Tilman Tarach: Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus, Freiburg / Berlin: Edition Telok 2022, 224 S., ISBN 978-3-9813-4864-4, EUR 14,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Bücher zur Geschichte und Funktionsweise von Antisemitismus sind in den letzten Jahren in großer Zahl erschienen. Die Krisen vieler autoritärer und liberaler Gesellschaften haben nach dem Ende des Kalten Krieges nicht nur zu einer neuen Konjunktur des Antisemitismus geführt, sondern auch eine große Zahl kritischer Antisemitismus-Analysen hervorgebracht. Die vielleicht lesenswertesten Bücher, zu denen auch die hier vorgestellte Publikation von Tilman Tarach gehört, beschäftigen sich mit einem Aspekt des Antisemitismus, den Forschung und Publizistik als längst erledigt einordnen: dem christlichen Antijudaismus. [1]
Tarach behandelt in 22 Kapiteln die Geschichte der christlichen Wurzeln des Antisemitismus und beschreibt, wie ihre Verleugnung bis heute großen Einfluss auf die Unterschätzung des Gewaltpotentials des modernen Antisemitismus hat. In fast allen Kapiteln des Buches beschäftigt sich Tarach auch damit, in welcher Weise christlich-antisemitische Motive von deutschen Nationalsozialisten in Anspruch genommen wurden, um ihre Bewegung, die deutsche Politik sowie die Ausgrenzung und Vernichtung der Juden zu legitimieren. Der Umschlag der Publikation zeigt beispielsweise ein von der NSDAP errichtetes Straßenschild in Eschenbach (Bayern) vom Juli 1935. Darauf ist zu lesen: "Der Vater der Juden ist der Teufel". Das Straßenschild vermerkt, der Satz stamme von "Jesus Christus".
Der Autor behandelt die Entstehung des Christentums aus dem Judentum, das zentrale christlich-antisemitische Motiv: den Gottesmord und die christliche Infragestellung des universalistischen Charakters, der für alle Menschen, nicht nur für Juden geltenden Regeln jüdischer Religion. Tarach schildert, wie die Kennzeichnung von Juden mit einem "gelben Fleck" entstand, wie sich die Legende herausbildete, "Juden sind Kindermörder", und woher die Behauptung kam, Juden vergifteten die Bevölkerung.
Der Jurist und Publizist erläutert, dass der christliche Antisemitismus mit dem Beginn der Moderne im 18. und 19. Jahrhundert eskalierte und die deutschen Nationalsozialisten zwar ein rassistisches Judenbild pflegten, die Herkunftsnachweise aber unter Rückgriff auf Register zur Religionszugehörigkeit führten. Tilman Tarach erklärt den modernen Antisemitismus als eine Reaktion auf die Idee der Aufklärung, alle Menschen hätten die gleichen Rechte. Er zeigt, dass die Shoah nur möglich war, weil viele der deutschen Täter von einer "Urschuld der Juden" (135) an der Kreuzigung von Christus überzeugt waren. Der Autor schildert außerdem, wie wenig einigen "christlichen Zionisten" (141) am Wohl von Juden gelegen ist und wie die von Islamisten gerne verwendeten Parolen ("Gottesmörder Israel", 143) auf christliche Motive rekurrieren, die mit der "Damaskusaffäre" 1840 (157) im Nahen Osten weite Verbreitung fanden. Zudem erläutert er, inwiefern sich die Rollen von Juden im Islam und Christentum ähneln, aber auch unterscheiden.
Tarach analysiert die Unterstützung palästinensischer und islamistischer Bewegungen in westlichen Demokratien als "delegierte[n] Antisemitismus" (177) und schildert, wie katholische und protestantische Christen seit der Shoah nichts unversucht lassen, die Bedeutung des christlichen Antisemitismus für den deutschen Zivilisationsbruch herunterzuspielen oder komplett in Frage zu stellen.
Vom Antisemitismus muss, so fasst Tarach zusammen, bereits mit der Entstehung des Christentums aus der jüdischen Religion heraus gesprochen werden. Die gegen seinen jüdischen Ursprung gerichteten Motive des Hasses - "Gottesmord", "Kinder des Teufels", "Ritualmord", "Brunnenvergiftung" - haben sich mit der Entstehung der Moderne zwar gewandelt, ihr christlicher Hasskern gegen die Juden und gegen die Idee eines Universalismus der Rechte der Menschen haben sich im modernen Antisemitismus aber erhalten. Ein Anhänger Martin Luthers konnte sich ohne Probleme am deutschen Zivilisationsbruch beteiligen. Wie Tarach in seinem Buch zeigt, nutzten die Nazis den christlichen Antisemitismus zur Mobilisierung für den Judenmord. Die Unterscheidung zwischen einem angeblich harmloseren christlichen Antijudaismus und einem gefährlicheren modernen Antisemitismus, wie sie fast durchgängig in der Forschung vertreten wird, ist, "nicht haltbar" und folgt nach Tarach "letztlich einer Entlastungsstrategie" (9).
Tarach deutet in seinem Buch Antisemitismus als Teil einer "konformistische[n] Revolte" (55), die den eigentlichen Kern der Herrschaft unangetastet lässt, lediglich eine Minderheit ausgrenzt und vernichtet. Er folgt mit dieser Deutung - dem Rezensenten ist das unerklärlich - der Antisemitismusforschung, die er in seinem Buch luzide kritisiert.
Der auf christliche Motive rekurrierende moderne Antisemitismus wurde in Deutschland zur Staatsideologie und hat dort zum ersten Mal eine Gesellschaft ermöglicht, die alle zivilisatorischen Errungenschaften seit der Aufklärung in den Wind schlug. Politische Führung und große Teile der deutschen Gesellschaft strebten die Vernichtung aller Juden an und hielten an diesem Ziel gegen jede ökonomische, militärische und zivilisatorische Vernunft auch dann noch fest, als erkennbar wurde, dass damit der eigene Untergang unabwendbar wurde. Vom Antisemitismus als einer "konformistischen Revolte" zu sprechen, ist seit dem Nationalsozialismus analytisch unangemessen und ethisch als verharmlosend anzusehen.
Ein Buch also, das die moderne Antisemitismusforschung gut begründet herausfordert, am Ende jedoch - schwer nachvollziehbar - zögert.
Anmerkung:
[1] David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens. Aus dem Englischen von Martin Richter, München 2015; Hyam Maccoby: Der Antisemitismus und die Moderne. Die Wiederkehr des alten Hasses. Hrsg. von Peter Gorenflos und übers. von Wolfdietrich Müller, Berlin / Leipzig 2020.
Martin Jander