Rezension über:

Susanne Froehlich (Hg.): Altertumswissenschaft in Greifswald. Porträts ausgewählter Gelehrter 1856 bis 1946 (= Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald; Bd. 14), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 368 S., 50 Abb., 2 Tbl., ISBN 978-3-515-12886-5, EUR 70,00
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Rezension von:
Beat Näf
Historisches Seminar, Universität Zürich
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Beat Näf: Rezension von: Susanne Froehlich (Hg.): Altertumswissenschaft in Greifswald. Porträts ausgewählter Gelehrter 1856 bis 1946, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 6 [15.06.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/06/36880.html


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Susanne Froehlich (Hg.): Altertumswissenschaft in Greifswald

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Die Geschichte der Universität Greifswald setzt bereits in der Mitte des 15. Jahrhunderts ein. Der Bürgermeister der Hansestadt Heinrich Rubenow, der in Rostock und Erfurt studiert hatte, sorgte maßgeblich für die Gründung der Academia Gryphica, der pommerschen Landesuniversität. Eine scholastische Ausrichtung dominierte. Unter Einfluss der Reformation, die sich ab 1534 im Herzogtum durchsetzte, wurde das Studium neu eingerichtet. Insbesondere die Lehrbücher Melanchthons wurden wichtig. Nach der Teilung Pommerns gelangte Greifswald 1648 an Schweden. 1815 wurde es preußisch.

Im Zuge der preußischen Reformen stiegen die Universitäten in Preußen zu weltweit führenden "Forschungsuniversitäten" auf. Altertumswissenschaft besaß an diesen Universitäten den Status einer Leitwissenschaft. Altertumswissenschaft stand unter der Ägide an erster Stelle der Klassischen Philologie. Bedeutsam war ebenso die historische Ausrichtung. Die Dialektik zwischen Historie und Philologie bestimmte in der Folge die Ausdifferenzierung der Altertumswissenschaft in zahlreiche Disziplinen. Freiheit von Forschung und Lehre, ein Anspruch auf Bildung von Menschen schlechthin und ein enthusiastischer Einsatz für den Nationalstaat zählten zu den charakteristischen Strukturmerkmalen dieser neuen und bald überall kopierten "Forschungsuniversitäten", allen voran der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, die 1949 nach Alexander und Wilhelm von Humboldt benannt wurde. In diese historischen Zusammenhänge gehört auch die Altertumswissenschaft in Greifswald von 1856 bis 1946. Zu erinnern ist natürlich auch an Band 11 aus der gleichen Reihe Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald, in dem es um die Geschichte der Geschichtswissenschaft in Greifswald geht, darunter um Ernst Moritz Arndt und Ernst Bernheim. 1933 wurde der Universität Greifswald der Name des antisemitischen Patrioten, Wissenschaftlers und Intellektuellen Ernst Moritz Arndt gegeben. Ernst Bernheim ist vor allem als Geschichtstheoretiker bedeutend. Er hat die Historik des Althistorikers Johann Gustav Droysen weiter ausgearbeitet.

Das verhältnismäßig kleine und alte Greifswald war und ist mit der universitären Welt intensiv verknüpft. Zwar sind in Greifswald die Wissenschaften vom Altertum nur noch als "Arbeitsbereiche" Alte Geschichte und Klassische Philologie ohne Lehrstühle am dortigen Historischen Institut vertreten, doch sind die Fachvertreter nach wie vor bestens vernetzt. Die Wissenschaften vom Altertum sind 2005 reduziert worden. In der Folge wechselte der bekannte Althistoriker und Intellektuelle Egon Flaig nach Rostock. Der aufsehenerregende Vorgang wurde weitherum wahrgenommen und diskutiert.

Seit vielen Jahren hat man sich auch immer wieder für die Universitätsgeschichte von Greifswald interessiert. Welche Auswirkungen haben der Marxismus-Leninismus und die NS-Zeit in Greifswald gehabt? Antworten sind anspruchsvoll. Der Althistoriker Hans Volkmann etwa, im vorliegenden Band freilich nicht behandelt, kann nur bedingt als NS-Anhänger bezeichnet werden. Natürlich vermittelt gerade auch sein wissenschaftliches Werk den Eindruck von Kompromissen und des Sich-Andienens. Wehrdienst, Verwundung und Gefangenschaft sowie das vergebliche Bemühen um Wiedererlangung seines Lehrstuhls in Greifswald zählen zu seiner Biographie in den Jahren 1941 bis 1947. Was die DDR-Zeit angeht, so sind vermutlich bei vielen die Namen der Althistoriker Hans-Joachim Diesner und Gerhard Schrot nicht unbekannt: Diesner als Meister der Spätantike-Forschung, der die Theorien des Marxismus-Leninismus für seine Arbeit benutzte; Schrot als parteinaher Althistoriker der zweiten Reihe, der sich zusammen mit Wissenschaftlern mit klangvolleren Namen wie Rigoberth Günther für den Kampf gegen "bürgerliche Wissenschaft" engagierte. Zu diesem Abschnitt der Wissenschaftsgeschichte legte Matthias Willing bereits 1991 ein Buch vor, in dem sich auch einige wenige Informationen zu den Verhältnissen in Greifswald, der kleinsten der sechs Universitäten in der DDR, zu finden sind. Im Weiteren sind für diesen wissenschaftsgeschichtlichen Zeitbereich hervorzuheben ein Tagungsband über Elisabeth Charlotte Welskopf und die Alte Geschichte in der DDR (2005 herausgegeben von Isolde Stark) sowie die Beiträge einer Ringvorlesung zur Geschichte der klassischen Altertumswissenschaft in Jena (2011 herausgegeben von Meinolf Vielberg).

Der vorliegende Band setzt mit dem Altphilologen Franz Susemihl und seinem Dienstantritt im Jahr 1856 ein (Autor ist Bernard van Wickevoort Crommelin) und enthält zusammen mit vielen wertvollen Abbildungen neun überarbeitete Vorträge einer Ringvorlesung aus dem Wintersemester 2017/18 sowie vier später entstandene Beiträge. Eingeleitet wird der Band durch eine konzise Übersicht der Herausgeberin, Susanne Froehlich. Sie ist Privatdozentin, Akademische Rätin und Verantwortliche für den Fachbereich Alte Geschichte in Greifswald. Abgerundet wird der Band durch einen von Jonas Langer verfassten chronologischen Überblick über die Professoren der Wissenschaften vom Altertum in Greifswald. Susemihl wirkte ab 1856 über vier Jahrzehnte hinweg als Klassischer Philologe in Greifswald, 1875/76 als Rektor. Diese lange Dauer und Konstanz ist eher die Ausnahme. Greifswald ist eine Universität, welche für viele Gelehrte Station auf der Karriere war, so etwa für den bedeutenden Philologen Hermann Usener, einen Virtuosen und Vorarbeiter in der Religionswissenschaft.

Am bekanntesten und einflussreichsten unter den ausgewählten Wissenschaftlern sind der princeps philologorum Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und der Theologe und Bibelforscher Julius Wellhausen. Wilamowitz wird vom Münchner Gräzisten Martin Hose behandelt. Hose wie auch weitere damals junge Wissenschaftler arbeiteten vor gut zwei Jahrzehnten begeistert mit dem amerikanischen Philologen William M. Calder III zusammen. Dieser enthusiastische und bedeutende Wilamowitz-Forscher aus den USA befasste sich damals intensiv mit Greifwald. Peter Pilhofer, der Vater der Herausgeberin, Neutestamentler und einstiger Professor in Greifswald, zeichnet anschaulich und persönlich die Leistungen Wellhausens und ihre - frustrierend beschränkte - Wahrnehmung: Nach wie vor wird die geschichtliche Entstehung der Bibel verkannt.

Es lohnt sich, die weiteren Beiträge gleichfalls zu lesen. Ohne Konrat Ziegler und seine Fähigkeiten, ein breites Spektrum von Themen zu bearbeiten, gäbe es keine aktuelle Lexikographie des Altertums - der Neue Pauly setzte in einem gewissen Sinne seine Arbeiten fort. Ziegler war wissenschaftlich wie auch durch seine politische Haltung eine bemerkenswerte Persönlichkeit. Otto Seeck hat eine so lebendige Darstellung der Spätantike mit so vielen farbigen und teilweise problematischen Urteilen geschrieben, dass wir dieses Werkes ebenso wenig entbehren können wie seiner prosopographischen Forschung. In Greifswald war Eduard Norden, der größte damalige Latinist, wir finden dort Matthias Gelzer, den Meister der Prosopographie, und viele andere. Etliche für den Band gewonnene Autoren zeichnen sich durch bereits vorgelegte hochkarätige Publikationen zu den behandelten Persönlichkeiten aus, so Olaf Schlunke (zu Norden) und Simon Strauss (zu Gelzer). Mit Kai Brodersen und Bruno Bleckmann wurden Wissenschaftler gewonnen, deren Erfahrung und sicheres Urteil Ziegler und Seeck eindrucksvoll zu würdigen wissen und dabei ihr Werk zum Teil auch im Hinblick auf aktuelle Forschungen erschließen.

Klassische Archäologie (Erich Pernice dargestellt von Jutta Fischer) und Christliche Archäologie (Victor Schulze behandelt von Irmfried Garbe) erweitern das Spektrum der Disziplinen, von denen freilich nicht alle berücksichtigt werden konnten. Auch bei den Wissenschaftlern musste ausgewählt werden. Das Schwergewicht liegt bei der Klassischen Philologie (nebst den genannten Wissenschaftlern: Georg Kaibel, verfasst von Simone Finkmann; Franz Dornseiff, beigesteuert von der Altgermanistin Irene Erfen). Der Althistoriker beziehungsweise Epigraphiker und Archäologe Josef Keil ist ein wichtiges Beispiel für die weiten Verbindungen von Greifswald, in diesem Fall mit Wien (behandelt vom Wiener Althistoriker Hans Taeuber), arbeitete Keil doch im Auftrag des Österreichischen Archäologischen Instituts in Ephesos.

Zeitlich ans Ende des durch diesen Band behandelten Zeitraums führt der vom Greifswalder Neutestamentler Christfried Böttrich verfasste Beitrag zum Neutestamentler Ernst Lohmeyer. Lohmeyer lehnte den NS ab. Dies führte dann auch zu seiner Versetzung von Breslau nach Greifswald. Nach dem Kriegsende wurde er zum Rektor dieser Universität ernannt. Als Rede für die Wiedereröffnung der Universität hatte er das Thema Freiheit in der Gebundenheit vorbereitet. Da verhaftete ihn der sowjetische Geheimdienst NKWD. Aufgrund falscher Anschuldigungen verurteilte ihn ein sowjetisches Militärtribunal zum Tode. Am 19. September 1946 wurde er in Greifswald erschossen.

Der Band ist sorgfältig gemacht, verfügt über praktische Indizes und ist ein bedeutender Beitrag zur Lokal-, Zeit-, Universitäts- und zur Wissenschaftsgeschichte der sich mit der Antike und ihrer Rezeption befassenden Humanities, wie sie nicht zuletzt durch den rezeptions- und wissenschaftsgeschichtlichen Teil des Neuen Pauly und den von Peter Kuhlmann und Helmuth Schneider herausgegebenen Supplementband Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon (2012) erschlossen wird. Von den jüngsten einschlägigen Publikationen sei auch Stefan Rebenichs Buch 'Die Deutschen und ihre Antike' (2021) genannt.

Beat Näf