verknüpft die Pandemiejahre 2020/2021 mit tieferen historischen Entwicklungen, ordnet Corona so in die Seuchengeschichte der Moderne ein. Dazu dienen Social-Media-Inhalte genauso wie wissenschaftliche Studien. So gelingt es ihm, Wahrnehmungskontexte zu analysieren und vermeintliche Zäsuren zu relativieren. Bereits zu Beginn der anfangs chronologischen Bestandsaufnahme folgt das Buch diesem Muster: Dass Deutschland "mit erstaunlicher Gelassenheit in die große Krise" (25) rutschte, lag für Thießen nicht zuletzt an historisch verankerten Stereotypen, Sündenböcken und Stigmatisierungen als "typische Reaktion auf Pandemien" (32). An diesem Punkt reift sein Buch: Gegenwärtig werden etwa die Ungeimpften zu Sündenböcken. Die "Seuche der Anderen" (18) war zu Beginn weit weg, ehe sie auch in Deutschland "Ausdruck eines kollektiven Kontrollverlustes" (42) wurde. In den seit März 2020 gewandelten Risikovorstellungen kann Thießen aber auch den "Höhepunkt einer staatlichen Nervosität seit den 1970er und 1980er Jahren" (52) ausmachen: Im Gegensatz zu anderen Pandemien galt nun "das Überleben der Risikogruppen [...] als Messlatte einer humanen Seuchenbekämpfung" (53) - Abstand galt für alle.
Das Buch zeigt dabei, wie wichtig ein historisches Orientierungswissen ist. Abschottungen, Grenzziehungen und nationale Alleingänge fielen hinter die trivialen medizinischen und gesundheitspolitischen Erkenntnisse des 19. und 20. Jahrhunderts zurück, boten aber "öffentlichkeitswirksame Demonstrationen von Handlungsfähigkeit" (65). Sie waren nicht von Erfolg gekrönt, wie Thießen aufzeigt. Sein Buch ist daher ein Plädoyer, warum gerade Historikerinnen und Historiker in der Pandemie wichtige Akzente setzen können. In dem breiten, stets aber trittsicheren Werk mag einigen Leserinnen und Lesern zwar die Tiefenschärfe fehlen. Andere mögen gerade diesen umfänglichen Blick an seinem Sachbuch, für ein Publikum jenseits enger Fachdisziplinen geschrieben, schätzen. "Auf Abstand" ist dabei, wenn vielleicht auch unbewusst, eine Zeitreise durch unsere Pandemie und ruft persönliche Erfahrungen wach.
In einer Wissenschaftsperspektive zeigt sich das Buch vorsichtig optimistisch: Bis zum Sommer 2020 "lernten viele Deutsche Wissenschaft als Wissensmodus der Vorläufigkeit kennen - und häufig sogar schätzen" (108), so die Annahme. Der Autor scheut sich hier nicht vor unpopulären Schlüssen, wenn er versucht, ambivalente Handlungslogiken in Wissenschaft und Politik zu trennen - oder eher zu vereinbaren: Ein Vorwurf der Wissenschaftsfeindlichkeit würde etwa "der Komplexität politischer Entscheidungsprozesse" (110) nicht gerecht. Gerade an diesem Punkt mag er forschenden Leserinnen und Lesern zu unkritisch sein, um die wissenschaftsskeptischen Tendenzen politisch Verantwortlicher klarer zu benennen.
Die eingangs zitierten Stimmen von Impfkritikerinnen und -kritikern ordnet Thießen in einem eigenen Kapitel zunächst in historische Traditionen ein, betont aber auch die Radikalisierung der anfangs heterogenen Bewegung gegen die Coronamaßnahmen unter Bezugnahme auf konkrete Akteure. So zeichnet er den Weg bis zu einem "bewussten Geschichtsrevisionismus von rechts" (143) nach. "Nicht jeder Bezug auf den Nationalsozialismus trägt" dabei für ihn "als Beleg für eine rechtsextreme Auslegung der Proteste" (136). Zwar ist sein kritischer Blick auf mediale Wahrnehmungen und Zuschreibungen sowie die "allzu ausgeprägte Opferidentifikation" (137) der Protestierenden selbst wichtig. Dennoch könnte die Einschätzung strenger sein, schließlich bedeuten derartige Stimmen eine Relativierung des Nationalsozialismus und sind rechtsextremes Denkmuster. Seine sich medialer Berichterstattung anschließende Einschätzung des sogenannten Sturms auf den Reichstag am 29. August 2020 als "nie dagewesene Demütigung der zweiten deutschen Demokratie" (139) erscheint dagegen dramatisiert. Dieser Teil hätte stattdessen von Überlegungen zu den Unterschieden einer (gesundheitspolitischen) Erfahrung in der Bundesrepublik und der DDR profitieren können.
Überzeugend sind die historisch fundierten Überlegungen zur "neuen Normalität" (145) und der Ausblick. Gerade als Historiker ist der Autor hier zu Prognosen fähig: Impfungen, und hier geben ihm die Entwicklungen nach seiner Buchveröffentlichung nur allzu recht, sind eben keine "Garantie auf eine Rückkehr der alten Normalität" (177). Nachhaltige Zäsuren dürften ihm zufolge weniger in Wirtschaft und Politik, sondern eher in "kleinen Veränderungen im Alltag" (183) - etwa: physische Treffen würden wertschätzender, stünden aber "unter erhöhtem Legitimationsdruck" (184) - sowie verstärkten digitalen Transformationsprozessen zu erwarten sein. Abschließend bemerkt er die Herausforderung für zukünftige Historikerinnen und Historiker durch die große Menge an Dokumentationsformen, wertet das Quellenpotenzial aber positiv als "Türen ins kollektive Gedächtnis" (180).
Seuchengeschichte bietet nicht nur Orientierung, sie erinnert auch daran, dass Pandemien der "Normalfall" (190) und wir selbst verantwortlich sind: "Die Pandemie - das sind wir" (191), so das Fazit von Thießen. Der Vorschlag einer "Verantwortungsgemeinschaft" (187) steht als Mahnung, umso vehementer angesichts der teils gewaltsamen Konflikte um Pandemiemaßnahmen seit Ende 2021 sowie einer sich abzeichnenden Impfpflicht 2022. Das Buch ist ein Appell für ein Geschichtsbewusstsein jenseits der Coronajahre, die nicht nur zeigen, wie die "Gewöhnung zur Gefahr werden" (186) kann, sondern schon längst ein zu historisierender Gegenstand sind. Malte Thießen gelang dazu ein sehr überzeugender erster Anstoß.
Felix Berge